8

Das bemalte Mädchen

Die Ältesten des Dorfes empfingen die drei freundlich. Man gab ihnen Nahrung und einen Platz zum Schlafen und stellte ihnen so lange keine Fragen, bis sie gewillt waren, darauf zu antworten. Sie revanchierten sich mit Kunststücken. Aeriel erzählte den Kindern Geschichten und vergaß darüber eine Zeit lang alles andere. Wie es schien, konnten sie in diesem Dorf bleiben, solange sie wollten.

Als Aeriel jedoch nach und nach ihre Kräfte wiedererlangte, verloren der Frieden und die Annehmlichkeiten für sie ihren Reiz. Sie musste an den Vers der Botinnen denken. Die Zeit verstrich. Orm rief. Aeriel musste sich wieder auf den Weg machen.

Sie sammelte ihre Sachen zusammen. Grauling lag dösend neben ihrem Wanderstab. Sie pfiff nach dem Gargoyle. Auf der schattigen Seite des Dorfplatzes zerrieben die Leute Muskatnüsse zu Pulver. Aeriel ging zu ihnen. Sie trug ihren Reisemantel und hatte ihr Bündel über die Schulter geworfen.

»Ich muss weiter«, sagte sie. »Ich bin schon zu lange hiergeblieben. « Der Tagmonat war bereits zu einem Viertel vergangen.

Nat blickte auf und jonglierte nicht weiter. »Wohin willst du?«

»Nach Westen, nach Terrain.«

»Hast du dort Verwandte?«

Aeriel schüttelte den Kopf, sie wollte nicht darüber sprechen. »Ich habe keine Verwandten. Werdet ihr hierbleiben?«

Galnor antwortete. »Ich habe Familie im Norden, Verwandte meiner Großmutter. Nat und ich bleiben noch ein Weilchen hier, dann gehen wir auch.«

Aeriel beugte sich nieder und küsste ihn und Nat auf die Wange, wie es in Terrain Sitte war. »Gute Reise.«

Aber als sie sich abwandte, gab Nat ihr etwas. »Nimm das«, sagte sie.

Es war Nats Dolch mit dem Elfenbeingriff. »Das kann ich nicht annehmen«, fing sie an, doch das blauhäutige Mädchen wollte ihn nicht zurücknehmen.

»Ich stahl ihn einem der Banditen in Talis«, sagte sie. »Er versprach mir eine Silbermünze, wenn ich mit zwölf Löffeln jongliere. Ich erfüllte seinen Wunsch, aber er lachte nur und gab mir nichts. Deshalb nahm ich seinen Dolch. Doch er ist für meine Hand zu groß. Für deine dürfte er passen.«

Aeriel steckte den Dolch sorgfältig weg. Sie küsste Nat noch einmal, verabschiedete sich von den Dorfältesten und machte sich auf den Weg.



Sie wanderte durch Zambul nach Westen. Die Landschaft war noch immer gebirgig, aber die Gipfel waren viel niedriger als in Bern. Manchmal sang sie für ihr Essen Lieder zur Laute. Dafür bot man ihr Käse, der nach fast gar nichts schmeckte, Datteln, Brot oder Kuchen.

Sie kam an Wiesen vorbei, auf denen Ziegen grasten. Manchmal begegnete sie Schnittern, die wild wachsendes Korn ernteten oder Beerenpflückern oder Mädchen, die Gänse hüteten. Andere sammelten Holz auf den bewaldeten Hügeln. Aber nirgends entdeckte sie einen Bach oder Fluss.

Die Menschen schienen ihr Wasser aus Brunnen zu beziehen. Wasserverkäufer standen an Straßenkreuzungen und boten den Reisenden einen Schöpflöffel voll an, natürlich gegen Entgelt. Aeriel musste dafür genau wie für ihr Essen singen.

Der Reiher saß zu Holz erstarrt auf ihrem Wanderstab. Die kleine Sandlanguste lief, während sie die Laute spielte, zum Entzücken ihrer Zuhörer auf ihrem Ärmel hin und her. Den Gargoyle nannten sie ihren großen grauen Hund.

Das Land war arm und trocken, doch nirgendwo verwüstet wie die verwunschenen Wälder von Bern. Dann erreichte sie eines Tages, der Tagmonat war fast zu drei Viertel verstrichen, einen abgebrannten Hügel. Es roch überall versengt.

