9

Der Fürst

Der Reiher geleitete sie durch dichten Wald, trockene Abhänge hinab und über schattige Pfade. Noch immer klangen Aeriel die Schreie des Vampirs und das Jaulen der beiden Gargoyles in den Ohren, und sie biss sich vor Sorge um sie auf die Unterlippe. Der Ikarus verfügte über die Kraft, sie mit einem Schlag zu vernichten.

Nachdem sie lange gerannt waren, hörten sie hinter sich einen lauten zornigen Schrei. Der Vampir kreiste über ihnen. Seine fahlen Gewänder glänzten zwischen dem Schwarz seiner Flügel. Aeriel lauschte angestrengt, aber sie konnte die Gargoyles nicht hören. Über den Bäumen spähte der Engel der Nacht nach ihnen. Aeriel und das Mädchen tauchten tiefer ins Dickicht. Dann drehte der Sohn der Hexe mit einem Wutschrei ab, in Richtung Stadt, zum Haus des Majis.

Sie folgten dem Reiher, bis das Mädchen strauchelte. Aeriel blieb im dichten Unterholz stehen. »Reiher«, rief sie. »Wir müssen rasten.«

Der Vogel glitt in einem weiten Bogen auf den Waldboden. »Sterbliche«, murmelte er. »Das hatte ich vergessen.«

Aeriel lehnte sich müde gegen einen Baum. Das bemalte Mädchen sank atemlos und zitternd vor Erschöpfung zu ihren Füßen nieder. Aeriel nahm einen Schluck aus ihrer Wasserflasche, bot sie dann dem Mädchen an, doch es drehte den Kopf weg. Das Blut an ihrem Handgelenk war dunkel und getrocknet. Aeriel wusch es mit ein wenig Wasser aus ihrer Flasche ab. Das Mädchen biss die Zähne zusammen und stieß erstickte kleine Schreie aus.

»Es tut mir leid, dass ich dir Schmerzen zufüge«, sagte Aeriel, »aber ich habe eine Salbe, die dir helfen wird.«

Das bemalte Mädchen schüttelte den Kopf. »Meine Füße«, sagte es schließlich.

Aeriel wusste zuerst nicht, was ihre Gefährtin meinte. Sie legte einen der dunkel bemalten Füße auf ihren Schoß und bürstete den Staub ab. Auf der Sohle entdeckte sie Schnitte und Blut. »Wie konnte das passieren?«, fragte sie. »Ich habe nichts Spitzes gefühlt.«

Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Der Majis zerschnitt mir die Fußsohlen, damit ich nicht entkommen konnte, selbst wenn es mir gelingen sollte, die Kette zu sprengen.«

Aeriel war entsetzt. So behutsam wie möglich reinigte sie die Füße des bemalten Mädchens und benutzte dazu den Saum ihres Wüstengewandes. Plötzlich stieß das Mädchen seltsame Laute aus. Aeriel wusste nicht, ob es lachte oder weinte.

»›Ich liebe deine dunkle Schönheit‹«, stieß sie hervor. »›Ich liebe deine dunkle Liebe.‹«

Aeriel verstand nicht, was sie damit sagen wollte. Das bemalte Mädchen weinte jetzt; dann nahm es den Schleier von seinem Gesicht. Da sah Aeriel voller Überraschung, dass es nicht dunkel bemalt war, sondern die weißen Flecken in seinem Gesicht von heller Farbe herrührten.

»Das pflegte er zu mir zu sagen«, sprach das Mädchen weiter. »›Meine dunkle Schönheit, meine dunkle Liebe, eher opfere ich meine eigene Tochter dem Vogel als dich.‹«

Sie wandte wieder den Kopf ab. Aeriel sagte eine Weile nichts. Irrylath, Irrylath … Plötzlich musste sie nur noch an ihn denken und wusste nicht, warum. Sie sah das Mädchen an. Seine Haut war so schwarz wie die des Jungen auf der Insel im Sandmeer. »Ich habe nicht geahnt, dass du so dunkel bist«, murmelte sie schließlich. »Ich dachte, die Farbe …«

Das Mädchen rieb mit der Hand über seine Wange. »Das?« Die Farbe klebte an ihren Fingerspitzen. »Wie eine Braut geschminkt … Sie wollten ihm diesmal mehr als nur eine Mahlzeit anbieten.«

In plötzlicher Wut rieb sie sich die weiße Schminke ab. Aeriel hielt den Atem an. Ungewollt stieg ein Gedanke in ihr auf. Auch ich war die Braut eines Engels der Nacht. Falscher Geliebter. Falsche Liebe.

