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Rache

Wer wird den Vampir töten?«, fragte Aeriel leise. Doch die Vehemenz ihrer Worte überraschte sie. Sie kniete neben den breiten, niedrigen Fenstern des leeren Alkoven, direkt vor dem leeren Zimmer der Färber. Die Nacht draußen war dunkel und still. Sie hatte einen metallischen Geschmack im Mund. Nie hätte sie geglaubt, eine solche Bitterkeit empfinden zu können.

Sie dachte an die langen schlaflosen Stunden nach Sonnenuntergang, als sie die alte Bomba besucht hatte, die wie immer bei den Dienstmägden saß. Die anderen flüsterten über sie oder huschten geräuschlos durchs dunkle Zimmer. Bomba hatte ein kaltes nasses Tuch auf ihre Stirn gelegt. Die Zeit verstrich. Und dann hatte Eoduins Mutter, des Dorfältesten Weib, den Raum betreten. Die Mägde wichen ehrfurchtsvoll vor ihrer Herrin zurück, die sich mit bleichem Gesicht über Aeriel beugte und schrie: »Nun ist sie also wach! Warum hat es mir niemand gesagt? Deinetwegen ist meine Tochter tot, du Miststück!« Das Haar der Frau war wirr, ihre eingefallenen Wangen tränenbedeckt, der magere Leib in Trauerkleidung gehüllt. Ihr Gesicht glich dem Eoduins, es war nur älter. Drohend hielt sie den langen Zeigefinger auf Aeriel gerichtet. »Warum konntest du meine Tochter nicht beschützen? Du hättest dein Leben für das deiner Herrin geben müssen.« Ein Schluchzen erschütterte ihre Brust. »Warum hat der Vampir nicht dich statt meiner Tochter genommen? «

Und dann schlug sie sie plötzlich, so dass Aeriel die Tränen in die Augen schossen. Die Dienerschaft murmelte bestürzt; der Dorfälteste kam kurzatmig ins Zimmer geeilt und zog seine Frau beiseite. »Geh weg da, meine Liebe! Solche Schmerzensausbrüche sind nicht schicklich. Du stellst dich nur vor der Dienerschaft bloß …« Dann beugte sich Bombas mächtiger Körper wieder über Aeriel. Sanft tätschelten ihre Finger Aeriels brennende Wange, begleitet von ihrem monotonen Gemurmel: »Da, da, Kindchen, da, da!«

Vom Alkovenfenster aus starrte Aeriel hinaus in die Nacht. Seit ihrer Genesung ging sie Eoduins Mutter möglichst aus dem Weg. Sie dachte viel an Eoduin, ihre Herrin, der sie treu gedient hatte, fast noch ehe sie laufen gelernt hatte. Lebhaft stand ihr das Bild noch vor Augen: Die kindliche Adelstochter, die zwölf Sommer zuvor mit ihrem Vater den Sklavenmarkt besucht hatte, sich dieses und jenes wünschte und dann auf sie, Aeriel, zeigte, damit ihr Vater sie kaufen solle. Seitdem war Eoduin ihre ständige Gefährtin gewesen, mehr Freundin als Herrin, wenn auch eine stolze und hochfahrende Freundin. Aber ihre einzige Freundin.

Aeriel seufzte bitter. Nun war alles anders. Jetzt, wo seine Tochter tot war, würde der Dorfälteste Aeriel so bald wie möglich verkaufen, sie hatte die Dienerschaft murmeln hören, dass seine Frau es gefordert hätte. Aeriel dachte an den Sklavenmarkt in Orm, an die Gebote und Gegengebote, die Ketten, Gefangenenhütten und Schläge. Hier im Hause des Dorfältesten hatte Eoduin sie immer beschützt.

Man würde sie nach Norden, tiefer ins bergige Inland verkaufen, dessen war sie sich sicher. Hier, am Rande der Ebene, wurden die Leibeigenen meistens rücksichtsvoll behandelt. Im bergigen Kernland dagegen war es schlimmer: Man erzählte sich Schauergeschichten von zu Tode geprügelten und gequälten Sklaven … Der Gedanke daran ließ sie erzittern, Aeriel schloss die Augen vor der Dunkelheit da draußen. Ohne Eoduin kann ich nicht leben, dachte sie. Lieber sterbe ich, als auf dem Sklavenmarkt von Orm verkauft zu werden.

Sie verbot sich, weiter daran zu denken, und wandte sich anderen Dingen zu. Schon sangen die Barden Lieder über die unglückliche Tochter des Dorfältesten, die von dem Vampir geraubt wurde und jetzt seine todgeweihte Braut war. Doch trotz all des Singens, Seufzens und Flüsterns der letzten vierzehn Tage brachte es keiner von Eoduins Freunden oder Verwandten fertig, in die Berge zu gehen und dem Mörder entgegenzutreten. Das ist keine Gerechtigkeit, wütete Aeriel insgeheim und voller Verzweiflung.