Aeriel starrte ihn eine Weile an. Grauling jaulte leise und lief ruhelos auf und ab. Aeriel beruhigte ihn, ging dann weiter auf der Straße und durch ein enges Tal. Sie fragte einen Jungen, der Ziegen auf dem gegenüberliegenden Hügel hütete, warum dort ein Feuer ausgebrochen war. Der Junge blickte von der Holzflöte auf, die er gerade spielte, und zuckte die Schultern. »Vor ein paar Tagmonaten schlief der Engel dort.«

Aeriel fühlte, wie ihr ein Schauder über den Rücken lief. »Fliegt der Engel der Nacht von Bern bis hierher?«

Der Junge schüttelte den Kopf. »Er kommt nicht aus Bern. Es ist unser eigener.«

Aeriel verstand nicht und fragte: »Gibt es in Zambul einen Engel der Nacht?« Der Junge nickte gleichgültig. »Aber euer Land ist schön«, sagte Aeriel. »Kein Pesthauch hat die Bäume verwüstet …«

Der Ziegenhirte blickte über das Tal. »Doch. Da drüben.«

»Aber fast ganz Bern wurde von dem Engel der Nacht dort verwüstet.«

Da lachte der Junge verächtlich. »Ja, weil er nur einen einzigen Aufenthaltsort hat, Tagmonat um Tagmonat, Jahr um Jahr. Und dort überall sein Gift verstreut. Er ist dumm, dieser Engel der Nacht. Verdirbt sich seine Jagdgründe.«

Aeriel wollte etwas sagen, aber der Hirte fuhr fort: »Deswegen leben jetzt fast nur noch Diebe in Bern. Die Kinder sterben alle, sagen die Leute. Und in sechzig Jahren wird es überhaupt niemanden mehr in Bern geben.«

»Aber«, sagte Aeriel, »wenn ihr in Zambul auch einen Vampir habt, wie kommt es, dass das Land unversehrt geblieben ist?«

»Unversehrt?«, fragte der Ziegenhirte. »Gesund? Nicht halb so unversehrt oder gesund, wie es war, ehe er auftauchte. Seit fünfzig Jahren ist er jetzt da. Aber er wechselt ständig seinen Wohnsitz, verstehst du? Dadurch macht sich sein Pesthauch nicht so bemerkbar.«

Der Junge spielte mit seiner Flöte und sah Aeriel nicht an.

»Und nach ein, zwei Jahren erneuert sich die Vegetation an der Stelle, die er verbrannt hat, wieder. Solange halten wir uns von diesen Orten fern. Deswegen sterben wir auch nicht wie die Menschen in Bern, und unsere Kinder bleiben gesund.«

Aeriel fühlte sich verloren; sie konnte nicht sprechen. Sie hatte angenommen, es gäbe keine Vampire in Zambul. Der Gargoyle heulte plötzlich auf, und die Ziegen des Jungen liefen zusammen.

»Ruf deinen Hund zur Ordnung!«, rief der Hirte.

Aeriel beruhigte Grauling und wandte sich dann wieder an den Jungen. Die Ziegen rupften wieder Gras.

»Ein Engel der Nacht muss jagen«, sagte sie schließlich. »Aber in diesem Land scheint niemand nachts Angst vor ihm zu haben. Die Dörfer sind nicht durch Einfriedungen geschützt, es gibt keine Riegel an den Türen … Wie kann dein Volk sich sicher fühlen?«

»Ah«, sagte der Junge lächelnd und blies ein paar Töne auf seiner Flöte. »Uns passiert nichts, weil wir mit unserem Engel der Nacht einen Handel eingegangen sind.«

Aeriel kniete sich unter ihm auf den rauen Boden des Hügels. »Wie soll ich das verstehen?«

»Wo immer er sich auch niedergelassen hat, um den Tag zu verschlafen, wissen es die Menschen, weil die Bäume absterben und es nach Verwesung stinkt. Also ziehen sie Lose, und das Haus, das verliert, muss bei Nacht einen seiner Bewohner dem Vampir opfern. So einfach ist das.«

Aeriel fühlte, wie es ihr die Kehle zuschnürte. Eine kleine Brise wehte, aber sie konnte kaum atmen. Grauling, der neben ihr lag, fing an zu knurren. Sie beruhigte ihn.