Aeriel wusch das bemalte Mädchen. Sie nahm Ambra aus ihrem Bündel und strich es über die Wunden. Sorgsam verband sie sie dann mit dem Schleier des dunkelhäutigen Mädchens. Aeriel berührte seine Füße wieder.

»Schmerzen sie noch?« Die andere schüttelte den Kopf. Ihr Haar war zu vielen kleinen Zöpfen geflochten. »Warum weinst du dann?«

Das dunkelhäutige Mädchen sagte: »Als ich im Haus des Majis lebte, sagten die Hellhäutigen: ›Wenn ich frei bin, gehe ich nach Rani‹, und die Blauhäutigen sagten: ›Nach Bern. Wo meine Familie lebt. Wo ich geboren wurde.‹ Aber wo lebt meine Familie? Wo wurde ich geboren?«

Sie schauderte, schlang die Arme um ihren Oberkörper.

»Meine erste Herrin kaufte mich von einem Händler aus Bern, der nicht wusste, wo ich herstamme. Ich habe noch nie von einem Land gehört, wo Menschen wie ich leben.«

Sie sah Aeriel an.

»Der Majis ließ mich völlig frei herumlaufen. Er wusste, dass ich nicht fortlaufen konnte. ›Du wirst mich nie verlassen, mein schwarzes Küken‹, sagte er. ›Du kannst ja nirgends hingehen.‹«

Aeriel kniete nieder und legte ihre Hand auf die Hand des Mädchens. Zum ersten Mal hatte sie keine Angst mehr, nach Orm zu gehen.

»Begleite mich eine Weile«, sagte sie. »Auch ich war einmal eine Sklavin. Ich habe keine Familie und kein Heim, ich gehe, wohin ich will. Aber ich weiß, woher du stammst. Ich bin dort vorbeigekommen, als ich das Sandmeer überquerte. Jetzt muss ich nach Terrain, aber dann überquere ich das Meer wieder. Ich nehme dich mit, wenn du willst.«

Das dunkelhäutige Mädchen sah sie an.

»Wie heißt du?«

»Erin«, antwortete die andere. Sie weinte nicht mehr.

»Ich bin Aeriel.« Sie bot Erin ihr letztes Wasser an, und diesmal trank sie. »Warum nanntest du mich ›Geist‹ in dem Obstgarten? «

»Ich sah dich nicht kommen. Du tauchtest plötzlich wie eine Erscheinung auf. Deine Haut war so weiß. Ich hielt dich für den Geist des Obstgartens.«

Aeriel lachte. Das Mädchen stand auf, lehnte sich gegen den Baum. Aeriel wollte Erin helfen, doch sie schüttelte den Kopf. »Ich kann gehen. Die Schnitte sind nicht tief. Er ist viel zu feige, um tief zu schneiden. Aber er hat Salz in die Wunden gerieben, damit sie brennen. Womit hast du sie bestrichen?«

»Mit Ambra.«

»Jetzt brennen sie nicht mehr.«

Sie marschierten weiter durch Zambul, folgten keiner Straße, nur dem Flug des Reihers. Die Hügel waren jetzt bewaldeter. Nicht lange nach ihrer zweiten Rast holten die beiden Gargoyles sie ein. Aeriel umarmte sie und lachte vor Freude und Erleichterung. Mit heraushängenden Zungen umtänzelten sie sie.

Sie sahen abgekämpft, aber unverletzt aus. Aeriel streichelte das geflügelte Tier. Es rieb seinen Kopf an ihrer Hand, und aus seiner Kehle drang ein Ton wie das Summen von Bienen. Sie fütterte es mit der zweiten Aprikose aus ihrem Bündel, hob den Stein auf und sah, wie der Gargoyle sich schnell erholte.

