ZEHN
Es blieb keine Zeit für Fragen und keine Zeit, sich zu wundern, wie Nemesis sie so schnell hatte finden können. Jill bedeutete dem jungen Burschen, hinter sie zu treten, und wich rückwärts ins Restaurant zurück, als er an ihr vorbeieilte. Verzweifelt schaute sie sich nach etwas um, mit dem sie das Ding lange genug ablenken konnte, um die Flucht zu ergreifen. Sie duckten sich hinter den Bedienungstresen, und Carlos bewegte sich in einer Weise, als besäße er Erfahrung, was solch dramatische Situationen anging. Und er verfügte über zumindest so viel Verstand, um sich still zu verhalten, als der S. T. A. R. S.-Killer brüllend in die Küche stürmte.
Feuer! Das ist es!
Auf einem Servierwagen neben der Theke stand eine tropfende Öllampe. Jill zögerte nicht. Nemesis würde sie innerhalb von Sekunden erreichen, wenn sie nicht augenblicklich handelte, und ein wenig brennendes Öl würde das Ungeheuer vielleicht aufhalten.
Sie bedeutete Carlos dort zu bleiben, wo er war, griff sich die Lampe, stand auf, lehnte sich über den Tresen und bog den Arm nach hinten. Das Monstrum bewegte sich durch die geräumige Küche, als Jill die Lampe in seine Richtung schleuderte. Es bedurfte großer Anstrengung, um die Distanz zu überwinden.
Die Lampe flog … und dann verlangsamte sich alles bis zu einem Beinahe-Stopp; es passierte so vieles, dass Jills Verstand die Ereignisse nur eines nach dem anderen verarbeiten konnte. Die Lampe zerbrach vor den Füßen des Monsters. Glas und Öl spritzten durch die Luft, der Großteil des Inhalts sammelte sich jedoch zu einer Pfütze, einem winzigen See sich rasch ausbreitenden Feuers.
Die Kreatur hob ihre bulligen Fäuste und schrie vor Zorn. Carlos rief etwas und packte Jill an der Hüfte. Er zog sie zu sich herunter, und die unbeholfene Bewegung ließ beide zu Boden stürzen.
Dann gab es eine mächtige Entladung aus grellem Licht und Lärm, wie Jill es schon einmal erlebt hatte, seit sie an diesem Tag aufgestanden war – eine Druckwelle, die gegen ihre Trommelfelle schlug. Carlos versuchte, sie abzuschirmen, hielt ihren Kopf nach unten und keuchte etwas in schnellem Spanisch, während die Zeit wieder zur Normalgeschwindigkeit zurückfand und es ringsum zu brennen begann.
Gott, schon wieder? Bei diesem Tempo fliegt noch die ganze Stadt in die Luft!
Der Gedanke war nur verschwommen, wirr, ihr Verstand immer noch wie benebelt, bis sie sich darauf besann wieder zu atmen. Jill holte tief Luft, schob Carlos’ Arm von sich und stand auf. Sie musste nachsehen, was vorging.
Die Küche war explodiert, rußgeschwärzt – überall lagen Töpfe und Kochgeräte. Jill entdeckte mehrere Kanister, die an der hinteren Wand standen, bei einem von ihnen handelte es sich offenbar um die Quelle der Explosion, die deformierten, zerrissenen Wände des Metallbehälters sahen aus wie gezackte Blütenblätter. Beißender Qualm kräuselte sich empor, und Nemesis lag da wie ein gefällter Riese, seine Kleidung war verschmort und verbrannt. Er rührte sich nicht mehr.
„Nehmen Sie es mir nicht übel, aber sind Sie irre?“, fauchte Carlos und starrte sie an, als sei die Frage rein rhetorisch. „Sie hätten uns beide grillen können!“
Jill ignorierte Carlos und beobachtete stattdessen Nemesis – ihr.357er war immer noch auf die Beine des Monsters gerichtet. Kopf und Oberkörper lagen unter einem niedrigen Regal. Die Explosion war gewaltig gewesen, aber nach allem, was sie durchgemacht hatte, wusste Jill, dass sie sich nicht auf Mutmaßungen verlassen durfte.
Schieß! Schieß, so lange er daliegt, du kriegst vielleicht keine zweite Chance!