»Die Menschen von Zambul opfern freiwillig Menschen aus ihrer Hausgemeinschaft?«, fragte sie.

Der Junge zuckte die Schultern. »Manche tun es freiwillig, andere nicht. Was spielt das für eine Rolle, wenn uns der Engel dann in Ruhe lässt? Er ist zufrieden und fliegt fort, belästigt den Ort über Jahre hinweg nicht mehr.«

Aeriel schwindelte. Sie merkte, dass sie seit über sechs Stunden nichts mehr gegessen hatte. »Wer wird dem Engel der Nacht geopfert?«, fragte sie den Jungen.

»Töchter«, entgegnete der Ziegenhirte, »Söhne. Neugeborene oder Kriminelle, Fremde. Keine Kranken oder Sterbenden. Keine alten Leute, es sei denn, sie sind kräftig. Aber die meisten Opfer für den Vampir sind Sklaven.«

Aeriel versuchte, die aufsteigende Panik zu unterdrücken. »Sklaven? Ich habe in Zambul keine Sklaven gesehen.«

Der Junge sah von seiner Flöte auf. »Du hast keine gesehen? In all den Städten, in denen du gesungen hast? Die Hälfte der einfachen Bevölkerung ist bei den Reichen verschuldet. Wir müssen doch Wasser kaufen, oder? Und den Reichen gehören die Brunnen. Sie haben das Geld, um sich richtige Sklaven zu kaufen, rosahäutige aus Rani oder goldhäutige aus Avaric, oder blauhäutige aus Bern. Weißhäutige auch, nehme ich an«, sagte er plötzlich und betrachtete Aeriel. »Woher kommst du?«

»Aus Terrain«, antwortete sie.

Er lachte, schob eine Haarsträhne aus seiner Stirn. Sein Haar war gelb und leuchtete gegen seine hellgrüne Haut. »Terrain«, sagte er. »Dann kennst du dich ja mit Sklaven aus.«

Aeriel stand auf. »Sprich weiter«, sagte sie. »Du hast mir gerade von den Reichen und ihren Sklaven erzählt.«

»Und dem Auslosen«, entgegnete der Junge lächelnd. »Die Reichen scheinen meistens die Nieten zu ziehen. Ich weiß nicht, warum. Aber was macht es ihnen schon aus? Sie murren zwar, aber sie opfern nicht ihre Töchter und Söhne, nicht einmal ihre guten Dienstboten. Sie binden nur eine armselige Kreatur in der Nähe des Engels an und überlassen sie nachts ihrem Schicksal.«

Da trug der trockene Wind für einen Moment den Geruch des verbrannten Hügels zu ihnen herüber. Wieder schwindelte Aeriel. Ihr Magen zog sich zusammen. Sie streifte die Kapuze ihres Reisemantels gegen die tief stehende Sonne über.

Der Ziegenhirte stieß einen überraschten Schrei aus, sprang auf die Füße und starrte sie an. Aeriel betrachtete sich, dann den Jungen, der den Blick über den Hügel schweifen ließ, als suchte er etwas. Er schien durch sie hindurchzublicken.

Aeriel drehte sich um und ging den Abhang hinunter. Sie verstand sein Verhalten nicht, und es war ihr auch gleichgültig. Grauling trottete hinter ihr her. Sie hörte wie der Hirte hinter ihr herschrie: »Hexe!« Und als sie sich umwandte, sah sie, wie er eilig seine Ziegen den Hang hinauftrieb.

Später fand sie am Straßenrand wildwachsende Birnen und füllte ihre Tasche damit. Der Geschmack war widerlich, aber sie waren nicht giftig. Auch die kleine Sandlanguste kostete sie.

Im nächsten Dorf sang Aeriel wieder für ihr Abendessen, und es blieben ihr auch noch genug Münzen, um eine kleine Flasche Wasser zu kaufen, aber sie hielt sich dort nicht länger auf.

Wenn sie keine Skrupel haben, ihre Sklaven dem Engel der Nacht als Opfer darzubieten, dachte sie, zögern sie noch weniger, Fremde dafür zu nehmen.

