7
Der Pass des Dämons
Sie eilten durch die Straßen von Talis, die nun verlassen dalagen. In Bern schien, genau wie in Isternes, nach Untergang des Sonnensterns der Brauch zu herrschen, die Zeit mit Essen und Schlafen zu verbringen. Das Stadttor war verbarrikadiert, der Wächter nicht da. Das blauhäutige Mädchen und der junge Mann blieben verzweifelt stehen, aber Aeriel wurde von Grauling weitergezogen.
Der Reiher auf dem Wanderstab öffnete seine Flügel und stieß einen klaren, wilden Schrei aus. Die große Eisenstange, die die Eichenholztore versperrte, sie war viel zu schwer, als dass sie sie bewegen konnten, glitt plötzlich wie von Zauberhand bewegt zur Seite. Das Stadttor öffnete sich.
Aeriel hatte nicht einmal Zeit, Atem zu schöpfen, denn Grauling zerrte sie weiter. Doch draußen blieb sie stehen und fragte den Reiher auf ihrem Stab: »Wie hast du das fertiggebracht?«
Der Vogel zuckte die Schultern. Er war bleich und gefiedert und hatte sich noch nicht wieder in Holz verwandelt. »Ich bin ein Bote. Die Gottgleichen schufen mich, damit ich ungehindert reisen kann, also kann ich Tore öffnen.«
Aeriel wollte noch etwas sagen, aber der Reiher sah sie an. »Das ist jedoch ermüdend. Und bei Gott, das hier ist eine ausgezeichnete Ruhestange. Ich muss schlafen.«
Er schloss die Augen, barg den Kopf unterm Gefieder und verschmolz mit dem harten Holz. Aeriel hörte, wie Nat und Galnor neben sie traten.
»Du bist eine Hexe«, sagte die Stimme eines Mannes.
Aeriel wandte sich überrascht um, merkte dann aber, dass kein Fremder gesprochen hatte, sondern Galnor. Nat stand dicht neben ihn gedrängt da und starrte Aeriel an. Aeriel schüttelte den Kopf.
»Ich dachte, du könntest nicht reden.«
Galnor sah ihr in die Augen. »Ich spreche nur, wenn nötig.« Dann blickte er die Straße entlang. Die Stadttore hinter ihnen schlossen sich. »Wir dürfen hier nicht verweilen.«
Er ging dann an ihr und dem Gargoyle vorbei. Den Arm hatte er noch immer um Nat gelegt. Das blauhäutige Mädchen blickte zurück. Aeriel hörte, wie sich die Tore leise schlossen und die Eisenstange wieder an ihren Platz rutschte. Galnor und Nat waren bereits sechs Schritte voraus. Aeriel nahm Grauling beim Halsband und folgte ihnen.
Die Straße führte steil ins Gebirge; rechts und links war sie von eng stehenden Bäumen gesäumt. Der Gargoyle trottete mit offenem Maul leichtfüßig vor ihnen her.
Nach einer Weile gewann Nat ihren Mut zurück und ging neben Aeriel her.
»Jenes Mädchen«, sagte sie vorsichtig, »von dem du im Gasthaus gesungen hast. Das warst du.«
Aeriel blickte überrascht auf. Dann nickte sie. »Vor anderthalb Jahren war ich sie.«
Das blauhäutige Mädchen blickte zu Boden. »Wie geht die Geschichte zu Ende?«, fragte sie. »Ich meine, was geschah mit dem Engel der Nacht?«
»Ich besiegte ihn«, antwortete Aeriel, »mit Hilfe des Magischen Kelchs, und … rettete einen Prinzen.« Sie fühlte, wie Bitterkeit beim Gedanken an Irrylath in ihr emporstieg. »Oder glaubte, es getan zu haben.«
Nat sagte nichts mehr. Sie gingen weiter.
Nach einer Weile sprach Galnor. »Zuerst werden sie uns unbarmherzig verfolgen. Aber je weiter wir in die Berge vordringen, umso kleiner wird die Gruppe.«
Aeriel sah den jungen Mann fragend an, aber der ging bereits weiter. Nat antwortete ihr.
