DREI
So furchtbar und bedrückend die Verheerung Rockforts auch war, wollte Alfred doch nicht leugnen, dass es ihm Freude bereitete, ein paar seiner Untergegebenen auf dem Weg zum Hauptkontrollraum der Trainingseinrichtung zu töten. Er hatte ja keine Ahnung gehabt, wie befriedigend es sein konnte, sie krank und im Sterben begriffen anzutreffen. Sie hatten hungrig nach ihm zu greifen versucht – dieselben Männer, die ihn hinter seinem Rücken verspottet, die ihn abnorm genannt und ihm mit überkreuzten Fingern Loyalität geschworen hatten … und deren Lebensflamme nun durch seine Hand zum Verlöschen gebracht wurde. Es gab überall in der Anlage Abhörgeräte und versteckte Kameras, die sein paranoider Vater installiert hatte, außerdem einen geheimen Überwachungsraum in der Privatresidenz. Alfred hatte die ganze Zeit über gewusst, dass er nicht wohlgelitten war, dass ihn die Umbrella-Angestellten zwar fürchteten, aber nicht so respektierten, wie er es verdiente.
Und jetzt …
Jetzt kam es darauf nicht mehr an, dachte er lächelnd und trat aus dem Aufzug. Am anderen Ende des Ganges entdeckte er John Barton, der mit ausgestreckten Armen auf ihn zuwankte. Barton war für die Waffenausbildung von Umbrellas großer, im Entstehen begriffener Miliz zuständig gewesen, zumindest auf Rockfort, und er war ein aufdringlicher, ordinärer Barbar … gewesen. War mit seinen billigen Zigarren herumstolziert, hatte seine albern dicken Muskeln spielen lassen – immer verschwitzt, immer lachend. Die bleiche, blutgetränkte Gestalt, die nun auf Alfred zustolperte, wies zwar nur noch eine geringe Ähnlichkeit auf, war aber zweifellos genau dieser Mann.
„Sie lachen ja gar nicht mehr, Mister Barton“, sagte Alfred beschwingt, hob sein.22er Gewehr und setzte mittels der Zielvorrichtung einen winzigen roten Punkt über das blutunterlaufene linke Auge des Ausbilders. Der geifernde, stöhnende Barton nahm keine Notiz davon …
Bamm!
… obwohl er Alfreds ausgezeichnete Zielsicherheit und seine Wahl der Munition sicher begrüßt hätte. Das Gewehr war mit so genannten Safety Slugs geladen, Geschossen, die sich beim Aufprall ausdehnten; als „sicher“ wurden sie bezeichnet, weil die Kugeln ihr Ziel nicht durchschlugen und somit keine umstehenden Personen verletzen konnten. Alfreds Schuss zerstörte Bartons Auge und mit Sicherheit einen großen Teil des Gehirns. Er würde keine Dummheiten mehr machen. Der hochgewachsene Mann stürzte zu Boden, unter ihm breitete sich eine Blutlache aus.
Einige der bio-organischen Waffen bereiteten Alfred Unbehagen, und er war erleichtert, dass die meisten von ihnen entweder in verschiedenen Bereichen der Trainingseinrichtung eingeschlossen, zum Teil auch getötet worden waren – er würde ganz bestimmt nicht hier herumspazieren, hätten sich mehr als nur ein paar von ihnen noch auf freiem Fuß befunden.
Die Virusträger hingegen fand er nicht sonderlich Furcht erregend. Alfred hatte viele Männer – und auch eine Anzahl von Frauen – gesehen, die sich unter dem Einfluss des T-Virus in zombieähnliche Kreaturen verwandelt hatten; Experimente, denen er während seiner Kindheit beigewohnt und die er als Erwachsener selbst geleitet hatte. Es wurden nie mehr als fünfzig oder sechzig Gefangene gleichzeitig auf Rockfort festgehalten. Dank Dr. Stoker, dem Anatom und Forscher, der im „Krankenrevier“ gearbeitet hatte, und dem steten Bedarf an Testobjekten und Ersatzteilen, kam niemand, der in der Anlage eingesperrt war, länger als sechs Monate in den Genuss von Umbrellas Gastfreundschaft.
Und ich frage mich, wo wir alle in weiteren sechs Monaten sein werden …
Alfred stieg über Bartons aufgedunsenen Leichnam hinweg und ging in Richtung Kontrollraum, um seine Kontaktleute im Umbrella-Hauptquartier zu verständigen. Würde Umbrella sich dafür entscheiden, die Anlage auf Rockfort wiederaufzubauen? Und würde er seine Einwilligung geben? Er und Alexia waren vor dem in seiner „heißen“ Phase befindlichen Virus absolut sicher. Beide Verbindungswege zwischen dem Rest der Anlage und ihrem Privathaus waren während des Luftangriffs versperrt gewesen. Aber wollte er, nun da er wusste, dass Umbrellas namenloser Feind bereit war, solch extreme Maßnahmen zu ergreifen, wirklich das Risiko eingehen, so nahe bei ihrem Heim ein Labor instand zu setzen? Die Ashfords fürchteten zwar nichts, aber sie waren auch nicht leichtsinnig.