»Katzenschwinge«, murmelte sie und streichelte seine schorfige Haut.

Mit der Zeit wurde die Luft kühler. Wenn Erin und sie schliefen, breitete Aeriel über sie beide ihren Reisemantel. Sie hatten jetzt kein Wasser, denn sie hielten sich von jeder Siedlung fern, aber Erin sammelte saftige Früchte. Außerdem kochten sie frische Eidechsen und Vogeleier auf heißen Ofensteinen, die sehr lange Wärme speicherten. Wenn sie rasteten, erzählte Aeriel Erin Geschichten.

Die Vegetation wurde üppiger, es gab mehr Bäume, Sträucher und Früchte. Die Nacht war fast vorüber, als Aeriel ein leises, plätscherndes Geräusch hörte.

»Was ist das?«, fragte sie und blieb stehen.

Erin, die mit der kleinen Sandlanguste spielte, blickte auf. »Ich höre nichts.«

Aeriel ging ein paar Schritte in den Wald hinein. Das Geräusch war vertraut, doch wusste sie nicht mehr, was es bedeuten könnte. Erin setzte die Sandlanguste auf Aeriels Ärmel zurück. Der weiße Reiher war nirgends zu sehen. Die beiden Gargoyles hoben die Köpfe, sogen prüfend die Luft ein. Auch Aeriel konnte es jetzt riechen.

»Wasser«, murmelte sie. »Fließendes Wasser.«

Die Gargoyles stürmten durchs Unterholz davon. Aeriel drängte sich durchs Gesträuch. Sie hörte vor sich Plätschern und stolperte auf eine Lichtung. Ein kleiner Teich lag vor ihnen, der einen Bach speiste, der zwischen den Bäumen verschwand. Die Gargoyles stürzten sich ins Wasser. Der Reiher landete neben dem Bach.

Die Gargoyles bespritzten sich mit Wasser. Die kleine Sandlanguste versteckte sich in den Falten von Aeriels Gewand. Aeriel legte ihre Sachen an den Waldrand und schlüpfte aus ihren Kleidern. Sie watete in den Teich.

Das Wasser war warm; es dampfte in der kühlen Nachtluft. Die Gargoyles tauchten unter. Der Reiher spießte einen Fisch auf. Auch Erin entledigte sich ihrer Kleider, kniete am Rand des Teichs nieder und schöpfte Wasser mit den Händen. Aeriel ließ sich, auf dem Rücken liegend, vom Wasser tragen. Sein Geschmack war leicht süßlich.

Erin kam in den Teich, und Aeriel bemerkte zum ersten Mal die knabenhafte Figur ihrer Gefährtin. Sie badeten in dem dampfenden Nass und tranken davon.

Plötzlich blickte Aeriel hoch. Die Gargoyles hatten schon längst ihr Bad beendet; der eine lag dösend am Ufer, der andere knabberte an seinem Fell herum. Über dem Plätschern hörte Aeriel ein Geräusch.

Erin, die auf dem Rücken schwamm, öffnete die Augen. »Was war das?«

Das Geräusch war so leise gewesen. Es erklang nicht wieder. Aeriel schüttelte den Kopf. »Nichts. Es muss der Wind in den Bäumen gewesen sein.«

Doch es gab keinen Wind. Die Nacht war ruhig. Erin schloss ihre Augen wieder, aber Aeriel stand lauschend da. Nichts rührte sich. Sie ging aus dem Wasser und ließ sich von der kühlen Luft trocknen. Dann zog sie sich wieder an und spielte auf ihrer Laute.

Ein anderer Laut war zu hören, näher diesmal. Er klang wie das Röhren eines verwundeten Wildes. Dann: nichts. Und plötzlich, viel näher, das Krachen von Ästen. Grauling und Katzenschwinge sprangen auf die Füße. Der Reiher blickte auf. Selbst Erin hatte ihn im Wasser gehört. Sie stellte sich hin.