Nemesis zuckte, nur ein leichtes Rucken der Finger, das Jill sehen konnte, aber es genügte, sie die Nerven verlieren zu lassen. Sie wollte raus, wollte nur noch weit weg sein, ehe Nemesis sich wieder aufsetzte und die Nachwirkungen der Explosion abschüttelte – was er fraglos tun würde.
„Wir müssen hier raus, los!“, wandte sie sich an Carlos. Jung, gut aussehend und offensichtlich geschockt von der Explosion zögerte er. Doch dann nickte er, sein Sturmgewehr fest an die Brust gepresst. Die Waffe sah aus wie ein M16 – Militär also –, und er trug Kampfkleidung, was ein gutes Zeichen war.
Ich hoffe, es gibt noch mehr von deiner Sorte, dort wo du herkommst, dachte Jill und eilte zur Tür. Carlos blieb direkt hinter ihr. Sie hatte eine Menge Fragen an ihn und war sich bewusst, dass er vermutlich auch ein paar an sie hatte … aber sie konnten anderswo reden. Irgendwo, nur nicht hier.
So bald sie draußen waren, konnte Jill nicht mehr an sich halten. Sie begann zu rennen. Der junge Soldat hielt mit, und so eilten sie durch die kühle Dunkelheit der toten Stadt, während sie sich fragte, ob es noch irgendwo einen Ort gab, der ihnen Sicherheit zu bieten vermochte.
Die Frau, Jill, rannte einen ganzen Block weit, ehe sie langsamer wurde. Sie schien zu wissen, wohin sie mussten, und es war offenkundig, dass sie irgendeine Art von Kampfausbildung genossen hatte; vielleicht war sie Polizistin, auch wenn sie keine Uniform trug. Carlos war ungeheuer neugierig, sparte sich seinen Atem jedoch und konzentrierte sich stattdessen darauf, mit ihr Schritt zu halten.
Vom Restaurant aus rannten sie die Straße hinunter, an dem Theater vorbei, das Trent erwähnt hatte, und bogen am Ende des Blocks an einem Zierbrunnen rechts ab. Einen halben Block weiter deutete Jill auf eine Tür zu ihrer Linken und gab ihm zu verstehen, dass sie einen Standardvorstoß vorhatte. Carlos nickte und nahm mit erhobenem Gewehr an einer Seite der Tür Aufstellung.
Jill drehte am Knauf, zog die Tür auf, und Carlos trat ein, bereit, auf alles zu schießen, was sich bewegte. Jill gab ihm Deckung. Sie befanden sich in einer Art Lagerhaus, am Ende eines Ganges, der fünfzehn Meter weiter an einer T-Kreuzung endete. Die Luft schien rein zu sein.
„Sollte alles okay sein“, sagte Jill leise. „Ich bin diesen Weg erst vor ein paar Minuten gegangen.“
„Aber Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste, richtig?“, erwiderte Carlos. Er hielt das Gewehr weiter im Anschlag, spürte aber, wie etwas von der Anspannung aus seinem Körper wich. Sie war definitiv ein Profi.
Sie betraten das Lagerhaus und überprüften es sorgfältig, ehe sie ein weiteres Wort sprachen. Drinnen war es kalt und nicht sonderlich gut beleuchtet, aber es roch nicht so übel wie der überwiegende Teil der Stadt, und wenn sie erst die T-Kreuzung erreicht hatten, würden sie alles, was auf sie zukam, sehen können – lange bevor es sie erreichte. Insgesamt schien es ihm der sicherste Ort zu sein, an dem er sich aufgehalten hatte, seitdem er aus dem Hubschrauber gestiegen war.
„Ich möchte Sie gern etwas fragen, wenn es Ihnen nichts ausmacht“, sagte Jill. Sie widmete ihm endlich ihre ungeteilte Aufmerksamkeit.
Carlos öffnete den Mund, und die Worte sprudelten einfach hervor. „Sie wollen mich fragen, ob ich mit Ihnen ausgehe, stimmt’s? Es liegt am Akzent, die Mädels stehen auf meinen Akzent. Man hört ihn und kommt einfach nicht dagegen an.“
Jill starrte ihn aus großen Augen an, und einen Moment lang dachte er, einen Fehler begangen zu haben und sie seine Flachserei nicht als solche erkannte. Es war eine dumme Idee, unter den herrschenden Gegebenheiten herumzualbern. Doch gerade als er ansetzen wollte, sich zu entschuldigen, hob sich einer ihrer Mundwinkel um eine Winzigkeit.