Aeriel hielt die große schwarze Feder des Ikarus vor ihr Gesicht, öffnete die Augen und starrte sie an. Ihre glanzlose Finsternis absorbierte das helle, rauchende Lampenlicht. Und die Nacht war dunkler als das schwarze Auge eines Vogels. Nur die weiße Ebene von Avaric leuchtete schwach im bleichen blauen Licht des Oceanus.

»Jemand muss den Vampir töten«, flüsterte sie fast entschuldigend der Feder zu. Ihr Atem ließ die feinen schwarzen Daunen am Federkiel erzittern. »Damit Eoduin gerächt wird.«

»Es gibt keine Vampire«, sagte Dirna freundlich, die ihr als Einzige in dem kleinen Zimmer Gesellschaft leistete. Sie saß hinter Aeriel und kämmte ihr vorsichtig das Haar an den Stellen, wo ihr Kopf noch schmerzte.

»Und was ist das hier?«, fragte Aeriel und drehte sich um. Sie nahm Dirnas Hand und führte die langen ledernen Finger der Alten über den Rand der Feder.

»Ich weiß es nicht«, zischelte Dirna leise. Ihre Stimme klang dünn und scharf, so ganz anders als Bombas tiefer Alt.

»Du weißt es nicht?«, beharrte Aeriel. »Wie fühlt es sich an?« Die Alte seufzte und griff nach dem kleinen Hornkamm, der sich in Aeriels Haaren verfangen hatte. »Zugegeben, Liebes, es sieht aus wie eine Feder, aber es kann keine sein. Vielleicht ist es ein Blatt oder die Blüte einer Hochgebirgspflanze, die bisher noch niemand gesehen hat…«

»Dirna!«, rief Aeriel.

Die Dienerin starrte jedoch unbewegt geradeaus und sagte leise, aber bestimmt: »Es gibt nicht einmal halb so große Vögel. Und wenn, dann sind sie rosa, hellblau oder grünlich. Du aber behauptest, das Wesen da sei schwarz. Es gibt keine schwarzen Vögel.«

»Die Feder stammt von keinem Vogel«, sagte Aeriel geduldig. »Es gibt keine Vampire«, wiederholte Dirna geduldig, »ebenso wenig wie es Schlammbeißer und Wasserhexen gibt.«

Aeriel starrte ins Zimmer und schwieg. So war Dirna immer schon gewesen. Manchmal hatte sie diesen unheimlichen Gesichtsausdruck, wenn sie in der Stimmung war, Geschichten zu erzählen; dann beschwor sie die Wahrheit bei den Mächten der Finsternis. Doch manchmal klärte sich ihr Blick, und sie verhöhnte die anderen wegen ihres Aberglaubens.

Nun schien sie in dieser Stimmung zu sein, und Aeriel verzweifelte. Sosehr sie auch Dirnas unheimliche Geschichten fürchtete, mehr noch bedrückte sie ihre ruhige Gelassenheit. Sie wünschte, Dirna hätte sie nicht hier entdeckt, sondern sie in ihrer nächtlichen Beschaulichkeit hier im Alkoven allein gelassen. Sie fühlte, wie die Alte wieder ihr feines blondes Haar durchkämmte.

»Die Luft ist dünn dort oben auf den Bergen«, sagte die Alte. »Vielleicht hat Übermüdung deinen Blick getäuscht. Vielleicht war es ein Erdrutsch, oder sie stürzte, ich weiß es nicht.« Der Kamm kratzte und zog an Aeriels Haarschopf. Dirna seufzte. »Mach dir keine Sorgen, Liebes. Ich weiß, es war nicht deine Schuld.«

Aeriel versteifte sich und starrte sie an. Die Alte schien zu lauschen, aber Aeriel konnte niemanden entdecken.

Hinter vorgehaltener Hand sagte Dirna leise: »Eoduin zu dienen war sicher nicht einfach.« Und während sie ein paar Haare aus dem Kamm entfernte, fuhr sie fort: »Und doch hat sie dich bewundert, wusstest du das? Wie du beispielsweise die Schläge ihrer Mutter ohne einen Laut einstecktest. Du weißt ja, wie schnell sie in Tränen ausbrach, wenn ihr der Vater mal einen Klaps gab …« Mit den Fingern lockerte Dirna jetzt das Haar, damit es schön fiel. »Ich glaube, sie war sogar ein bisschen eifersüchtig. Kannst du dir das vorstellen, mein Herz, selbst wenn’s dir widerstrebt? Deine Herrin … und eifersüchtig!«

»Was willst du damit sagen?«, fragte Aeriel. Dirnas Worte erstaunten sie. Eoduin sollte eifersüchtig gewesen sein? Und dazu noch auf sie. Unmöglich. »Ich liebte Eoduin.«

»Ich will davon nichts wissen«, zischelte Dirna leise, »dann kann ich auch nichts weitererzählen.« Sie legte die Finger unter Aeriels Kinn und drehte ihren Kopf, bis sie ihr direkt ins Gesicht sah. Dabei senkte sie die Stimme zu einem kaum hörbaren Flüstern. »Alle glauben dir, das musst du wissen, und wenn nicht, dann halten sie den Mund. Auch der Dorfälteste glaubt dir, sonst hätte er die Wahrheit aus dir herausgeprügelt.«

Aeriel fühlte, wie der Kamm ihr Haar teilte.