Sie marschierte weiter; oft setzte sie die Kapuze ihres Reisemantels auf. Sie spielte für ihren Lebensunterhalt auf der Laute, schlief aber nie wieder in einem Dorf. Sie kam an mehreren versengten Hügeln vorbei. Sie häuften sich jetzt, und als der Sonnenstern sehr tief stand, vielleicht drei Stunden vor seinem Untergang, murmelte sie vor sich hin: »Der Hirte hatte mir doch gesagt, dass der Vampir nie lange an einem Ort verweilt, aber jetzt komme ich während eines zweistündigen Fußmarsches schon an drei verbrannten Stellen vorbei.«

Sie streichelte Graulings struppiges Fell und sah prüfend die Bäume an. Sie gingen am Rand eines Waldes entlang.

»Aber vielleicht gefallen ihm seine Opfer nicht, und er hält nach besseren Ausschau …«

Noch ehe sie ausgeredet hatte, hörte sie ein krächzendes Lachen wie das Kreischen verrosteter Türangeln. Vor ihr stand eine alte Frau, tief gebeugt unter der Last eines großen Holzbündels.

»Nun, Mädchen«, sagte sie, »du hast wahre Worte gesprochen. Alle diese Ländereien gehören dem Majis. Vor drei Tagmonaten traf ihn das Los.«

Aeriel blieb stehen. »Verweigerte er das Opfer?«

»Verweigern?«, kreischte die alte Frau. »Pah. Niemals. Dreimal versuchte er, die geflügelte Bestie zu füttern, nur, der Engel der Nacht war nicht zufrieden.«

»Warum?«

Die Alte nahm ihr Bündel ab und richtete sich ein wenig auf. »Hast du etwas Wasser bei dir, Mädchen? Ach, Holzsammeln macht so durstig.«

Aeriel gab ihr ihre Flasche, und die Alte trank gierig, wischte sich dann ihren Mund mit ihrem Ärmel ab und reichte Aeriel die leere Flasche zurück. Sie zerrte hilflos an ihrem Bündel, als wäre es plötzlich zu schwer für sie geworden.

»Lass mich nur machen«, sagte Aeriel und klemmte sich das Holz unter den Arm. »Willst du mir die Geschichte erzählen?«

Das verhutzelte Gesicht der Alten erstrahlte in einem Lächeln. »Meine Hütte steht da drüben«, sagte sie. »Komm mit. Ich erzähle dir alles unterwegs.«



Sie humpelte davon, und Aeriel folgte ihr. Grauling streifte vor ihnen durch die Bäume.

»Jetzt ist es fast vier Tagmonate her, seit sich der Vogelmann zum letzten Mal eine Seele holte, aber nicht, weil der Majis ihm keine gegeben hätte. Schon dreimal fand man die seidenen Fesseln zerschnitten vor, und das Opfer war verschwunden.

Deshalb fliegt der Vogelmann nicht fort. Bei jedem Morgengrauen sucht er sich ein neues Quartier auf den Ländereien des Majis. Bisher hat der Vampir noch nie junge und gesunde Opfer verschmäht. Die Vogelpriester sagen, dass ihr Gott erzürnt ist. Der Majis soll ein anderes Opfer anbieten, jemanden, der seinem Herzen nahesteht.«

»Priester?«, flüsterte Aeriel. »Haben sie diesen Vampir zu ihrem Gott gemacht?«

Die Alte zuckte mit den Schultern. »Als ich jung war, beteten wir zu den Gottgleichen, aber sie kümmern sich nicht mehr um unsere Welt. Sie verkommt. Schade, dass sie sie nicht dauerhaft geschaffen haben.« Sie seufzte. »Ich glaube, die Gottgleichen gibt es nicht mehr.«

Aeriel protestierte. »Ravenna ist nicht tot. Sie lebt, sie muss leben. Sie hat versprochen wiederzukommen.«

Die Alte schnalzte mit der Zunge. »Die Luft entschwindet ins Nichts. Es fällt kein Regen mehr. Der Handel wird immer weniger. Nachrichten zwischen den einzelnen Königreichen werden kaum noch ausgetauscht. Die Majises herrschen über uns und machen uns zu Sklaven.« Sie schnalzte wieder mit der Zunge. »Ravenna ist längst überfällig.«

Aeriel schwieg. Die Alte seufzte.