„Ich dachte, Sie hätten behauptet, Sie seien kein Zombie“, sagte sie. „Aber wenn das alles ist, was Sie zustande bringen, sollten wir Ihre Situation vielleicht neu überdenken.“
Carlos grinste, froh über ihre schlagfertige Antwort, und plötzlich fiel ihm Randy ein – wie sie herumgeblödelt hatten, kurz bevor sie in Raccoon gelandet waren. Sein Lächeln verging, und er sah, wie auch aus ihrem Gesicht das belustigte Strahlen schwand, als sei ihr ebenfalls wieder bewusst geworden, wo sie sich befanden und was passiert war.
Als sie weitersprach, war ihr Ton um einiges kühler. „Sind Sie derselbe Carlos, der vor etwa einer Stunde oder anderthalb einen Funkspruch abgesetzt hat.“
„Sie haben ihn gehört?“, fragte Carlos überrascht. „Als niemand antwortete, dachte ich …“
Seien Sie vorsichtig, wem Sie trauen. Trents Worte gingen ihm durch den Kopf und gemahnten ihn daran, dass er nichts über Jill Valentine wusste. Er verstummte und hob die Schultern.
„Ich hörte nur einen Teil davon und konnte von meinem Standort aus nicht senden“, erklärte Jill. „Sie sagten etwas von einem Zug, oder? Sind noch andere … äh, Soldaten hier?“
Halt dich ans Unverfängliche – und kein Wort über Trent. „Es waren noch andere da, aber ich glaube, Sie sind inzwischen alle tot. Die ganze Operation war von Anfang an eine Katastrophe.“
„Was ist passiert?“, fragte sie und musterte ihn aufmerksam. „Und zu wem gehören Sie überhaupt, zur Nationalgarde? Schickt man Verstärkung?“
Carlos fragte sich, wie vorsichtig er bei ihr sein musste. „Keine Verstärkung, glaube ich jedenfalls. Das heißt, ich bin sicher, dass man irgendwann jemanden hereinschicken wird, aber ich bin neu bei dem Verein. Ich weiß eigentlich gar nichts – wir landeten, die Zombies griffen an. Vielleicht sind ein paar der anderen Jungs davongekommen, aber soweit ich weiß, sehen Sie in mir das letzte überlebende Mitglied des U. B. C. S. vor sich. Das steht für Umbrella Bio-Hazard Countermea …“
Sie schnitt ihm das Wort an. Der Ausdruck in ihrem Gesicht grenzte an Ekel. „Sie gehören zu Umbrella?“
Carlos nickte. „Ja. Man hat uns hergeschickt, um die Zivilisten zu retten.“ Er wollte noch mehr hinzufügen, wollte ihr erzählen, was er vermutete – irgendetwas, das diesen Ausdruck in ihrem Gesicht änderte, der ihn anklagte, als wäre er ein Vergewaltiger oder noch Schlimmeres – aber Trents Rat war noch allgegenwärtig. Er entschied, auf der Hut zu sein.
Jills Lippen verzogen sich. „Wie wär’s, wenn Sie sich den Scheiß sparen? Umbrella ist verantwortlich für das, was hier geschehen ist – als ob Sie das nicht wüssten! Also lassen Sie die Lügerei. Was tun Sie wirklich hier? Sagen Sie mir die Wahrheit, Carlos, falls das Ihr Name ist.“
Sie war definitiv sauer, und Carlos empfand einen Moment lang Unsicherheit. Er fragte sich, ob sie eine Verbündete war, jemand, der tatsächlich die Wahrheit über Umbrella kannte – aber es konnte ebenso gut eine Falle sein.
Vielleicht arbeitet sie für Umbrella und versucht, mich aus der Reserve zu locken, herauszufinden, wie es um meine Loyalität bestellt ist …
Carlos ließ einen Hauch von Zorn in seinen Ton einfließen. „Ich bin neu bei der Truppe, wie ich schon sagte. Ich bin – wir alle sind Söldner. Keine Politiker, kapiert? Man hat uns einen Scheißdreck gesagt. Und im Augenblick interessiert es mich nicht, wofür Umbrella verantwortlich ist und wofür nicht. Wenn ich jemanden sehe, der Hilfe braucht, dann tu ich meinen Job, aber ansonsten will ich nur hier raus!“
Er sah sie an, entschlossen, seine Rolle weiterzuspielen. „Und wenn wir gerade von wer, was und warum reden – was tun Sie eigentlich hier?“, schnappte er. „Was hatten Sie in diesem Restaurant zu suchen? Und was war das für ein Ding, das Sie dort hochgejagt haben?“
Jill hielt seinem Blick noch eine Sekunde lang stand, dann seufzte sie: „Ich versuche auch, hier rauszukommen. Dieses Ding ist eins von Umbrellas Monstern. Es jagt mich, und ich bezweifle sehr, dass es tot ist – und das heißt, dass ich nicht in Sicherheit bin. Ich glaubte, dass dort ein … nun, ich suchte nach einer Art Schlüssel. Ich dachte, er könnte im Restaurant sein.“
„Was für ein Schlüssel?“, fragte Carlos, aber irgendwie glaubte er, dass er es bereits wusste.