»Die Nacht wird dann weiter fortgeschritten sein«, sagte sie, »und wir werden uns näher bei den verwunschenen Wäldern befinden.«
»Was ist das für ein Ort?«
»Ein unseliger Ort«, antwortete Nat. »Er umgibt den Pass des Dämons, der direkt nach Zambul führt. Es wird behauptet, dass er sich von Jahr zu Jahr mehr ausdehnt. Eines Tages wird er ganz Bern eingenommen haben. Niemand wagt sich dorthin, selbst am Tag nicht, denn dort leben Nachtgespenster.«
»Nachtgespenster«, murmelte Aeriel.
»Schreckbilder«, sagte Galnor, der über eine Schulter zurückblickte. »Unheimliche, grausige Gestalten, die in den Wäldern lebten, lange ehe deine Bestie auftauchte«, schnaubte er und verschränkte die Arme. »Nur Ausgestoßene benutzen diese Straße nachts.«
Er schwieg plötzlich, warf Nat einen Blick zu. Aeriel sah, wie sie schauderte.
»Einmal haben wir sie gesehen«, flüsterte das Mädchen, »fast zwei Jahre ist das her. Kurz vor Einbruch der Nacht verstauchte ich mir einmal im Wald den Knöchel. Und niemand aus meinem Dorf kam und suchte nach mir.«
Da blickte sie hoch, die Augen auf Galnors Rücken geheftet.
»Nur der Holzfäller, der kaum mit mir gesprochen, mich aber das Jonglieren gelehrt hatte, nahm eine Fackel und ging mich suchen. Als er fort war, versperrten sie das Dorftor.«
Sie blickte Aeriel an.
»Seitdem sind wir auf der Wanderschaft. Nachdem er mich gefunden hatte, schützten wir uns gegen Angriffe mit einem Feuer bis zum Morgen. Fast wären wir verhungert. Aber von diesem Tag an haben wir keine Nacht mehr draußen verbracht.«
»Bis heute«, sagte Aeriel.
Nat blickte zu Boden, betastete den Dolch, der in ihrer Schärpe steckte. Aeriel schwieg eine Weile.
»Was ist der Pass des Dämons?«, fragte sie schließlich.
»Der Weg nach Zambul«, antwortete Galnor. »Diese Straße führt dorthin. Ein geflügelter Dämon hat sich dort niedergelassen; in der Nacht entführt er Menschen. Er verschlingt alles Licht, außer dem des Oceanus und der Sterne.«
Aeriel fühlte, wie ein eiskalter Schauder sie überlief. »Ein geflügelter Dämon«, sagte sie und suchte Galnors Blick. »Ein Engel der Nacht?«
Der andere schüttelte den Kopf. »Dieses Wort gebrauchen wir in Bern nicht.«
»Was macht er mit denen, die er entführt?«, fragte sie drängend. »Trinkt er ihr Blut und ihre Seelen?«
Galnor zuckte die Schultern. »Das weiß niemand. Diese Menschen wurden nie wieder gesehen. Manche behaupten, dass sie zu Nachtgespenstern werden. Ehe dieser Dämon kam, gab es keine Nachtgespenster.«
»Dieser Dämon«, sagte Aeriel noch drängender, »ist er der Sohn einer Lorelei?«
»Ich weiß nur«, entgegnete Galnor, »dass er zum ersten Mal auftauchte, als meine Großmutter jung war. Sie und ihre Familie kamen aus Zambul herüber, kurz bevor er den Pass besetzte. Sie sagt, er hätte die Dunkle Wölfin, die Hüterin von Bern, besiegt.«
»Die Dunkle Wölfin«, flüsterte Aeriel. Ihr Atem wurde schneller. »Erzähl mir von ihr. Weißt du, wo sie geblieben ist?«
Galnor seufzte. »Ich weiß nur, was meine Großmutter erzählte: Als die Wölfin Hüterin von Bern war, gab es keine Dämonen und Geister. Niemand fürchtete die Wälder bei Nacht oder die Straßen bei Tag. Es gab keine Räuber, denn Pernlyn jagte sie. Wenn Reisende den Schrei der Wölfin hörten, lächelten sie, denn sie hielten ihn für ein gutes Omen.«
»So nannten sie sie«, murmelte Aeriel, »Pernlyn? Der Hüter des Turms hatte sie Bernalon genannt.«
Aeriel schwieg ein paar Schritte lang, dann sah sie Galnor wieder an.