»Selbst der gefleckte Panther, Samalon. Der letzte gute Gott, den wir hatten, ist nicht mehr da.«

»Samalon«, sagte Aeriel. »Sprichst du von Zambulon, dem Wächter dieses Landes?«

Die alte Frau schüttelte den Kopf. »Ich weiß von diesen Dingen nichts. Ich war nur ein Kind. Jetzt gibt es in Zambul einen neuen Gott und seine Priester.« Plötzlich lachte sie wieder krächzend. »Ach, die Vogelpriester behaupten, dass sie ihren Gott kennen. Aber sie wissen weniger als ich über ihn.«

»Und warum?« Aeriel verlagerte das Bündel auf ihrer Hüfte. Die spitzen Äste stachen sie.

»Nun«, sagte die alte Frau, »da war ein Mädchen. Ich traf es vor nicht zwei Tagmonaten im Wald, nach Untergang des Sonnensterns. Sie war ganz außer Atem und weinte. Ihre Handgelenke waren verletzt, als hätte man sie festgebunden. Meine Hütte war nicht weit. Ich nahm sie mit dorthin, aber sie wollte nicht bleiben vor lauter Angst.

Sie erzählte mir, dass sie als Sklavin im Haus des Majis gelebt hatte und zum Opfer für den Engel bestimmt worden war. Doch dann sei ein großes Monster aus dem Wald gekommen, habe ihre Fesseln durchgebissen und sie befreit. Ich hielt sie für verrückt. Dann lief sie fort und reagierte auch nicht auf mein Rufen.

Danach ging ich in meine Hütte und verriegelte die Tür. Und während ich so ganz allein dasaß, musste ich an das Opfer denken, das der Majis den Tagmonat zuvor angeboten hatte und das von dem Engel verschmäht worden war. Und ich fragte mich, ob vielleicht diese graue geflügelte Kreatur, von der das Mädchen gesprochen hatte, die beiden Opfer befreite.«

Dann ging die alte Frau eine Weile schweigend weiter, bis sie den Faden wieder aufnahm.

»Den Tagmonat darauf stieß ich beim Holzsammeln auf seltsame Spuren im Wald, große Pfotenabdrücke, wie ich sie noch nie gesehen hatte, und ich fand zwei riesige graue Federn, größer als jede Vogelfeder. Einmal hörte ich ein seltsames Miauen. Ich war derart darüber erschrocken, dass ich mein Bündel fallen ließ und floh.

Am Nachmittag desselben Tagmonats traf ich einen Reisenden, der mir erzählte, dass der Vampir auch das nächste Opfer abgelehnt habe, so dass der Majis ein drittes Opfer stellen müsse, wenn er nicht sein ganzes Land verbrannt haben wollte. Diesmal war ich lange vor Untergang des Sonnensterns zu Hause und verriegelte meine Tür. Bei Tagesanbruch ging ich dann zu meiner Nachbarin, um Neuigkeiten zu erfahren. Und sie erzählte mir etwas sehr Seltsames.

Sie sagte, dass in der Nähe des Hauses ihrer Tochter ein Junge nachts gestürzt war und sich im Zaun verfangen hatte. Die Tochter eilte ihm mit einer Fackel zu Hilfe und sah, dass er um eines seiner Handgelenke eine zerfetzte blaue Kordel trug, die durchgebissen und noch ganz nass war. Seine Kleider waren nicht gewöhnlich, sondern von feinstem Schnitt, wie man sie in reichen Häusern trägt.

Sie ging zurück ins Haus, um ihn mit einem Messer loszuschneiden. Aber als sie wiederkam, war der Junge verschwunden.

So erzählte ich also meiner Nachbarin, was ich erlebt hatte und was ich darüber dachte. Dann kehrte ich zu meiner Arbeit zurück, die mir an jenem Tag schlecht von der Hand ging, da ich tief in Gedanken versunken war. Leg das Bündel nur auf die Türschwelle, mein Mädchen. Ich kümmere mich dann schon darum.«



Die beiden waren vor der Hütte der Alten angekommen. Aeriel entledigte sich des Bündels, aber obwohl die Frau ihr Essen und Obdach anbot, wollte Aeriel nicht bleiben. Sie hatte es jetzt eilig, aus Zambul herauszukommen, und nicht die geringste Ahnung, wie weit es noch zur Grenze nach Terrain war.