„Es ist dieser Edelstein, ein Teil vom Schließmechanismus am Rathaustor. Genau genommen sind es zwei Edelsteine, aber einen davon habe ich schon. Wenn ich den anderen finde und das Tor öffnen kann, gibt es einen Weg aus der Stadt – eine Straßenbahn, deren Schienen nach Westen verlaufen, in die Randbezirke.“
Carlos’ Miene blieb ausdruckslos, aber hinter der Fassade sah es anders aus. Was hatte Trent gesagt? ‚Gehen Sie nach Westen.‘ Und wenn ich herausfände, wo der blaue Edelstein ist, würde ich die Bedeutung der Steine verstehen … Aber was sagt mir das über Jill Valentine? Trau ich ihr jetzt oder nicht? Was weiß sie?
„Ohne Scheiß“, sagte er in ruhigem Ton, „ich habe so etwas gesehen, im Keller des Restaurants. Einen grünen Edelstein.“
Jills Augen wurden groß. „Wirklich? Wenn wir den holen können … Carlos, wir müssen zurück!“
„Falls das mein Name ist“, erwiderte er, irgendwo zwischen Verwirrung und Belustigung gefangen. Sie schien von Stimmung zu Stimmung zu springen, erst brüsk, dann zu Scherzen aufgelegt, dann wütend, dann aufgeregt … Auf Dauer war das etwas ermüdend, und er war immer noch nicht sicher, ob er ihr den Rücken zukehren konnte. Sie wirkte ehrlich, aber war sie es auch?
„Tut mir Leid“, sagte sie und berührte ihn leicht am Arm. „Das hätte ich nicht sagen sollen, es ist nur – ich stehe mit Umbrella nicht gerade auf gutem Fuß. In einem ihrer Labors hier gab es einen Biohazard-Zwischenfall, vor etwa sechs Wochen. Menschen starben. Und jetzt das.“
Carlos Vorbehalte schmolzen ein wenig unter der Wärme ihrer Hand. Herrgott, was war er nur ein Trottel – aber sie war mehr als attraktiv …
„Carlos Oliveira“, sagte er, „zu Ihren Diensten.“
Langsam, Junge. Trent sagt zwar, verschwinde aus der Stadt, aber willst du mit jemandem unterwegs sein, der dich am Ende vielleicht umbringt? Klär erst mal deinen Kopf, bevor du dich mit der cuero Miss Valentine davonmachst.
Der Zwiespalt, in dem er sich befand, machte ihm zunehmend mehr zu schaffen. Klar muss ich vorsichtig sein, aber soll ich sie ganz allein hier zurücklassen? Sie sagte, dieses Monster sei hinter ihr her …
Manchmal machte er zwar Witze darüber, aber er war nicht wirklich ein Sexist. Sie konnte auf sich selbst aufpassen, wie sie bereits bewiesen hatte. Und wenn sie zu Umbrellas Spionen gehörte … nun, dann verdiente sie, was sie bekam, oder?
„Mir – mir wäre nicht wohl, wenn ich verschwinden würde, ohne zumindest versucht zu haben, ein paar der anderen zu finden“, sagte er, und jetzt, da er wusste, dass es einen Ausweg gab, wurde ihm bewusst, dass es stimmte. Noch vor einer Stunde wäre der Gedanke lächerlich gewesen – nun aber, mit Trents Information ausgerüstet, hatte sich alles verändert. Er hatte immer noch Angst, sicher, aber allein die Tatsache, dass er etwas über die Situation wusste, ließ ihn sich irgendwie weniger verletzlich fühlen. Trotz der Gefahren wollte er noch ein paar Blocks weitergehen. Ehe er die Stadt verließ, wollte er versuchen, irgendjemandem zu helfen. Er wollte Zeit zum Nachdenken, um sich zu entscheiden.