»Sie sind mit Fackeln ins Gebirge gegangen, sie suchten an der Stelle. Sie fanden aber nichts, doch das ist kein Wunder. Bei Erdlicht und Fackelschein kann man auch nicht richtig sehen.« Der Kamm verhakte sich in Aeriels Haarflut. »Dafür fanden sie noch ein paar von diesen Blättern … oder Federn, was immer es auch sein mag. Das habe ich jedenfalls gehört. Du warst klug, dass du sie überall verstreut hast. Und der Leichnam wird bei Sonnenaufgang schon zu Staub zerfallen sein.«

Dirnas Stimme war zu einem undeutlichen Gemurmel geworden. Dann lachte sie leise, verschwörerisch.

»Du bist viel schlauer, als ich dachte, meine Kleine. Da steckt mehr Verstand in deinem Köpfchen, als du je gezeigt hast. Mir kannst du’s ja sagen. Hast du’s geplant oder die günstige Gelegenheit beim Schopf ergriffen? Bei Sonnenaufgang kannst du mich mit hinaufnehmen, wir sammeln dann die Gebeine ein.«

Aeriel starrte die Alte an. Ihre Kehle schnürte sich zusammen. Plötzlich sehnte sie sich nach Bomba. Sie wünschte, Dirna wäre nie gekommen. »Du wirst keine Knochen finden«, stammelte sie. »Die einzigen Knochen da oben stammen von den Meerestieren, die schon vor ewigen Zeiten gestorben sind.«

Unbeeindruckt kämmte Dirna ihr Haar weiter. »Hab keine Angst«, sagte sie, »du kannst mir vertrauen.« Die Stimme der Alten war voller Mitgefühl. »Ich kenne die Umstände … Die Höhe, ein Schlückchen Blütennektar. Ja, das kann jeden verrückt machen.«

Aeriel wich vor ihr zurück. »Ich habe es nicht getan«, sagte sie. »Du glaubst, ich hätte sie getötet, aber das stimmt nicht. Es war der Vampir. Er hat sie geraubt.«

Dirna schüttelte den Kopf. »Es gibt keinen Vampir, mein Kind.«

»Und es gibt ihn doch!«, schrie Aeriel und biss die Zähne zusammen. Empörung überkam sie: gegen den Ikarus, gegen Eoduins treulose Familie und Freunde, gegen Dirna und ihre heimtückischen Worte. »Es gibt ihn«, wiederholte sie und zerdrückte die Feder in ihrer Hand.

»Nicht doch«, entgegnete Dirna bestimmt. »Nun lass mich dein Haar weiterkämmen!«

»Nein!«, brauste Aeriel auf und trat einen Schritt zurück.

»Alles ist gut«, flüsterte Dirna mitfühlend. »Ich kann verstehen, wie dir zumute ist. Habe ich’s dir noch nicht erzählt? Auch ich habe einst jemanden getötet, der mir lieb und teuer war.«

Aeriel blickte die Alte voller Entsetzen an, einem fast ebenso großen Entsetzen, wie sie es im Gebirge empfunden hatte. Sie erinnerte sich wohl an eine dieser Schauergeschichten, die ihr Dirna heimlich unter vier Augen erzählt hatte. Es war keines dieser kindischen Märchen, wie sie Bomba zum Besten gab. Sie unterschied sich auch von denen, die Dirna gewöhnlich erzählte, denn diese Geschichte, so hatte sie geschworen, war ihr wirklich passiert.

Dirna saß mit dem Kamm vor Aeriel und starrte mit milchigen blinden Augen ins Leere. »Was ist los?«, fragte Dirna und drehte den hocherhobenen Kopf in Aeriels Richtung. »Komm her! «

»Nein«, stieß Aeriel hervor und trat noch einen Schritt zurück. Die Verrückte griff nach ihr. »Komm her. Ich will dein Haar kämmen.«

»Nein!«, schrie Aeriel und floh. Die schwarze Feder entglitt ihrer Hand, als sie durch das leere Färberzimmer und den Webraum, in dem die ganzen Dienerinnen saßen, rannte. Sie stolperte über einen Korb mit gesponnenem Garn, das sich über den staubigen Fußboden verteilte. Sie kam wieder auf die Füße und stürzte, begleitet von den wütenden Schreien der anderen, aus dem Raum.

Sie fand Bomba im Spinnzimmer. Halb eingenickt saß die Greisin in sich zusammengesunken in einer Ecke. Ihre große Knochenspindel war zu Boden gefallen, der feine Wollfaden entglitt ihren schlaffen Fingern. Die anderen Frauen schwatzten und spannen weiter, ohne auf die alte Magd zu achten.