»Aber da diese Straße doch durch die verwunschenen Wälder führt«, sagte sie, »zum Pass des Dämons, wäre es nicht besser, wir würden eine andere Straße nehmen?«
Der junge Mann lachte. »Es gibt keine andere Straße.«
»Dann gehen wir durch die Wälder.«
»Wir sind zu nahe an der Stadt. Die Diebe kennen diese Wälder. Sie würden uns finden. Wir können nur fliehen und hoffen, dass sie die Verfolgung aufgeben, ehe wir den Pass erreichen.«
Aeriel blickte auf die dunklen knorrigen Bäume.
Galnor sagte gerade: »Im Augenblick ist die Straße sicher. Aber die Wälder werden bald voller Geister sein.«
Die Straße wand sich weiter bergan; der Himmel über ihnen war ein schwarzes Band, mit Sternen besprenkelt. Die Schwärze wurde tiefer, je höher sie stiegen. Talis und das schimmernde Meer hinter ihnen waren nicht mehr zu sehen.
Die Bäume standen jetzt weiter auseinander; die Nacht wurde stiller. Grauling lief nicht mehr voraus, sondern blieb dicht bei Aeriel. Als sie lange marschiert waren, rasteten sie. Aeriel konnte nicht abschätzen, wie weit die Nacht vorangeschritten war, denn es gab keinen Horizont, an dem sie die Bewegung der Sterne messen konnte. Oceanus stand tief; sie sah ihn nur manchmal durchs Geäst der Bäume.
Sie besaßen nichts, mit dem sie ein Feuer entzünden konnten. Galnor machte sich Vorwürfe, weil er nicht daran gedacht hatte, aus dem Gasthaus eine Fackel mitzunehmen. Sie setzten sich mitten auf der Straße zusammen und losten aus, wer die erste Wache halten sollte.
Galnor zog das kürzeste Los. Aeriel und Nat legten sich hin und schliefen. Nach kurzer Zeit, wie es Aeriel vorkam, schüttelte Galnor sie. Sie setzte sich neben Grauling und streichelte sein struppiges Fell.
Es herrschte absolute Stille, außer den kaum hörbaren Atemzügen der drei. Der Wind ruhte. Nat schlief zusammengerollt in Galnors Armen. Aeriel fühlte sich einsam und verloren, sogar ein wenig Neid überkam sie, als sie die beiden betrachtete. Vier Tagmonate war ich seine Braut, dachte sie, und habe nie in seinen Armen geschlafen.
Außer in Bombas. Sie starrte in die Dunkelheit. Als ich sehr klein war und im Haus des Dorfältesten in Terrain lebte und manchmal von Alpträumen geplagt wurde, dann schlief ich in den Armen der alten Amme Bomba.
Aeriel lehnte ihren Kopf an Graulings mageren Körper. Ich habe keinen Mann, keine Familie und bin ganz allein in der Welt, dachte sie. Sie richtete sich wieder auf und versuchte, ihre nutzlosen verzweifelten Gedanken abzustreifen.
So saß sie, bis sie glaubte, dass vier Stunden vergangen waren. Dann weckte sie Nat, legte sich hin und fiel in einen tiefen Schlaf der Erschöpfung. Plötzlich schreckte sie hoch; Nat schüttelte sie. »He, wach auf!«
Aeriel setzte sich mühsam auf. Sie war immer noch müde. Nat hatte auch Galnor geweckt. Er war schon am Waldrand. Der Gargoyle stand mit gebleckten Zähnen neben ihm. Nat deutete mit ausgestrecktem Arm auf etwas.
»Nachtgespenster.«
Zwei bleiche Gestalten schlichen zwischen den Bäumen umher. Eine ging aufrecht, besaß fast menschliche Gestalt, die andere bewegte sich auf allen vieren, war von einem haarlosen Weiß und sog mit erhobenem Kopf prüfend die Luft ein. Sie bestanden nur aus Knochen unter einer pergamentartigen Haut. Nat zog den Dolch aus ihrer Schärpe. Galnor nahm einen Stein und warf.
»Verschwende deine Waffe nicht an sie«, sagte er.
Die beiden Gestalten verschwanden wie Rauch zwischen den Bäumen. Aeriel erschnupperte einen Geruch nach Lauge. Dann sah sie, dass der Boden an der Stelle, wo die beiden gestanden hatten, kahl war.
»Lasst uns weitergehen«, sagte Galnor.
Sie lebten von Beeren und wild wachsenden Äpfeln. Oceanus und die Sterne spendeten etwas Licht. Galnor grub Wurzeln aus, die einen käseähnlichen Geschmack hatten. Grauling aß nichts. Kürbisfleisch spendete ihnen genug Flüssigkeit, denn es gab keine Wasserläufe.