Das … und zu wissen, dass sie überlebt hat, bedeutet, dass ich es auch kann.
„Ich habe das Tor gesehen, von dem Sie sprachen, das drüben beim Zeitungsgebäude, si? Warum treffen wir uns nicht dort … oder besser noch an dieser Straßenbahn?“
Jill runzelte die Stirn, dann nickte sie. „Okay. Ich gehe zurück zum Restaurant, so lange Sie sich umschauen, und ich werde an der Bahn auf Sie warten. Wenn Sie durch das Tor gegangen sind, folgen Sie einfach dem Weg und halten sich links, dann sehen Sie Hinweisschilder auf Lonsdale Yard.“
Ein paar Sekunden lang schwiegen sie beide, und Carlos erkannte an der Art und Weise, wie sie ihn sorgfältig musterte, dass Jill ebenfalls ihre Zweifel an ihm hatte. Ihr Argwohn stärkte sein Vertrauen in sie ein wenig; wenn sie gegen Umbrella war, dann war es nur zu verständlich, dass sie nicht allzu sehr darauf brannte, sich mit einem von Umbrellas Mitarbeitern abzugeben.
Hör auf zu debattieren und geh einfach – Herrgott noch mal!
„Verschwinden Sie nicht ohne mich“, sagte Carlos und bemühte sich, es leichthin klingen zu lassen. Aber er hörte sich, wie er fand, todernst an.
„Lassen Sie mich nicht zu lange warten“, erwiderte sie lächelnd. Und er dachte, dass sie vielleicht doch in Ordnung war. Dann drehte sie sich um und ging davon, den Weg zurück, auf dem sie gekommen waren.
Carlos sah zu, wie sie verschwand. Er fragte sich, ob er verrückt war, dass er nicht mit ihr ging – dann wandte er sich brüsk um und bewegte sich rasch in Richtung des anderen Ausgangs, bevor er seine Meinung ändern konnte.
Für jemanden, der blutete wie ein abgestochenes Schwein, war Mikhail noch erstaunlich flink. Seit mindestens zwanzig Minuten folgte Nicholai der Spur aus dunklen Tropfen durch eine Straßenblockade hindurch, über Kies und Asphalt, Gras und Geröll, und noch immer hatte er den sterbenden Mann nicht gefunden.
Vielleicht ist sterbend in Anbetracht dessen auch deutlich zu viel gesagt …
Nicholai hatte aufgeben wollen, wenn er den Zugführer nicht innerhalb einer überschaubaren Zeit fand, aber je länger er suchte, desto entschlossener wurde er, nicht abzulassen. Er merkte auch, wie er wütend wurde – wie konnte Mikhail es wagen, vor seiner Strafe davonzulaufen? Für wen hielt er sich denn, dass er Nicholais kostbare Zeit verschwendete? Um ihn noch mehr aufzubringen, hatte Mikhail eine ziemliche Strecke zurückgelegt und führte ihn zurück in die Stadt. Noch ein Block, und er war wieder am RPD-Gebäude.
Nicholai öffnete eine weitere Tür, durchforstete einen weiteren Raum und seufzte. Mikhail musste wissen, dass er verfolgt wurde – oder er hatte einfach nicht genug Grips, um sich hinzulegen und zu sterben. Wie auch immer, es würde … es konnte jetzt nicht mehr lange dauern.
Nicholai ging durch ein kleines, aufgeräumtes Büro, das offenbar mit dem Parkhaus verbunden war. Im Licht der in Drahtgeflechten unter der Decke steckenden Glühbirnen schimmerte die unregelmäßige Blutspur purpurn auf dem blauen Linoleum. Die Spritzer schienen feiner zu werden; entweder blutete Mikhail allmählich aus – was unwahrscheinlich war –, oder er hatte Zeit gefunden, seine Wunde zu versorgen.
Nicholai knirschte mit den Zähnen und redete sich zu: Er ist schwach, er wird langsamer, sucht vielleicht nach einem Platz zum Ausruhen. Ich habe den Treffer gesehen, er kann nicht mehr lange durchhalten.
Er trat hinaus in die dunkle, höhlenartige Garage. In der kalten Luft hing der Geruch von Benzin und Öl – und etwas anderem. Er blieb stehen und atmete tief ein. Hier war vor kurzem eine Waffe abgefeuert worden, er war sicher.