»Bomba!«, rief Aeriel und sank neben ihr nieder. »Bomba.«

Die Alte brabbelte, blinzelte schläfrig und streckte dann die dicken Arme aus, um das verängstigte Mädchen zu liebkosen. »Hm, was gibt’s, Kleine?«, murmelte sie. »Hast du wieder Alpträume? «

»Es ist Dirna«, schluchzte Aeriel. »Sie glaubt … sie sagt …«

Bomba wurde ein wenig wacher und gab missbilligende T-Töne von sich. »Dirna, eh? Geh ihr aus dem Weg, Kind … sie ist eine alte Schwätzerin und ein bisschen übergeschnappt. Weißt du das denn nicht?«

Aeriel vergrub ihr Gesicht an Bombas weichem Busen und weinte. »Ich werde den Vampir töten«, schluchzte sie voller Hass auf den Mörder ihrer geliebten Eoduin. »Ich werde ihn töten! « Ihr ganzer Körper zitterte. Sie dachte wieder an die Worte der Frau des Dorfältesten: »Warum hat der Vampir nicht dich statt Eoduin entführt?« Nun hatten Dirnas Worte ihr noch mehr Schuldgefühle bereitet.

Die alte Magd streichelte sie und strich ihr beruhigend übers Haar. Langsam versiegten Aeriels Tränen. Sie klammerte sich an Bomba und empfand trotzdem keinen Trost. Die Alte seufzte tief auf und versank wieder in Schlummer. Die Frauen spannen weiter. Es ging sie nichts an.



Der Anstieg über die Felsen war steil, und Aeriel war außer Atem, denn sie hatte es eilig. Der Sonnenstern hatte sich kaum über den Rand der Wüste im Westen erhoben, als sie sich von den anderen während der Morgenandacht im Hofe des Dorfältesten davongestohlen hatte. Alle beteten zu den Unbekannten-Namenlosen – Göttern, die mit Feuer vom Himmel herabgestiegen waren, um diese vormals tote Welt, den Mond des Planeten Oceanus, zum Leben zu erwecken. Man wusste nur wenig über sie, und über das Wenige sprach man kaum.

Aeriel beschleunigte ihren Schritt auf dem rutschigen Bergpfad. Niemand hatte sie beim Verlassen des Dorfes bemerkt. Sie trug nur ein langes Messer bei sich, das sie aus der Küche gestohlen hatte, und einen kleinen Sack mit Proviant. Sie wusste nicht, wie lange sie warten musste, bis der Geflügelte kam oder ihr Proviant zu Ende ging und sie sterben müsste. Sicher wird er kommen, dachte sie, ich muss nur lange genug warten. Er muss kommen!

»Hört mich, oh Ihr Unbekannten-Namenlosen«, keuchte sie, während sie hastig den engen ansteigenden Pfad emporeilte. Sie hatte noch nie zuvor gebetet, aber sie hatte den Dorfältesten beten hören, wenn er morgens die Andacht für die Hausgemeinschaft und abends für das ganze Dorf abhielt. »Hört meine Worte«, betete Aeriel. »Lasst Gerechtigkeit walten für den Tod meiner Herrin und Freundin. Niemand von ihrer Familie dürstet nach Rache …«

Ich würde es genauso machen, dachte Aeriel. Sie blieb stehen und rang nach Atem. Ihr schwindelte von der Eile. Gib, dass die Götter mich erhören, um Eoduins willen, ich selbst bin bedeutungslos. Die Unbekannten-Namenlosen erhörten nur selten Gebete, und im Allgemeinen wagten es nur bedeutende Persönlichkeiten, Bitten an sie zu richten. Sie blickte in den Sternenhimmel und hoffte aus ganzem Herzen, kein blauweißer Blitz würde niederfahren, um ihre Anmaßung zum Schweigen zu bringen. Es war nicht Mut, sondern Verzweiflung, die sie zu diesem Aufstieg trieb. Denn schon am nächsten Tagmonat sollte der Sklavenmarkt in Orm stattfinden.

»Höret das Flehen einer nichtswürdigen Sklavin, Ihr Alten Götter«, rief sie in die dünne Luft, »und mir ist gleich, was mit mir geschieht.« Was war ihr Leben noch wert, jetzt, wo Eoduin tot war? »Selbst erneute Sklaverei will ich klaglos ertragen oder mich dem Tempeldienst weihen, oder mein Blut für Euch auf dem Altar vergießen, wenn das Euer Wille ist.«

Diese Zukunftsaussichten erfüllten Aeriel zwar mit Grauen, aber sie zwang sich trotzdem, die Worte auszusprechen. Sicherlich würden die Götter mit einem so abgrundtief Verzweifelten Mitleid haben. Der dunkle unendliche Himmel über ihr wirkte drohend, trotz der glitzernden Sterne. Sie rang nach Luft und spürte, wie ihr Tränen über die Wangen liefen. Zornig wischte sie die Tränen ab, löste sich von der Felswand, an der sie gelehnt hatte, und eilte wieder den Bergpfad hinauf. »Auch ohne Tränen bin ich feige genug«, murmelte sie und schloss die Hand fester um den Griff des Messers. Aber bitte, lasst ihn kommen, betete sie abermals still vor sich hin. Lasst ihn kommen!