Ein graues Tier kam aus dem Unterholz gestürzt. Seine Rippen standen hervor, so mager war es; sein Atem hing wie kleine Rauchwölkchen in der Luft. Sein Körper hatte Ähnlichkeit mit einem Kalb; es hatte Hufen und Hörner zierten seinen Schädel.

Zuerst schien es die anderen überhaupt nicht zu sehen. Taumelnd kniete es nieder und schlürfte von dem Wasser. Erst als Aeriel das kupferne Halsband entdeckte, erkannte sie das Tier. »Mondkalb!«, rief sie. Er war der letzte der sechs Gargoyles, den sie gezähmt hatte, der scheueste von allen. Jetzt war er kurz vorm Verhungern, nur noch Haut und Knochen. »Mondkalb«, flüsterte sie.

Das graue Tier schrak zusammen und schnaubte. Erin wich vor ihm zurück. Grauling jaulte. Katzenschwinge stieß einen heiseren Schrei aus, und der glasige Blick des Gargoyles wurde nun klarer.

Aeriel griff in ihr Bündel und hielt Mondkalb eine Aprikose hin. Sie duftete schwer und süß. Mondkalbs Nüstern bebten. Es schwamm durch den Teich, ohne Erin auch nur einen Blick zu gönnen, ging zu Aeriel und legte seinen schweren Kopf in ihren Schoß.

Es aß die Aprikose und schien dann einzuschlafen. Seine grauen Augen schlossen sich; seine Magerkeit schwand. Aeriel verwahrte den Stein und streichelte Mondkalbs Nase. Erin kam aus dem Wasser, starrte auf das neue Tier und auf Aeriel, aber sie schwieg, während sie sich abtrocknete und anzog.

Dann war plötzlich ein anderes Geräusch zu hören: es klang wie Hörnerschall. Mondkalb sprang auf die Füße und floh in den Wald. Geräuschlos folgten ihm Grauling und Katzenschwinge.

Eine Gruppe Reiter kam unter den Bäumen hervor. Ihre Haut war von einem hellen Gelbbraun; ihre Pferde waren schwarz. Fußleute hielten an Leinen gesprenkelte Hunde. Aeriel starrte die Neuankömmlinge an. Sie hatte noch nie Pferde ohne Flügel gesehen.

Der erste Reiter ritt noch ein paar Schritte nach vorn. Er hob eine Hand, bedeutete den anderen zurückzubleiben und den Fußleuten, ihre Hunde zum Schweigen zu bringen. Auf dem Kopf trug er einen Turban wie die Frauen in Isternes.

»Ja, was ist denn das?«, sagte er und blickte Aeriel an. »Diese ganze lange Nacht haben wir den Grauen Stier gejagt, aber jetzt sind wir auf eine ganz andere Beute gestoßen. Mädchen, du musst sehr tapfer sein, da du dich allein in diese Gegend wagst.«

Seine Worte verwunderten sie. »Wieso bin ich allein?«, fragte sie.

Erin kniete halb versteckt hinter Aeriel im Gras. Der Reiter sah sie an. Er lächelte. »Ein unbewaffneter Knabe dürfte dir kaum Schutz gegen Briganten gewähren, Mädchen.«

Erin schwieg. Aeriel sagte: »Ist Zambul ein Land voller Räuber wie Bern? Falls das so ist, bist du der erste, den ich treffe.«

Die Reiter hinter ihm sahen sich vielsagend an, aber ihr Anführer warf nur lachend den Kopf in den Nacken. »Zambul?«, sagte er. »Hältst du dieses Land für Zambul, diese wasserlose Ödnis? «

»Dann sind wir also in Terrain?«, fragte Aeriel überrascht, denn die Wälder hier glichen denen in Terrain überhaupt nicht. Der Reiter lächelte. »Terrain liegt westlich von hier. Du bist zu weit nach Norden abgekommen, wenn du dorthin reisen wolltest. Dies ist Pirs.« Der Reiter zügelte sein unruhiges Pferd. Wieder lachte er. »Und was die Briganten betrifft, Mädchen, das habe ich als Scherz gemeint. In meinem Land gibt es keine.«