Schnell und leise bewegte er sich über den Beton, schob sich um einen weißen Van, der eine der Autoreihen blockierte, und sah etwas, das ein Hund zu sein schien. Er lag hingestreckt in einer Blutlache, sein merkwürdiger Leib war in fötaler Haltung gekrümmt.
Nicholai eilte darauf zu, angewidert und gespannt zugleich. Man hatte ihn vor den Hunden gewarnt, wie schnell sie infiziert wurden, und er wusste, dass man auf dem Spencer-Anwesen ihre Eignung als Waffe erforscht hatte …
… aber man hielt sie für zu gefährlich, als sie sich gegen ihre Betreuer wandten. Für untrainierbar. Und ihre Verwesungsgeschwindigkeit war höher als die anderer Geschöpfe.
Weiß Gott, das halb gehäutete Tier zu seinen Füßen sah aus und stank wie rohes Fleisch, das zu lange in der Sonne gelegen hatte. Obwohl er den Tod gewohnt war, spürte Nicholai doch, wie ihm Übelkeit in der Kehle hochstieg. Dennoch musterte er die Kreatur weiter und kam zu dem Schluss, dass der Hund unlängst Opfer einer Schießerei geworden war.
Kein Zweifel, zwei Einschusswunden unter dem zerfetzten linken Ohr … aber nicht von einem M16, dafür waren die Löcher viel zu groß. Nicholai wich mit gerunzelter Stirn zurück. In der letzten halben Stunde war außer Mikhail Victor noch jemand durch das Parkhaus gekommen und vermutlich war es kein U. B. C. S.-Soldat gewesen, es sei denn, er hätte seine eigene Waffe mitgebracht, wahrscheinlich eine Faustfeuerwaffe …
Nicholai hörte etwas. Sein Kopf ruckte hoch, seine Aufmerksamkeit richtete sich auf die Ausgangstür – vor ihm, auf zwei Uhr. Ein leises gleitendes Geräusch, vielleicht ein infizierter Mensch, der an der Tür entlang strich. Oder ein Verletzter, der sterbend vor dem Ausgang zusammengesunken und zu erschöpft war, um sich weiterzuschleppen.
Hoffnungsvoll bewegte sich Nicholai auf die Tür zu – und grinste, als er Mikhails Stimme hörte, die müde und schwach über das altersschwache Metall strich.
„Nein … hau ab!“
Ungeduldig drückte Nicholai die Tür auf und verdrängte das Lächeln aus dem Gesicht. Er taxierte die Lage. Ein großer Schrottplatz, umzäunt, Fahrzeuge zu nutzlosen Barrikaden aufgetürmt, zwei weitere tote Hunde schlaff auf dem kalten Boden.
Mikhail lag neben der Garagentür, halb gegen die Wand gelehnt und verzweifelt bemüht, das Gewehr zu heben. Sein blasses Gesicht war schweißbedeckt, und seine Hände zitterten wie verrückt. Fünf Meter entfernt zog sich ein halber Mensch auf abgeschürften Fingerspitzen auf den Mann am Boden zu. Das vor Fäulnis geschlechtslos gewordene Gesicht war zu einem boshaften Dauergrinsen verzerrt. Die Kreatur kam quälend langsam, aber scheinbar unaufhaltsam voran. Dass der Träger keinen Unterleib mehr hatte – und mit Sicherheit kein intaktes Verdauungssystem –, hielt ihn offenbar nicht davon ab, fressen zu wollen.
Mime ich jetzt den Helden und rette meinen Führer davor, zu Tode geknabbert zu werden? Oder genieße ich die Show?
„Nicholai, hilf mir, bitte …“, keuchte Mikhail. Er legte den Kopf nach hinten und sah zu ihm hoch. Und Nicholai stellte fest, dass er nicht widerstehen konnte. Die Vorstellung, dass Mikhail ihm dankbar sein würde, weil er ihm das Leben rettete, erschien ihm außerordentlich …komisch. Ein besseres Wort fiel ihm nicht dafür ein.
„Halt durch, Mikhail“, sagte Nicholai energisch, „ich kümmer mich drum!“
Er sprintete vor und sprang. Er rammte den Stiefelabsatz in den Schädel des Infizierten und verzog das Gesicht zur Grimasse, als sich ein großer Teil des verfilzten Haares mitsamt der Kopfhaut feucht vom Knochen löste. Er trat abermals zu und ein drittes Mal, und der ehemalige Mensch starb mit einem dumpfen, splitternden Laut. Seine Arme und seine zerfransten Fingerspitzen zuckten kurz auf dem Asphalt.