Der Sonnenstern stand tief am Sternenhimmel, als Aeriel den Gipfel erreichte. Die Luft war dünn und kalt. Kein Windhauch regte sich. Sie ließ ihren Proviantsack zu Boden gleiten und kauerte sich auf den harten heißen Fels. Langsam stieg die Sonne höher. Die Stellung der Himmelskörper veränderte sich allmählich, nur der Erdplanet hing regungslos gleich einem großen, langsam zwinkernden Auge am Himmel.

Als die Sonne vier Grad weitergewandert war, aß Aeriel eine Handvoll Hirsekörner und nahm einen Schluck Wasser aus der Flasche. Als der Sonnenstern sechs Grad über der Ebene stand, aß sie wieder und stand auf. Ihre Beine waren steif und schmerzten; ein Fuß war eingeschlafen. Sie stapfte auf und ab auf dem bröckelnden Fels, um ihren Kreislauf anzuregen. Dann hockte sie sich wieder hin und wartete; sie döste, aß und wartete. Der Vampir kam nicht.

Die Sonne stand schon sechzehn Stunden am Himmel, als sie entdeckte, dass durch den zerbrochenen Hals der Wasserflasche die Hälfte des Getränks in den trockenen Fels versickert war. Der Sonnenstern war weitere zwölf Grad gewandert, als sie den letzten Tropfen trank und die Flasche fortwarf. Die Sonne stand sechsunddreißig Grad am Himmel, als sie die letzte Handvoll Hirse aß. Ein klebriger, trockener Geschmack im Mund verstärkte ihren ungestillten Hunger noch. Die Sterne wanderten langsam weiter. Ihr Durst und Hunger nahmen zu, bis sie sich so trocken und leer wie ein Schilfrohr fühlte. Der Sonnenstern stand halb im Zenit, als der Vampir erschien.

Er kam von Nordwesten, wie beim ersten Mal, aber jetzt bemerkte sie ihn schon lange vorher. Anfangs glaubte sie, der Hunger trübe ihren Blick. Aber nein. Sie sah aufmerksamer hin und erkannte schließlich, dass dieser Schatten auf den Sternen, der immer größer wurde, keine Sinnestäuschung war. Er war noch weit entfernt, und sie konnte aus dieser Distanz nur das Schlagen seiner Schwingen und den feinen Glanz seiner Kleidung vor der Dunkelheit des Himmels genau erkennen.

Er näherte sich sehr schnell, so wie beim ersten Mal. Aeriel stand auf, sie zitterte ein wenig. Einen Augenblick kämpfte sie gegen den dringenden Wunsch, fortzulaufen, sich zu verstecken, solange er sie noch nicht entdeckt hatte. Nein, lasst ihn vorüberfliegen, betete sie fast. Doch es war zu spät. Jetzt, wo sie in voller Größe aufrecht dastand, war sie nicht zu übersehen. Und der Vampir flog direkt auf sie zu.

Mit beiden Händen hielt sie das Messer vor sich. Er ließ sich auf einem Felsenvorsprung nieder, nur ein paar Schritte von ihr entfernt. Sie spürte die wirbelnde Luft seiner Schwingen und schauderte, blieb aber tapfer stehen. Seine Schwingen ruhten jetzt, waren jedoch noch ausgebreitet. Nun faltete und ordnete er sie so, dass sie seine Gestalt nur wenig und sein Gesicht gar nicht sehen konnte.

»Du hast auf mich gewartet«, sagte er. Seine Stimme war überraschenderweise ruhig, klar und wohlklingend, wie der Ton einer tiefen Glocke. Die dünne Luft schien sie überhaupt nicht zu beeinträchtigen.

»Ja«, sagte Aeriel, und ihre Stimme war nurmehr ein stummes Krächzen. Sie fasste sich. »Ja, ich habe auf dich gewartet«, rief sie kühn und laut und konnte jedoch kaum ihre eigenen Worte verstehen.

»Ich wusste, dass du hier sein würdest, wenn ich wiederkomme«, sagte der Engel der Nacht.

»Dann wärst du besser nicht gekommen«, rief sie. Sie fragte sich, welch abscheuliches Geschöpf sich hinter den Schwingen verbarg.

»Willst du mich etwa töten?«, fragte der Vampir mit ruhiger Stimme. Er schüttelte die Schwingen, öffnete sie jedoch nicht.

Hass wallte in Aeriel auf, und sie schrie ihm entgegen: »Ja, du hast Eoduin geraubt, und ich werde dich dafür töten.«

»Ich machte sie zu meiner Braut«, sagte er. »Das bedeutet eine große Ehre.«

»Es bedeutet den Tod!«, stieß Aeriel voller unbändigem Zorn hervor.

Sie hörte, wie der Vampir hinter seinen Flügeln seufzte. »In gewissem Sinne, ja. Aber das ist nur ein geringer Preis.«

»Und wie viele mussten diesen Preis bisher bezahlen, Ikarus?«, fragte sie. »Wie viele Jungfrauen hast du geraubt und zu deinen Bräuten gemacht?«

Der Engel der Nacht schwieg einen Moment, als müsste er nachdenken.