Je weiter sie ins Gebirge vordrangen, umso mehr Nachtgespenstern begegneten sie. Manche folgten ihnen ein Stück Wegs, andere starrten sie nur an. Zuerst bewarfen Nat und Galnor die Geister mit Steinen, aber bald wurden sie so zahlreich, dass sie darauf verzichteten. Schließlich vergaß Aeriel ihre Anwesenheit und fragte sich, warum Reisende die Geister fürchteten, denn sie näherten sich ihnen nie.
Während sie zum fünften Mal rasteten, erwachte Aeriel plötzlich aus tiefem Schlaf. Grauling neben ihr war aufgesprungen. Noch schläfrig sah Aeriel, dass Nat bei ihrer Wache eingenickt war. Ein Nachtgespenst hinter Nat berührte mit seiner schmalen unirdischen Hand ihre Wange.
Der Gargoyle knurrte wild. Aeriel kam mit einem Schrei auf die Beine und schwang ihren Stab, aber die Kreatur duckte sich. Sie schien wie ein Haufen Knochen in sich zusammenzufallen. Dann kroch sie fort, wurde vom Wald verschluckt, nur eine lange, heulende Wehklage war noch zu hören. Grauling setzte mit langen Sprüngen hinter dem Nachtgespenst her. Nat erwachte schreiend und griff an ihre Wange.
»Es hat mich berührt!«, schrie sie.
Galnor kniete neben ihr und nahm ihr Gesicht zwischen beide Hände. Aeriel sah Blut. Galnor zitterte. Seine Stimme zitterte. »Der Geist hätte dich töten können«, rief er.
Nat brach in Tränen aus. »Ich war so müde. Ich wollte nicht schlafen.«
Galnor nahm sie in die Arme, stand auf und trug sie wie ein Kind. »Wir werden öfter rasten«, sagte er.
Sie machten sich wieder auf den Weg, Nat döste in Galnors Armen. »Der Geist wollte mir etwas nehmen«, murmelte sie. »Das Bluten hört nicht auf.«
Aeriel erinnerte sich an das Ambra und welche Heilkräfte die Wirtin der Substanz zugeschrieben hatte. Sie brach ein wenig von dem Klumpen ab, zerkrümelte es und strich es auf die winzige Verletzung. Die Haut sah an dieser Stelle grau aus. »Jetzt geht es besser«, murmelte Nat, die wieder einnickte. »Es tut nicht mehr weh.«
Als sie wieder aufwachte, hatte die Blutung aufgehört. Galnor stellte sie auf ihre Füße. Nicht lange danach gesellte Grauling sich wieder zu ihnen. Etwas wie Kuchenmehl klebte an seiner Schnauze, und Kratzer waren in seinem Fell, aber sie schienen nur oberflächlich zu sein und bluteten nicht.
Nicht einmal zwölf Stunden später entdeckte Aeriel die ersten Anzeichen dafür, dass sie verfolgt wurden.
Jetzt waren sie sehr tief in das bewaldete Gebirge vorgedrungen. Auf halbem Weg einer außergewöhnlich steilen Wegstrecke hatten sie erschöpft innegehalten. Durch weiter auseinanderstehende Bäume konnte Aeriel auf der Straße flackernde Lichter sehen: feine rote Punkte zwischen den dunklen Bäumen. Galnor nickte.
»Wie ich befürchtete. Die Banditen wollen die Bestie zurückholen. «
Sofort beschleunigten die drei den Schritt, obwohl Aeriels Glieder schmerzten wie nie zuvor in ihrem Leben. Die Bäume wurden immer knorriger, manche trugen nur noch wenig Laub. Später kamen sie an vollständig entlaubten Bäumen vorbei. Die Nahrung wuchs immer spärlicher, und die Nachtgeister wurden immer kühner.
Es gab auch immer weniger Bäume, bis zwischen ihrer neunten und elften Rast die Straße nur noch von einzelnen Büschen gesäumt wurde.
Das Geräusch ihrer Stimmen wurde zu einem Flüstern, dann verstummten sie ganz. Die Luft in diesen großen Höhen war sehr dünn und die Nacht sehr kalt. Nat und Galnor marschierten eng nebeneinander in einen Mantel gehüllt. Aeriel steckte die kleine Sandlanguste tief in die Falten ihres Gewandes und schlang die weiten Ärmel ihres Reisemantels fest um ihre Handgelenke.