Aeriel stand auf. »Kannst du mir dann den Weg nach Terrain sagen? Mehr Umstände möchten wir dir nicht machen.«

Der Jäger antwortete ihr zuerst nicht. Er beugte sich im Sattel vor und sah sie an. »Mein Schloss liegt an dieser Straße«, sagte er. »Es ist nicht weit. Sicher bist du von der Reise müde, Mädchen. Leg eine Rast ein und beehre mein Haus.«

Aeriel betastete ihren Stab. Irgendwann zwischen Mondkalbs Erscheinen und dem Auftauchen der Jäger war der Reiher im Wald verschwunden. Erin stand stumm neben ihr. Aeriel sah den Reiter vor ihr prüfend an, konnte in seinem Gesicht aber nicht lesen.

»Wir begleiten dich«, sagte sie vorsichtig, »wenn du uns die Straße nach Terrain zeigst. Ich muss so schnell wie möglich Orm erreichen.« Sie nahm ihr Bündel auf. »Ich bin Aeriel.«

»Willkommen, Aeriel!«, rief der Reiter und streckte ihr seine Hand hin. »Du reitest mit mir. Nachtwanderer kann ohne Mühe die doppelte Last tragen.«

Noch ehe sie antworten konnte, hatte er sie seitwärts, hinter sich, aufs Pferd gezogen. Das Pferd machte einen Schritt, und Aeriel klammerte sich am Sattel fest, um nicht herunterzufallen.

»Leg deine Arme um mich«, sagte der Jäger.

Stattdessen schwang Aeriel auch das andere Bein über den Pferderücken, so dass sie rittlings saß und sich mit den Beinen festklammern konnte. Der Reiter sah sie über seine Schulter an und lachte dann.

»Wie du willst.« Er befahl seinen Reitern aufzubrechen, aber Aeriel berührte seinen Arm und blickte Erin an. Der Jäger zuckte ungeduldig mit den Schultern. »Dein Junge kann mit den Hunden hinterherkommen.«

Aeriel wollte vom Pferd absteigen. »Erin bleibt bei mir.«

Der Reiter ergriff ihr Handgelenk und sagte um vieles freundlicher: »Bleib, Mädchen.« Er erteilte einem seiner Reiter einen Befehl, der Erin daraufhin hinter sich auf den Pferderücken hob.

»Ich habe dir unsere Namen gesagt«, sprach Aeriel, »willst du uns nicht deinen nennen?«

»Meinen?«, sagte der Jäger und gab seinem Pferd die Sporen. Die anderen Reiter fielen zurück. Aeriel umklammerte ihren Stab und den Sattel. Der Mann lachte. »Ich bin der Fürst«, antwortete er. »Der Fürst von Pirs.«



Aeriel ertrug den Ritt mit zusammengebissenen Zähnen. Schließlich kam das Schloss des Fürsten in Sicht. Es war aus hellem Stein gebaut und glänzte im kühlen Licht von Oceanus. Aeriel erkannte Gärten. Zwischen den Grünflächen standen Brunnen mit Fontänen.

Durch einen Torbogen ritten sie in einen Hof. Sobald der Fürst sein Pferd zum Stehen gebracht hatte, sprang Aeriel auf die Erde. Erst dann sah sie, dass er sich im Sattel umgedreht und ihr seine Hand angeboten hatte.

Dann stieg der Fürst vom Pferd, und obwohl er noch immer lächelte, konnte Aeriel einen harten Zug in seinem Lächeln sehen. Nun gut, dachte sie, denn sie liebte es nicht besonders, wie ein Gepäckstück auf Pferderücken transportiert zu werden.

Erin war auch hinter ihrem Reiter abgestiegen. Der Fürst befahl seinen Jägern mit einem Kopfnicken, sich zu entfernen. Er war groß, das merkte Aeriel jetzt, als er vor ihr stand. Erin, die sich wortlos neben sie gestellt hatte, betrachtete ihn ebenfalls.