»Ich glaube, es waren zwölf-und-eine in ebenso vielen Jahren«, sagte er und lachte dann. »Ich bin noch ein junger Vampir.«

Aeriel umspannte den Griff ihres langen Messers noch fester und wollte langsam auf ihn zugehen.

»Halt!«, rief er. Seine Stimme klang plötzlich befehlend und ernst. »Du hast weder die Macht dazu noch den Willen.«

Da öffnete er seine Schwingen, und Aeriel konnte sich vor Staunen nicht mehr regen. Vor ihr stand der schönste Jüngling, den sie je gesehen hatte. Seine Haut schimmerte weiß wie das Licht und erstrahlte mit leichtem Glanz. Seine Augen waren so klar und farblos wie Eis; sein Haar war lang und silbern; und um den Hals trug er eine Kette, an der vierzehn kleine bleierne Phiolen hingen.

Er lächelte sie an, ein grausames Lächeln, das selbst in seiner Grausamkeit noch schön war. Aeriel spürte, wie ihre Knie nachgaben. Der Vampir fing sie im Fallen auf, nahm ihr dabei das Messer ab und zog sie kraftvoll an sich. Sein Körper war kälter als die Nacht, so eisig, dass sie fühlte, wie die Wärme ihres Körpers in seinen strömte, während seine Kälte in sie eindrang. Die Luft um ihn war klirrender Frost und roch schwer und süß wie Nektar. Sie fühlte plötzlich, wie er mit den Flügeln schlug, und merkte, dass sie flogen.

»Wohin bringst du mich?«, versuchte sie zu fragen, aber er hielt sie so eng an sich gepresst, dass sie kaum atmen geschweige denn sprechen konnte. Sie spürte die windlose Stille über der Atmosphäre und fühlte, wie die Schwingen die tödliche Leere peitschten. Wir fliegen wohl unter den Sternen, dachte sie noch, ehe Kälte und luftlose Finsternis ihre Gedanken lähmten, und sie das Bewusstsein verlor.



Zuerst merkte sie, dass sie wieder atmen konnte. Er hatte seinen Griff gelockert. Noch immer war die Atmosphäre dünn, aber sie konnte wenigstens atmen. Die großen Schwingen des Engels der Nacht schlugen unaufhörlich; sie spürte den Auftrieb des Fluges. Und die schreckliche Kälte.

Sie schwebten nieder. Aeriel merkte es am Wechsel seines Flügelschlags, und unten, in der Tiefe hörte sie einen dünnen Klagelaut, ein Jammern, fast ein Schreien. Das Klagen wurde lauter und schrecklicher, je näher sie ihm kamen. Jetzt klang es schrill und heiser, ein Jaulen, Heulen, Kreischen wie hysterisches Gelächter, in dessen Mitte sie sich herabsenkten. Sein Flügelschlag wurde so schnell, dass Aeriel fast die Sinne schwanden. Das Schreien schwoll an. Der Ikarus berührte den Boden, und seine Schwingen ruhten. Er ließ Aeriel los, und sie fiel vor seine Füße wie ein Häufchen Elend.

»Steh auf!«, befahl er.

Aeriel hob den Kopf und blickte sich um. Sie befanden sich auf der Terrasse eines Turms, eines sehr hohen Turms aus kaltem grauen Stein, der tot und stumpf im Licht wirkte. Den Mittelpfeiler umzog eine Wendeltreppe, hoch bis zur Fahnenplattform oberhalb der Turmterrasse. Der Stoff der Fahne musste aus Hexenatem gewoben sein, dachte Aeriel, wie hätte sie in dieser Höhe sonst so leicht in der dünnen Luft wehen können?

Ungeheuer hockten oben auf den Zinnen, magere Geschöpfe im gleichen stumpfen Grau der Steine. Sie starrten Aeriel aus hohlen Augen an und klirrten mit ihren Silberketten. Die meisten hatten Flügel aus Haut oder Federn, und sie leckten ihre Schnäbel oder Zähne mit gespaltenen Zungen. Zwei schritten ruhelos auf ihrem Platz hin und her; andere wimmerten und hackten nach ihren Klauen, putzten ihre Felle, Federn oder ihr Schuppenkleid.

Eines der Untiere schnappte nach Aeriel. Sie wandte sich erschreckt ab und drückte sich enger an den Vampir. Der ging jedoch zu der Öffnung im Boden, von der aus die Stufen der Wendeltreppe nach unten führten.

»Komm!«, sagte er. »Sie werden dir nichts tun, solange ich bei dir bin. Aber alleine solltest du nicht hier hingehen.«

Aeriel sah ihn zum ersten Mal mit vollem Bewusstsein an: sein schönes blutleeres Gesicht, seine farblosen Augen, sein langes silbernes Haar. Noch nie hatte sie ein derart schönes, hellhäutiges und vollkommenes Wesen erblickt. Sie blickte zurück zu den ausgemergelten elenden Ungeheuern. Sie verströmten einen beißenden Geruch, wie Schimmelkäse oder saure Milch. Aeriel konnte sich keine elenderen Geschöpfe vorstellen.