Dann füllte die alte Frau Aeriels Wasserflasche wieder und schenkte ihr ein Stück Kuchen zum Dank. Aeriel pfiff nach Grauling. Die kleine Sandlanguste knabberte ein Stück Kuchen.

Die Straße wand sich durch ein langgestrecktes breites Tal, und der Wald wich zu beiden Seiten zurück. Die Straße gabelte sich, Aeriel nahm die Abzweigung, die auf einen Hügel führte. Vor ihr lag eine Stadt.

Sie hatte keine Zeit, sie näher zu betrachten, denn hinter einer Wegbiegung hörte sie Stimmen und Schritte. Die Luft war unbewegt, ohne den leisesten Windhauch. Aeriel hatte ihre Kapuze übergestreift, um ihre Augen gegen die tief stehenden Strahlen der Sonne zu schützen.

Um die Kurve kamen ein paar Offiziale, die von Soldaten begleitet wurden. Aeriel blieb stehen, um sie vorbeizulassen. Niemand schenkte ihr auch nur einen Blick. Hinter der kleinen Gruppe türmte sich eine Staubwolke auf. Der erste Beamte murmelte mehr zu sich als zu dem Mann und der Frau in weißen Gewändern, die ihn begleiteten.

»Mein bester Obstgarten, zwei Felder und eine Wiese – ruiniert. Und das in vier Tagmonaten. Ich kann es mir einfach nicht mehr leisten. Wenn der Dämon dieses Opfer nicht akzeptiert, darf man mich für die Zukunft nicht verantwortlich machen. «

»Der Engel«, korrigierte ihn einer der weiß gekleideten Leute freundlich. »Der Engel, Majis.«

Aeriel hörte nicht mehr, was weiter gesprochen wurde, aber sie hatte zwei Dinge bemerkt: Die Priester trugen Kragen, die mit schwarzen Federn verziert waren, und der Majis spielte während des Gehens nervös mit einem kleinen Schlüssel aus Metall.

Aeriel starrte hinter den immer kleiner werdenden Gestalten her, aber Grauling befreite sich plötzlich aus ihrem Griff und rannte mit großen Sprüngen den Weg hoch. Aeriel pfiff, doch der graue Gargoyle kam nicht zurück. Sie ging ihm nach. Der Weg stieg jetzt steil an.

Hinter einer Biegung kam sie plötzlich zu einem verbrannten Obstgarten, die Blätter und Früchte lagen verkohlt am Boden. Der Sonnenstern stand nun sehr tief im Osten und warf lange schwarze Schatten. Aeriel hörte erst Schreien, dann Schluchzen.

Grauling lief pfeilschnell durch Licht und Schatten; Aeriel rannte ihm hinterher und wäre fast über ein Mädchen gestolpert. Es war kostbar gekleidet; die Fußspangen um seine Knöchel glänzten. Ein Schleier verhüllte sein Gesicht und ließ nur die Augen frei. Man hatte seine Haut schwarz bemalt, an manchen Stellen leuchtete es hell durch.

Sie hatte so geschrien. Jetzt zerrte sie verzweifelt an einer Kette, mit der sie an einen Baum gefesselt war. Das Metall der Fessel hatte ihr Handgelenk aufgerissen.

Aeriel schlug die Kapuze ihres Reisemantels zurück und ging zu ihr. Das Mädchen fuhr zusammen, wich vor ihr mit einem Schrei zurück und stürzte dann schwer zu Boden.

»Geist«, keuchte das bemalte Mädchen schließlich. »Geist, aus Liebe zu den alten Göttern, hilf mir. Ich muss freikommen, ehe der Sonnenstern untergeht.«

Aeriel legte ihr Bündel und ihren Wanderstab hin und kniete sich neben das Mädchen. Sie nahm die Kette und starrte darauf.