Diener mit Tabletts und Bechern erschienen. Aeriel merkte, wie hungrig sie war. Man reichte ihr eine warme, dampfende Schale. Der Fürst leerte die seine mit einem Zug; Aeriel nippte. Die gesalzene Suppe wärmte sie wunderbar. Sie nahm einen Bissen von einem Tablett, sah aber, dass Erin Speise und Trank ablehnte.

Nach kurzer Zeit klatschte der Fürst in die Hände, und die Diener verschwanden. Aeriels Hunger war kaum gestillt, und sie blickte sehnsüchtig hinter den Tabletts her.

Der Fürst sagte: »Komm, mein Gast. Ich weiß, du bist müde, aber lass uns erst in den Gärten spazieren gehen. Hinterher verspreche ich dir ein Willkommensmahl, das deiner würdig ist.«

Der Fürst wanderte mit ihr durch die Gärten seines Schlosses. Nach einer Weile stellte Aeriel mit Unbehagen fest, dass sie von Erin getrennt worden war. Aber so sehr sie auch ihren Schritt verlangsamte, ständig war sie von Höflingen umgeben.

Der Fürst gestattete ihr auch nicht zurückzubleiben. Er führte sie verschlungene Pfade entlang, erzählte ihr die Geschichte des Landes, bis Aeriels Kopf brummte und sie sich fragte, ob er jemals aufhören würde.

Dann führte sie der Fürst aus den Gärten auf eine breite, mit Steinen geflieste Terrasse. Auf dem Boden lagen Kissen und weiße Tischtücher. Kohlebecken und Lampen brannten. Diener trugen kniend Speisen auf.

Es gab Platten mit geröstetem Fleisch, Früchte, Suppe. Brotlaibe nicht größer als eine Faust lagen da, kandierte, mit Nüssen verzierte Früchte und gebackener Fisch, auf Kresse gebettet.

Aeriel war schwindlig vor Hunger. Ihre Beine gaben fast unter ihr nach. Sie merkte kaum, dass der Fürst seine Hand auf ihren Arm legte. Sie kniete und nahm von jeder Speise in ihrer Reichweite.

Erin war nicht da, merkte sie plötzlich, und ihr Unbehagen kehrte zurück. Sie blickte in Richtung des Gartens und glaubte, eine Gestalt bemerkt zu haben. Aeriel runzelte die Stirn. War das Erin, und was hatte sie vor? Niemand sonst schien vom Verschwinden des dunkelhäutigen Mädchens Notiz zu nehmen.

Eine Weile speisten alle schweigend. Erst als Aeriel ihren Hunger gestillt hatte, merkte sie, dass sie seit ihrer Ankunft noch nichts getrunken hatte. Sie sah, dass alle Höflinge Becher hatten. Sie warf dem Fürsten einen Blick zu. Auch er besaß einen Becher, aus dem er trank. Aeriels Kehle fühlte sich trocken an.

Der Fürst bemerkte ihren Blick und schien zusammenzuschrecken. »Wein!«, rief er, dann murmelnd: »Nachlässige Diener.« Lauter: »Wo ist der Wein, den ich für meinen Gast bestellte?«

Ein Diener näherte sich, murmelte etwas ins Ohr seines Herrn. »Kümmere dich darum«, sagte der Fürst. Der Diener eilte fort. Der Fürst wandte sich lächelnd an Aeriel. »Irgendeine Panne in der Küche, nehme ich an.«

Aeriel schwieg, sie fragte sich nur, warum der Fürst nicht einen der leeren Becher nahm und ihn aus einem der Weinkrüge füllte, die herumstanden. Aber sie wartete nicht lange. Der Diener kam wieder und schob einen anderen Dienstboten vor sich her.

»Sei vorsichtig!«, rügte ihn der Fürst, als der Dienstbote beinahe Wein aus dem Krug verschüttet hätte.