Der Ikarus wartete an der Treppe; jede seiner Bewegungen drückte vollkommene Anmut aus. »Kommst du?«

Aeriel wandte sich ihm zu. »Ich soll deine Braut werden«, sagte sie, ohne zu fragen. Diese Gewissheit überwältigte sie.

Der Engel der Nacht sah sie an und lachte; es war ein langes, spöttisches Gelächter, das die Ungeheuer mit wildem Kreischen quittierten. »Du?«, rief er, und Aeriels Herz zog sich zu einem schmerzhaften Knoten zusammen. »Du … Meine Braut? Bei der Großen Hexe, nein! Du bist viel zu hässlich!«

Aeriel schwieg lange. »Warum hast du mich dann hierhergebracht? «, fragte sie schließlich.

»Du wirst meinen Frauen als Kammerzofe dienen«, sagte er kurz, drehte sich um und begann, die Treppe hinabzusteigen. Aeriel stand auf, folgte ihm jedoch nicht. Die Ungeheuer schrien und zerrten an ihren Fesseln. Der Vampir blieb nach ein paar Schritten stehen und drehte sich zu Aeriel um. »Kommst du jetzt, Mädchen? Was ist mit dir los?«

»Ich werde nie deine Braut sein«, sagte Aeriel.

Der Vampir schnaufte verächtlich. »Und warum, um alles in der Welt, sollte ich dich begehren? Du siehst sicher ein, dass dein Äußeres meiner kaum würdig ist. Schau dich doch einmal an: Deine Haut ist dunkel, und man kann das Blut in deinen Adern sehen. Du bist klein und mager; dein Haar ist gelb, und diese feigengrünen Augen … Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«

Aeriel betrachtete seine makellose weiße Haut, ganz ohne die Spuren blauer Venen, dann sein Haar, das so fein wie Seide war und wie Metall glänzte. Ihre Haut und ihr Haar waren im Vergleich dazu dunkel. Der Ikarus setzte hinzu: »Doch trotz deines scheußlichen Aussehens brachte ich dich hierher, du kannst doch spinnen und weben, nicht wahr? So wirst du meinen Frauen dienen. Bist du denn nicht entzückt darüber?« Als Aeriel schwieg, runzelte der Engel der Nacht die Stirn und verschränkte die Arme vor der Brust. »Mädchen, ich glaube, du weißt die Ehre nicht richtig zu schätzen, die ich dir erweise.«

Da folgte Aeriel ihm schließlich, sein drohender, missbilligender Blick brach ihren Widerstand, und gemeinsam stiegen sie vom Turm hinab in das Burgverlies.

Die Burg war immens, und leer. Der Vampir führte sie durch die Gemächer, alle waren aus kaltem grauen Stein, in nur wenigen befand sich ein Möbelstück: eine Alabasterliege neben Gobelins aus feinster Seide, doch das war schon alles. Und während sich der Ikarus zufrieden umsah, betrachtete Aeriel ihre Umgebung voller Entsetzen. »Ja«, erklärte er, »sie nahmen das meiste mit, als sie fortzogen. Dies war früher ein Königspalast, wusstest du das? Doch der Königssohn starb jung, und sein Vater blieb ohne Erben. Und als er im Sterben lag, kam ich, und das Land hatte niemanden, der es verteidigte. So zog die Königin mit ihrem Volk nach Osten, durch das Sandmeer, auf der Suche nach einem neuen Königreich. Jetzt ist dies mein Palast.«

Aeriel folgte dem Engel der Nacht durch die leeren Gemächer und Hallen. »Hast du viele Bedienstete?«, fragte sie kühn, denn sie fürchtete sich kaum noch vor ihm; er war für sie bedeutungslos geworden.

»Du bist die Einzige«, entgegnete er. »Vor dir hatte ich eine Kammerzofe, aber sie versuchte wegzulaufen. Sie kam auf der Ebene nicht weit. Ich packte sie bei den Haaren und erwürgte sie, dann warf ich sie meinen Ungeheuern zum Fraß vor. Falls du einen Fluchtversuch unternimmst, geschieht dir dasselbe.«

Aeriel nickte. Nach einer Weile murmelte sie schwach: »Und welches wird von nun an mein Zimmer sein, mein Gebieter?«

»Irgendeines. Nimm das, welches dir am besten gefällt.«

»Und wo liegen deine Gemächer, Herr?«, fragte sie weiter.