»Ich bin kein Geist«, sagte sie. »Nur eine Reisende. Ich bin deinem Vater auf der Straße begegnet.«

Das bemalte Mädchen versuchte, seine Hand schmal zu machen, damit es durch den Ring der Handfessel schlüpfen konnte. »Er ist nicht mein Vater«, zischte es. »Ich bin seine Sklavin. Kannst du mich befreien?« Ihre Stimme klang wieder verzweifelt. »Oh, die Bestie, die Rettende Bestie, irgendjemand muss ihm etwas gesagt haben, sonst hätte er mich nicht angekettet! «

Aeriel zerrte mit all ihrer Kraft an der Kette. »Was weißt du von der Bestie?«

»Jemand im Dorf erzählte mir, dass ein Monster nach Zambul gekommen sei, um dem Vampir die Jagd zu verderben. Es würde auch mich befreien, sagten sie, aber welche Bestie kann eine Kette durchbeißen?«

Aeriel zog den elfenbeinernen Dolch hervor. Sie sägte an einem der Kettenglieder. Die Spitze der Klinge brach ab. Aeriel legte den Dolch weg. »Die Kettenglieder sind zusammengeschweißt«, sagte sie.

»Götter helft mir. Götter helft mir«, schluchzte das bemalte Mädchen. Plötzlich schrie es laut auf. »Jetzt … Er erwacht!«

Aeriel drehte sich um und sah ihn. In der Mitte des Gartens, etwa dreißig Schritte entfernt, stand ein kräftiger Baum. Auf einem Ast kauerte etwas Schwarzes.

Es sah wie ein Bündel aus schwarzem Samt aus und war etwa so groß wie Aeriel. Der verbrannte Baum wirkte fast grau dagegen, denn dieses Ding reflektierte nichts vom weißen Licht des Sonnensterns. Nicht einmal der Nachthimmel ohne Sterne war so schwarz.

Es war das Schwarz der Flügel des Engels der Nacht. Aeriel fühlte wieder dieses unsägliche Entsetzen in sich aufsteigen. Das bemalte Mädchen zerrte an seinen Ketten. Die zusammengefalteten Flügel bewegten sich.

»Er erwacht! Er erwacht!«, schrie das bemalte Mädchen. Der Sonnenstern war schon halb verschwunden.

Das Bündel bewegte sich, hielt inne, bewegte sich wieder. Dunkelheit entströmte ihm wie die Blütenblätter einer Nachtblume.

Das bemalte Mädchen hielt Aeriel seine Hand hin.

»Brich sie!«, schrie es. »Zwing sie durch die Fessel!«

Aeriel war zu keiner Bewegung fähig. Das Entfalten der Schwingen faszinierte sie. Einer der beiden Flügel war jetzt ausgestreckt, der andere erst halb geöffnet.

Der Engel der Nacht drehte ihnen den Rücken zu. Aeriel merkte es erst jetzt überrascht. Sie spürte, dass sie jemand berührte. Das bemalte Mädchen hatte etwas gesagt.

Aeriel schüttelte wie betäubt den Kopf. »Selbst gebrochen würde deine Hand nicht hindurchpassen.«

»Dann schneid sie ab!«, schrie das Mädchen.

Die Schwingen des Engels der Nacht waren jetzt fast vollständig geöffnet. Das Mädchen tastete verzweifelt nach etwas unter den Blättern. Plötzlich wurde Aeriel bewusst, als sei ein Bann von ihr genommen, dass in ein paar Minuten der Sonnenstern untergegangen sein würde.

Sie drehte sich um, sah, wie das bemalte Mädchen den Dolch nahm, ihr Handgelenk auf die Erde legte und schneiden wollte. Aeriel beugte sich nieder und nahm ihre Hand.

»Hör auf!«, befahl sie. »Mir ist etwas eingefallen.«

»Reiher«, zischte sie und nahm ihren Stab. »Vogel-auf-einem-Stock. Wach auf!«

Der Reiher erzitterte, stieß einen empörten Schrei aus und wurde zu Fleisch. »Was ist los?«, krächzte er. »Warum nennst du mich bei diesem lächerlichen Namen?«

Der weiße Vogel umkrallte den Kopf des Wanderstabes, hielt flügelschlagend sein Gleichgewicht. Aeriel deutete auf die Handfessel.

»Kannst du ein Schloss aufpicken?«, fragte sie. »Du hast das Stadttor in Talis für uns geöffnet. Kannst du auch dieses Schloss öffnen?«

Das bemalte Mädchen starrte den Reiher an, sein Schluchzen verwandelte sich in ein atemloses Keuchen. Der Reiher betrachtete das Schlüsselloch der Handfessel und fing an, darin herumzupicken.