»Ich bitte vielmals um Entschuldigung, Herr«, murmelte der Diener und gab dem Dienstboten ein Zeichen, den Becher zu füllen. »Die Kräuterkundigen sagten, sie hätten Schwierigkeiten gehabt …« Auf den Blick des Fürsten hin unterbrach er sich abrupt und stammelte dann weiter: »Mit … Mit den richtigen Gewürzen, Herr.«

Der Bedienstete goss den Wein ein. »Wieso?«, fragte Aeriel. »Habe ich etwa anderen Wein?«

Der Fürst zuckte verärgert die Schultern. »Ach, kann ich denn immer wissen, was meine Diener treiben?«, murmelte er. »Vielleicht wollten sie dir mit einem speziellen Wein eine besondere Ehre erweisen. Kannst du ihr nicht den Becher reichen?«

Feiner Schweiß bedeckte die Stirn des Fürsten. Sie wunderte sich darüber, denn die Nacht war angenehm kühl. Der Fürst starrte sie plötzlich an.

»Deine Augen«, sagte er.

Sie blickte ihn an.

»Sie sind grün.«

Aeriel nickte und wand sich unbehaglich unter seinem direkten Blick. »Ja«, sagte sie.

Der Bedienstete hielt ihr den Becher hin.

»Ich hatte vorher nicht auf die Farbe deiner Augen geachtet.«

»Für diese Farbe kann ich nichts«, antwortete sie. Es war eine seltsame Augenfarbe, das wusste sie. »Sie waren immer so.«

Aeriel wollte nach dem Becher greifen. Die Hand des Fürsten schnellte plötzlich vor und riss dem Bediensteten den Becher aus den Fingern. Ein Spritzer benetzte Aeriels ausgestreckte Hand.

»Dummkopf!«, zischte der Fürst. »Das ist nicht der Wein, den ich dich bat zu bringen.«

»Herr, das ist genau …«, rief der Diener.

»Dann habe ich meinen Entschluss eben geändert«, sagte der Fürst mit böse funkelnden Augen. »Ich möchte nicht, dass an meiner Tafel ein derart junger Wein gereicht wird.«

Er schüttete den Inhalt des Bechers auf die Terrasse. Der Weinkrug folgte mit lautem Scheppern. Die dunkle Flüssigkeit versickerte in den Erdspalten zwischen den quadratischen Steinen, wo Lilien am Rand der Balustrade wuchsen. Mit einer brüsken Geste schickte der Fürst die Dienstboten fort. Er wischte sich die Stirn mit einem leinernen Tuch.

»Hier, trink Wein«, sagte er ein wenig atemlos und schenkte ihr aus seinem eigenen Krug ein. Aeriel wollte protestieren, aber er ließ es nicht zu. Sie sah, wie seine Hand leicht zitterte, als er den Krug hinstellte. »Trink meinen, trink meinen. Ich habe genug.«

Er hob den Becher.

»Siehst du? Das ist alter, ausgezeichneter Wein.« Er nahm einen Schluck, und Aeriel war sich nicht sicher, ob er trank, um sich zu beruhigen oder ihr zu beweisen, dass der Wein gut war. »Hier, nimm den Becher.«

Er drückte ihn ihr in die Hand, zwang sie fast zu trinken. Aeriel trank. Mit großen Schlucken, denn sie hatte bis auf einmal an ihrem Hochzeitstag vor einem halben Jahr noch nie Wein getrunken.

Der Wein des Fürsten war heiß und schmeckte süß. Ihre Müdigkeit kehrte zurück. Da sah sie Erin. Sie kam über die Treppe auf die Terrasse und setzte sich auf ein leeres Kissen.

Aeriel war über die Rückkehr ihrer Gefährtin erleichtert, sie merkte kaum, dass das Gesicht des dunkelhäutigen Mädchens seltsam angespannt war. Erin starrte erst den Fürsten, dann Aeriel an.

Kurz darauf beendete der Fürst das Mahl und ließ die beiden zu ihren Zimmern geleiten. Während des ganzen Weges blieb Erin an Aeriels Seite. Sie wollte sich nicht von ihr trennen, als sie Aeriels Zimmer erreicht hatten.

»Aber mein Herr hat für deinen Jungen andere Räumlichkeiten vorgesehen«, sagte der Kammerdiener.

»Wir teilen diese«, entgegnete Aeriel.