»Ich habe keine. Nur ein Schlafzimmer dort drüben, aber es ist verschlossen.«

Dabei zeigte er nach rechts. Dort, am Ende eines gewölbten Ganges, sah Aeriel einen Raum, an dessen Ende eine steile Treppe zu einem Absatz führte. Nur kurz erblickte sie eine reich verzierte geschlossene Tür. Dann schritt der Ikarus einen Gewölbegang hinab, und sie konnte ihm nur mit Mühe folgen. Ohne sich umzudrehen, deutete er mit einer Kopfbewegung über die Schulter in Richtung seines Zimmers und sagte: »Ich schlafe nur einmal im Jahr.«

Er führte sie durch Gänge und über Wendeltreppen, durch die unteren Gemächer, den Waschraum, der seit langem leerstand, die Vorratsräume, in denen es keine Vorräte gab, und schließlich in die Küche mit leeren Regalen, wo weder Kräuter noch Zwiebeln zum Trocknen vom Deckenbalken hingen.

»Aber was soll ich denn essen?«, fragte Aeriel erschrocken.

Der Vampir zuckte die Achseln. »Du musst dir deine Nahrung selber suchen. Die andere machte es genauso. Es gibt einen Garten. Vielleicht findest du dort etwas. Ich hingegen, wie du vielleicht weißt, speise nur einmal im Jahr.«

»In deiner Hochzeitsnacht«, sagte Aeriel.

Der Engel der Nacht nestelte an seiner bleiernen Halskette. »Ich habe dir jetzt genug von meinem Schloss gezeigt«, verkündete er plötzlich. »Nun ist es an der Zeit, dass du meine Frauen kennenlernst.«

Er führte sie eine gewundene Treppe hinauf und eine schmale Halle entlang, zu einer kleinen Tür an deren Ende. Sie führte in einen fensterlosen Raum. In diesem lebten die zwölf-und-eine spindeldürren Frauen. Ein paar standen in den Ecken herum oder lehnten gekrümmt an den Wänden. Andere krochen langsam auf Händen und Knien. Eine saß schluchzend da und zupfte an ihren Haaren; eine zweite schritt an der Rückseite des Zimmers auf und ab. Sie alle schrien beim Eintritt des Vampirs laut auf und duckten sich verängstigt.

»Oh ja, sie bieten einen schlimmen Anblick«, sagte er zu Aeriel. »Doch jede von ihnen war eine Schönheit, als ich sie heiratete. Ich glaube, das Klima hier bekommt ihnen nicht. Hört her, ihr Weiber«, sagte er, »diese hier ist eure neue Magd. Ermutigt sie nicht zur Flucht, sonst muss ich sie töten wie die andere.«

Die Frauen starrten Aeriel aus leeren Augenhöhlen an. Ihre eingefallenen Wangen wirkten durchsichtig im Lampenlicht, und die Haut ihrer Gesichter spannte sich so fest, dass Aeriel durch die Lippen den Abdruck ihrer Zähne sehen konnte. Ihre Arme glichen Vogelbeinen, sie bestanden nur aus Haut und Knochen. Sie duckten sich, sie zitterten. Eine jammerte mit hohler Stimme. Ihre Haare wirkten struppig wie ausgedörrtes Schilfgras. Dies sind Gespenster und keine Frauen mehr, dachte Aeriel plötzlich, das sind seelenlose lebende Tote.

»Du musst für sie spinnen und weben«, sagte der Vampir, »… nichts Schweres, verstehst du? Sie sind sehr gebrechlich. Wolle und selbst Seide haben zu viel Gewicht für sie. Es drückt sie herunter, so dass sie nur wie bettelnde Krüppel über den Boden kriechen können. Ich besuche sie nur sehr selten, aber dann erwarte ich, dass sie einigermaßen präsentabel aussehen. «

»Weder Wolle noch Seide«, wiederholte Aeriel, den Blick auf die gespenstischen Gestalten geheftet. »Was soll ich dann weben? «

»Das musst du selbst herausfinden, vielleicht etwas, das im Garten wächst.« Er wandte sich halb ab, so als wollte er gehen. »Welche von ihnen ist Eoduin?«, fragte Aeriel mit fast ersterbender Stimme, da ihr klarwurde, dass eine dieser Kreaturen einst ihre Freundin gewesen war.

Der Engel der Nacht zuckte die Schultern. »Du wirst doch von mir nicht erwarten, dass ich mich erinnere, welche von denen da welche ist?« Damit ließ er sie einfach in der Mitte des Raumes stehen.

Aeriel lief ihm ein paar Schritte nach. »Wohin gehst du, mein Gebieter?«

Er drehte sich um und erwiderte ungeduldig: »Was kümmert’s dich? Du bist nur ein Dienstbote, und ich habe nun genug Zeit mit dir verschwendet.«

»Aber … was soll ich tun, wenn ich dich brauche?«, stammelte sie.

»Weshalb solltest du mich brauchen?«, wollte er wissen. »Deine Pflichten gehen mich nichts an.«

»Aber …«, sagte Aeriel unsicher. »Ich werde ganz alleine sein.«

»Alleine?«, rief der Ikarus. »Du hast zwölf und eine Gebieterinnen. « Mit diesen Worten wandte er sich ab und schritt eilig die Halle hinab. Aeriel blieb allein zurück, in einem fensterlosen Raum, zusammen mit den lebenden Toten.