Das Mädchen schrie plötzlich.

»Er steht!«

Aeriel zuckte zusammen und drehte sich um.

»Beweg dich nicht«, sagte der Reiher böse.

Der Vampir stand jetzt auf dem schwarzen Ast, den Rücken noch immer der untergehenden Sonne zugekehrt. Der Gestank von Fäulnis legte sich wie Dunst über den Garten. Der Ikarus schlug mit den Flügeln. Aeriel fragte sich, wo Grauling geblieben war und wo die seltsame Bestie blieb, von der die Alte gesprochen hatte.

Der Sonnenstern sank tiefer, er stand kaum noch einen Fingerbreit über den Hügeln. Oceanus schien blassblau durch die knorrigen schwarzen Bäume. Sie hörte ein kratzendes Geräusch. Der Stab in ihrer Hand zitterte. Der Reiher machte mit dem Kopf eine sonderbare Drehung. Die Spitze seines Schnabels im Schlüsselloch drehte sich ebenfalls. Das bemalte Mädchen zog die Fessel von seiner Hand.

Der Sonnenstern ging unter. Der Himmel wurde zu einem schwarzen Nichts. Der Obstgarten versank in Schatten. Der Vampir drehte sich um, er war in das geisterhafte Licht von Oceanus und den Sternen getaucht. Nur eine Sekunde sah Aeriel die Gestalt eines jungen Mannes, in fahle Gewänder gehüllt; ein wildes, ausgehungertes Gesicht; farblose, ausdruckslose Augen.

Das bemalte Mädchen schrie und sprang von Aeriel fort. Aeriel wollte ihm folgen, aber der Vampir war schon in der Luft. Der Wind seiner Flügel presste ihre Kleider an ihren Körper. Aeriel warf sich flach auf den Boden und hoffte, dass er sie verfehlte.

Noch im selben Moment änderte sich sein Flügelschlag. Er kreiste nun über ihr in der Luft. Aeriel kam auf die Knie, griff nach ihrem Wanderstab. Der Vampir stieß herab. Aeriel schwang ihren Stab, er traf ins Leere, denn der Sohn der Hexe hatte sich plötzlich zurückgezogen.

Eine Gestalt, nein, zwei Gestalten kamen aus dem Garten gesprungen. Sie setzten über Aeriel hinweg, Grauling verbiss sich im Unterarm des Engels der Nacht. Das andere Tier, grau wie das erste, krallte sich in ein Bein des Vampirs. Sein Rücken war mit zwei Paaren knochiger Schwingen versehen. Um den Hals trug es ein Kupferband.

»Katzenschwinge!«, sagte Aeriel atemlos. »Grauling, Katzenschwinge! «

Das geflügelte Tier grub seine Zähne tief in das Bein des Vampirs. Der Ikarus stieß einen unmenschlichen schrillen Schrei aus und schüttelte seine Angreifer ab. Grauling stürzte, aber Katzenschwinge hob sich in die Luft. Sie verbiss sich in einem Flügel des Engels der Nacht.

Aeriel keuchte, sie rang nach Atem. Grauling kam wieder auf die Füße. Jemand zerrte an ihren Kleidern. Aeriel stand taumelnd auf.

»Flieh! Flieh!«, rief das bemalte Mädchen.

Aeriel lief mit ihm auf die Bäume zu.

Fauchen, Kläffen und vogelähnliche Schreie waren hinter ihnen zu hören.

Plötzlich lag der Obstgarten hinter den beiden. Oceanus verbreitete sein bleiches blaues Licht. Der Gestank von Verbranntem wich. Gierig sog Aeriel die frische Luft ein. Ihr Wanderstab fühlte sich plötzlich leichter an. Sie starrte ihn an und begriff, dass sie ihn und auch ihr Bündel mitgenommen hatte. Der Reiher kreiste hoch über ihnen, in Richtung eines anderen Tals.

»Folgt mir!«, rief er. »Ich finde den sichersten Weg.«

Dann segelte er tiefer, sein Weißes Gefieder schimmerte im fahlen Licht der Nacht.