Nur Grauling schien das alles nichts auszumachen, er fror nicht. Die Nacht wurde noch schwärzer. Die Sterne schienen frostig weiß. Oceanus tauchte wieder am Himmel auf, als sie die verwunschenen Wälder passiert hatten: blassblau und glänzend. Aber jedes Mal, wenn sie sich umdrehte, sah Aeriel die Lichter der flackernden Fackeln. Galnor fluchte.
»Sind sie verrückt? Sie werden uns so lange verfolgen, bis sie uns direkt in die Arme des Dämons getrieben haben.«
Unaufhörlich beobachteten die drei ihre Umgebung, aber die Nachtgeister schienen verschwunden zu sein. Aeriel fragte sich, ob sie das Licht von Oceanus nicht ertragen konnten.
Die Fackeln der Banditen kamen stetig näher, bis ihr Licht schließlich, wegen der dünnen Luft brannte es niedrig und blau, nur noch eine Wegstunde hinter ihnen lag. Aeriel konnte die Verfolger sehr deutlich im Sternenlicht erkennen. Galnor blieb kurz stehen und deutete nach oben. »Der Pass des Dämons.«
Aeriel blickte auf die Schlucht zwischen den Gipfeln. Ein Schauder überlief sie. Ein Engel der Nacht wartete dort. Nat umklammerte Galnors Hand. Der junge Mann wirkte verbissen und verzweifelt. Außer der Straße gab es keine Möglichkeit, den Pass zu überqueren.
Die drei schritten auf den Pass zu. Aeriel umklammerte ihren Wanderstab mit einer Hand, mit der anderen Graulings Halsband. Galnor und Nat bewegten sich auf Händen und Füßen vorwärts, so steil war die schmale Straße geworden. Aeriel erblickte auf der Passhöhe ein Steinhaus.
»Das war einmal das Zollhaus«, sagte Galnor. »Jetzt wird es von dem Dämon bewohnt.«
Er lachte freudlos. Die Sterne leuchteten wie winzige Sonnen. Die Luft war so dünn geworden, dass sich Aeriel nur noch langsam vorwärtsbewegen konnte. Grauling knurrte.
Die Banditen unter ihnen sangen und riefen nach ihnen, sie waren trunken von der Höhenluft.
Aeriel nahm im Sternenlicht eine Bewegung wahr. Auf dem Dach des Zollhauses ließ sich eine Gestalt nieder. Sie war in ein fahles Gewand gehüllt, darüber trug sie ein schwarzes Cape. Nat atmete scharf aus und verbarg sich hinter einem Felsvorsprung. Galnor folgte ihrem Beispiel. Grauling zitterte, ein tiefes Knurren drang aus seiner Kehle.
Aber Aeriel konnte nur wie gebannt auf den Engel der Nacht starren. Sie fühlte sich wie versteinert. Unglaube überwältigte sie: Das war nicht er. Er konnte es nicht sein. Sie hatte ihn in Avaric besiegt …
Erst als Galnor ihren Arm ergriff und sie in den Schutz des Felsens zog, merkte Aeriel, dass es ein anderer Vampir war. Sie betrachtete ihn näher.
Seine Kleidung stammte nicht aus Avaric. Nur seine schwarzen Schwingen, die an ein dickes dunkles Cape erinnerten, waren dieselben. Ihr Schwarz war tiefer als das des nächtlichen Himmels. Der Engel der Nacht breitete seine Schwingen aus.
Er sah sie und ihre Weggefährten nicht an. Das wurde Aeriel plötzlich klar. Er starrte auf die Fackeln unten. Das trunkene Lachen der Banditen dauerte an. Sie hatten den Vampir noch nicht bemerkt.
Aeriel beobachtete den Ikarus und hielt Grauling fest, der sich aus ihrem Griff zu befreien trachtete. Plötzlich duckte der Vampir sich und flog.
Er stieß einen Schrei aus, er klang vogelähnlich und unmenschlich. Das Echo brach sich in der Felsenschlucht. Die Banditen blickten hoch. Ihr Lachen verstummte. Manche unter ihnen schrien. Dann zogen sie ihre Waffen.
