ZWANZIG
Claire fühlte sich furchtbar, und es gab nichts, was sie dagegen hätte tun können. Steve war tot, und Chris würde entweder kommen oder nicht, und was auch geschah, hier würde schon sehr bald alles in die Luft fliegen. Sie hatte keinerlei Einfluss darauf.
„Sie haben zwei Minuten Zeit, um den Mindestsicherheitsabstand zu erreichen“, informierte sie der Computer höflich, und Claire hielt dem Lautsprecher den gestreckten Mittelfinger entgegen. Wenn es eine Hölle gab, dann wusste sie, was dort in den Fahrstühlen anstelle von Musik gespielt wurde.
Wo sie aus dem Aufzug gestiegen war, befand sich nur ein Jet, und Claire saß auf dem Geländer davor, die Arme fest verschränkt, den starren Blick auf die Lifttüren gerichtet. Sie starrte und wartete. Ihre Angst nahm zu, und ein Teil von ihr war überzeugt, dass er nicht mehr kommen würde – während die Alarmsirenen durch den weitenteils leeren Hangar heulten und sich an den Wänden brachen.
Verlass mich nicht, Chris, dachte sie und schlang die Arme noch fester um sich. Sie dachte an Steve, erinnerte sich des Lachanfalls, noch kurz vor seinem Tod. Wie er sie angesehen hatte, als sei sie verrückt.
Komm schon, Chris, dachte sie, schloss die Augen und wünschte es sich, so sehr sie nur konnte. Sie durfte ihn nicht auch noch verlieren, das würde sie nicht verkraften.
Jetzt blieb noch eine Minute, um den Mindestsicherheitsabstand zu erreichen.
Als das Gebäude unter ihren Füßen zu beben begann, dachte sie, gleich losheulen zu müssen. Aber es kamen keine Tränen. Stattdessen blickte sie wieder auf die Fahrstuhltür, sicher, dass ihr Bruder tot war – so sicher, dass sie zu halluzinieren glaubte, als sich die Tür öffnete und er heraustrat.
„Chris?“, fragte sie, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern, und er rannte auf sie zu, Blutspritzer und irgendetwas anderes über Gesicht und Arme verschmiert. Und da begriff sie, dass er real war. In einer Halluzination hätte sie ihn sich nicht so vorgestellt.
„Chris!“
„Steig ein“, befahl er, und Claire sprang in den zweiten Sitz, glücklich und ängstlich und beunruhigt, einsam und erleichtert. Sie wünschte sich, dass Steve bei ihnen wäre – und war traurig, dass er es nicht war. Sie empfand noch mehr, Dutzende widerstreitende Gefühle, aber im Moment konnte sie sich mit keinem davon auseinandersetzen. Sie verdrängte sie und dachte an gar nichts, verspürte nichts als Hoffnung.
Chris begann Knöpfe zu drücken. Der kleine Jet erwachte brüllend zum Leben. Über ihnen teilte sich die Decke, die Sturmwolken darüber brachen auf, als er die Maschine sanft und scheinbar mühelos aus dem Hangar aufsteigen ließ. Ein paar Sekunden später jagten sie davon und ließen die dem Untergang geweihte Einrichtung hinter sich zurück.
Chris’ Schultern entspannten sich. Er rieb sich mit der Hand über die Stirn und versuchte das sauer riechende Zeug abzuwischen.
„Ich könnte ’ne Dusche vertragen“, sagte er gelassen, und endlich kamen ihr die Tränen, strömten über ihre unteren Wimpern.
Chris, ich dachte, ich hätte dich verloren …
„Lass mich nicht mehr allein, ja?“, bat sie und gab sich alle Mühe, die Tränen aus ihrer Stimme herauszuhalten.
Chris zögerte, und sie wusste sofort, weshalb, wusste, dass es für sie beide noch nicht vorbei war. Das wäre wohl zu viel des Guten gewesen.
„Umbrella“, sagte sie, und Chris nickte.
„Wir müssen diese Sache zu Ende bringen, ein für alle Mal“, erklärte er fest. „Wir müssen, Claire.“
Claire wusste nicht, was sie sagen sollte und entschied sich schließlich, zu schweigen. Als einen Augenblick später die Explosion erfolgte, drehte sie sich nicht danach um. Stattdessen schloss sie die Augen, lehnte sich in ihrem Sitz zurück und hoffte, dass sie nicht träumen würde, wenn sie endlich eingeschlafen war.