Der alte Mann schien verwirrt. »Aber Herrin, hier gibt es nur ein Bett.«

»Ich bin keine Herrin«, sagte Aeriel, »und das ist mir gleich. Erin bleibt bei mir.«

Der Kammerdiener sah Aeriel an, sie erwiderte seinen Blick. Erin blickte hinunter in die große Halle. Dann schlug der alte Mann die Augen nieder und murmelte: »Wie du wünschst.«

Nachdem der Kammerherr des Fürsten gegangen war, schloss Erin die Tür. Es zog nicht mehr durch die Fenster. Aeriel stellte ihren Wanderstab in eine Ecke. »Warum hast du die Tür geschlossen? «

Erin setzte sich in die Nähe des hohen breiten Fensters, das auf einen Balkon hinausging. »Damit ich mit dir reden kann«, sagte sie.

»Wir können doch sicher auch bei geöffneter Tür reden?«, sagte Aeriel und fächerte sich mit der Hand Luft zu. »Niemand ist in der Nähe.«

»Der Fürst lässt dich von vier Männern bewachen. Hast du das nicht gemerkt?« Aeriel schüttelte den Kopf, er fühlte sich schwer an. »Sie sind unten in der Halle.«

»Wann hat er das veranlasst?«

»Nach dem Festmahl.«

Aeriel setzte sich und zog ihren Reisemantel aus. Der Wein hatte sie erhitzt. »Warum hast du nichts gegessen?«, fragte sie. »Warum hast du dich davongestohlen?«

Erin sah weg. »Ich mag ihn nicht.«

»Wir bleiben nicht lange hier«, sagte Aeriel. »Deine Füße …«

»Meinen Füßen geht es gut«, schnappte Erin.

Aeriel rieb ihren Nacken. »Du hast nichts gegessen.«

»Ich fand Früchte im Garten«, antwortete das dunkelhäutige Mädchen, »und klares Wasser. Ich fand noch etwas anderes im Garten.«

Aeriel blickte auf. »Sprich weiter«, sagte sie. Ihre Lider waren schwer. Erin beobachtete sie.

»Einen Jungen, ungefähr in deinem Alter. Kostbar gekleidet. Einen Höfling. Er schlug mit einem Stock Pflaumen von einem Baum. Er schenkte mir welche.«

Aeriel seufzte. Sie fühlte sich, als würde sie ersticken. Ihre Glieder waren schwer.

»Er sagte, ich soll aufpassen, was ich an der Tafel des Fürsten esse«, sagte das dunkelhäutige Mädchen.

Aeriel war verwirrt. »Warum?«

»Als ich Näheres wissen wollte, zeigte er mir ein getrocknetes Kraut, das er in der Küche gefunden hatte.«

»Es war wohl ein Gewürz«, sagte Aeriel und stützte schwer ihren Kopf in die Hand.

»Nein. Er sagte, dass die Wurzel eine tödliche Droge enthält.« Aeriel legte sich auf das Bett; sie war müde. Der Wein des Fürsten verursachte ihr Kopfschmerzen. Erin redete, doch Aeriel konnte ihr kaum folgen.

»Als er das gesagt hatte, lief ich schnell zu der Festtafel zurück, obwohl der junge Mann überrascht rief: ›Junge, was kümmert’s dich, wenn dein Herr vom Gift meines Onkels trinkt? Das wird dir die Freiheit geben.‹«

»Er hat sowohl dich als auch mich aus der Entfernung für junge Männer gehalten. Er folgte mir nicht. Doch als ich die Terrasse erreichte, sah ich, dass dein Becher noch leer war, und dann warf der Fürst deinen gefüllten Becher fort.«

»Er behauptete, der Wein sei nicht gut«, murmelte Aeriel. Sie konnte die Augen nicht mehr offen halten. Sie war keinen Wein gewöhnt, er machte ihre Gedanken träge. Sie verstand nicht, was Erin sagte, es war ihr auch gleich.

»Er sagte, er habe seine Meinung geändert!«, rief Erin zornig, aber Aeriel hörte sie kaum. Der Wein des Fürsten lähmte ihre Glieder. Schon glitt sie in einen tiefen Schlaf.