»Seht ihm nicht in die Augen!«, hörte Aeriel den Anführer rufen. Der Vampir stieß herab. Aeriel fühlte, wie sie eine Hand fortzog. Sie stolperte, dann hörte sie Galnor in ihr Ohr zischen: »Der Pass. Beeil dich! Jetzt!«
Sie taumelten aus dem Schutz des Felsens auf die Straße. Zuerst Nat, dann Galnor. Aeriel folgte den beiden. Grauling wollte auf den Ikarus zulaufen, aber Aeriel ließ ihn nicht los. Sie kamen am Zollhaus vorbei und erreichten die Passhöhe.
Aeriel sah, wie unten zwei Banditen ihre Fackeln fallen ließen und zurückschreckten. Der Engel der Nacht stieß wieder herab, täuschte, ergriff dann einen der Diebe beim Handgelenk und entwaffnete ihn. Dann hob er den Unbewaffneten hoch.
Aeriel schrie auf und blieb stehen. Die anderen Banditen liefen jetzt nach vorn, ihre Waffen glänzten im Sternenlicht. Der Vampir flog dicht über ihren Köpfen, als würde er sich über sie lustig machen. Er hatte ihren Anführer ergriffen.
Galnor packte wieder Aeriels Arm. »Schnell!«, keuchte er. »Komm, solange es noch geht.«
»Aber der Anführer der Banditen«, rief Aeriel.
»Er ist verloren«, sagte Galnor.
Er hielt ihren Wanderstab in der Hand. Aeriel starrte auf das dunkle Holz. Sie musste ihn irgendwann verloren haben.
Jetzt erst merkte sie, dass sie Grauling mit beiden Händen festhielt. Das kupferne Halsband schnitt in ihre Finger, so dass sie bluteten. Galnors Griff war schmerzhaft.
Unten zog der Bandit, den der Vampir gefangen hatte, einen kurzen Krummdolch und stieß ihn in die Schulter seines Feindes. Der Vampir reagierte nicht, er schien die Wunde kaum zu spüren. Sie blutete nicht. Dann schlug er seine Zähne in die Kehle des Banditen.
Aeriel schrie. Dann taumelte sie vorwärts und wurde von Grauling aus der Balance geworfen. Das Halsband entglitt ihren Händen. Galnor stützte sie, sonst wäre sie gefallen. Er zerrte sie über den schmalen felsigen Pfad des Passes.
Sie schrie wieder, diesmal rief sie nach Grauling. Und sie sah, wie er stehenblieb und ihr über die Schulter einen Blick zuwarf. Unten hing der Bandit leblos in den Klauen des Engels der Nacht. Mit einem Aufheulen rannte der Gargoyle auf den Vampir und sein Opfer zu.
Aeriel konnte sie nicht mehr sehen. Sie hörten Schreie, das wütende Geheul Graulings, den unmenschlichen Ruf des Ikarus. Aeriel schauderte. Sie rannte blindlings neben Galnor her und wagte nicht mehr, sich umzublicken.
Der Weg war jetzt sehr schmal und felsig, mit steil aufstrebenden Wänden zu beiden Seiten. Aeriel konnte kaum die Hand vor Augen sehen, so pechschwarz war die Nacht. Dann öffnete sich der Pass vor ihnen, und der Pfad führte plötzlich steil bergab. Die drei stolperten blindlings hinunter, bis sie nicht mehr laufen konnten.
Büsche und Gesträuch wuchsen entlang des Weges. Die Pflanzen sahen ganz anders aus als in Bern. Manche trugen Blätter und auch Früchte. Schließlich sank Nat erschöpft zu Boden. Galnor kniete zitternd neben ihr. Aeriel konnte vor Erschöpfung kaum sprechen.
Nach einer Weile gesellte sich Grauling wieder zu ihnen; er schien kaum außer Atem. Doch hing ihm das Fell in Fetzen von der Schulter, und im Maul trug er ein Stück schmutzig grauen Stoffs. Als Aeriel es entfernte, verbrannte sie sich die Finger; es war kalt wie Eis.
Alle drei schliefen und ließen Grauling Wache halten. Nach ihrer zweiten Rast seit Überquerung des Passes ging der Sonnenstern wieder auf und tauchte die Berge in weißes Licht. Nat deutete auf ein Dorf im Tal.
Und erst als sie dort angekommen waren und zwischen den grünhäutigen und gelbhaarigen Dorfbewohnern standen, die alle Galnor glichen, wurde Aeriel bewusst, dass sie Zambul erreicht hatten.