Nicholai drehte sich um, eilte zurück und ging neben Mikhail in die Hocke.
„Was ist passiert?“, fragte er. Seine Stimme klang voller Sorge, während er auf Mikhails blutigen Bauch hinabsah. „Hat dich einer von denen erwischt?“
Mikhail schüttelte den Kopf und schloss die Augen, als sei er zu erschöpft, um sie offen zu halten. „Jemand hat auf mich geschossen.“
„Wer? Warum?“ Nicholai gab sich alle Mühe, entsetzt zu klingen.
„Ich weiß nicht wer und warum. Ich dachte auch, dass mir jemand folgt – vielleicht haben sie mich ja nur für einen von denen gehalten, für einen dieser Zombies.“
Das ist gar nicht mal so weit von der Wahrheit entfernt … Nicholai musste sich ein weiteres Mal ein Grinsen verkneifen und war überzeugt, dass er einen Preis für seine darstellerische Leistung verdient hätte.
„Ich sah … ein paar Männer entkommen“, flüsterte Mikhail. „Wenn wir es zur Evak-Stelle schaffen, den Transporter rufen …“
Der Uhrenturm von St. Michael war der vereinbarte Evakuierungsort. Dorthin sollten die Soldaten die überlebenden Zivilisten bringen. Nicholai kannte die Wahrheit – dass erst ein als Notfallsanitäter verkleideter Spähtrupp landen und keine weiteren Hubschrauber auftauchen würden, es sei denn, Umbrella gab den Befehl dazu. Da die Truppführer wahrscheinlich alle tot waren, musste Nicholai sich fragen, ob irgendeiner der Soldaten überhaupt von der „Evakuierung“ wusste. Aber er nahm an, dass es unwichtig war. Es würde seine Pläne ohnedies nicht beeinflussen.
Er stellte fest, dass er dieses Spiel nicht so sehr genoss, wie er geglaubt hatte. Mikhails Vertrauen war zu lächerlich. Das Ganze war so herausfordernd wie die Jagd auf einen zahmen Hund. Es war auch beinahe beschämend, dabei zuzusehen, wie er sich seinen Schmerzen hingab …
„Ich glaube nicht, dass du in der Verfassung bist, diesen Weg auf dich zu nehmen“, sagte Nicholai kühl.
„Es ist nicht so schlimm. Tut höllisch weh, und ich hab einiges an Blut verloren. Aber wenn ich nur wieder zu Atem komme, mich ein paar Minuten ausruhe …“
„Nein, es sieht sehr schlimm aus“, sagte Nicholai. „Tödlich. Ich glaube sogar …“
Quuiieetsch.
Nicholai verstummte, als sich neben ihnen die Tür zur Garage öffnete – eine langsame, gleichmäßige Bewegung – und einer der U. B. C. S.-Soldaten heraustrat, dessen Augen sich aufhellten, als er sie erblickte, und der daraufhin sein Sturmgewehr senkte – aber nur ein ganz klein wenig.
„Sirs! Corporal Carlos Oliveira, Trupp A, Delta-Zug. Ich bin … Scheiße, es tut so gut, euch Jungs zu sehen!“
Nicholai nickte knapp. Er war über alle Maßen angesäuert, als Carlos sich neben Mikhail niederkniete und dessen Wunde untersuchte – und dumme Fragen stellte. Nicholai war sich zu neunundneunzig Prozent sicher, dass er sie beide töten könnte, noch ehe sie begriffen, was geschah. Aber selbst ein einziges Prozent bedeutete ein zu großes Risiko angesichts dessen, was auf dem Spiel stand. Er würde warten müssen … Vielleicht fand er ja einen Weg, die neuen Umstände zu seinem Vorteil zu nutzen.
Und wenn nicht … nun, Menschen wandten sich überall auf der Welt aus allen erdenklichen Gründen gegen ihre Freunde, nicht wahr? Und keiner von beiden hatte Grund zur Annahme, dass Nicholai etwas anderes war als ein Freund …
Wie sagte man noch gleich? Dass Hindernisse nur verkleidete Möglichkeiten seien – oder? So gesehen war alles in bester Ordnung.