Alexia würde der Schließung der Anlage niemals zustimmen, nicht jetzt, da sie ihrem Ziel so nah ist.
Alfred blieb unvermittelt stehen. Er blickte auf die Funk- und Videokonsolen, auf die leeren Computerbildschirme, die sein Starren aus großen, toten Augen erwiderten. Er glotzte, ohne etwas zu sehen. In ihm tat sich eine seltsame Leere auf und stürzte ihn in Verwirrung. Wo war Alexia? Was für ein Ziel war das, an das er gerade gedacht hatte?
Fort. Sie ist fort.
Es stimmte, er konnte es in seinem Innersten fühlen – aber wie konnte sie ihn verlassen, wie nur, wenn sie doch wusste, dass sie sein ein und alles war; dass er ohne sie sterben würde?
Die Monstrosität, brüllend und blind, ein Fehlschlag, und es war kalt, so kalt, die Ameisenkönigin nackt, sie schwebte im Tank, und er konnte sie nicht berühren, konnte nur das kalte, harte Glas unter seinen sehnsuchtsvollen Fingern fühlen …
Alfred keuchte. Die Alptraumszene war so real, so furchtbar, dass er nicht wusste, wo er war, nicht wusste, was er tat. Ganz vage spürte er, dass sich seine Hände um etwas schlossen, fester und immer fester, seine Armmuskeln zitterten …
… und die Konsole vor ihm entließ etwas wie eine statische Explosion, laut und krachend, und Alfred wurde bewusst, dass jemand sprach.
„… bitte, wenn mich jemand hören kann – hier spricht Doktor Mario Tica, im Labor in der ersten Etage“, stammelte die sich vor Angst überschlagende Stimme. „Ich bin eingesperrt, und die Tanks sind jetzt alle leer, sie wachen auf – bitte, Sie müssen mir helfen, ich bin nicht infiziert, ich trage einen Schutzanzug, ich schwör’s bei Gott, Sie müssen mich hier rausholen …!“
Dr. Tica, eingeschlossen im Raum mit den Embryo-Tanks. Tica, der schon seit langem persönliche Berichte über seine Fortschritte mit dem Albinoid-Projekt an Umbrella geschickt hatte, geheime Berichte, die sich von denjenigen unterschieden, die er Alfred vorlegte. Alexia hatte vor einigen Monaten angeregt, Tica zu Dr. Stoker zu schicken … Würde es sie nicht amüsieren, wenn sie ihn jetzt hören könnte?
Alfred streckte die Hand aus und schaltete Ticas plapperndes Flehen ab. Plötzlich fühlte er sich viel besser. Alexia hatte ihn wegen seiner seltsamen Anfälle wieder und wieder beruhigt, wegen dieses Aufblitzens intensiver Einsamkeit und Verwirrung – Stress, beharrte sie und sagte ihm, er solle diese Anwandlungen nicht zu ernst nehmen, sagte, dass sie ihn nie freiwillig verlassen würde. Dazu liebte sie ihn viel zu sehr.
Alfred dachte an sie, dachte an all den Ärger und die Schwierigkeiten, die Umbrellas unzureichende Verteidigung ihnen beiden beschert hatte, und er beschloss, den Uplink-Ruf nicht zu tätigen. Im Hauptquartier hatte man mittlerweile sicher schon von dem Angriff erfahren, und man würde beizeiten einen Räumtrupp schicken. Wirklich, es gab überhaupt keine Veranlassung, mit ihnen zu reden … und außerdem verdienten sie es nicht, seine Einschätzung der Lage zu hören und im Voraus über die Gefahren informiert zu werden, mit denen sie es zu tun bekommen würden. Er war kein Angestellter, kein dummer Lakai, der seinen Vorgesetzten Bericht erstatten musste. Die Ashfords hatten Umbrella gegründet – sie mussten ihm Bericht erstatten.
Und schließlich habe ich erst vor einer Woche mit Jackson gesprochen, über die kleine Redfield …
Alfred spürte, wie seine Augen groß wurden, sein Hirn arbeitete plötzlich wie irrsinnig. Claire Redfield, die Schwester von Chris Redfield, der zu diesen lästigen S. T. A. R. S.-Typen gehörte, war nur wenige Stunden vor dem Angriff hier eingetroffen. Man hatte sie in Paris gefasst, im Administrationsbereich des Hauptquartiers von Umbrella, wo sie behauptet hatte, ihren Bruder zu suchen – und man hatte sie zu ihm nach Rockfort geschickt, damit er sie einsperrte, während man beriet, was mit ihr geschehen sollte.
Aber … was, wenn der Plan darin bestanden hatte, ihren Bruder aus seinem Versteck zu locken, um seinen lächerlichen Aufstand ein für alle Mal niederzuschlagen – ein Plan, in den sie ihn, Alfred, bequemerweise nicht eingeweiht hatten? Und was, wenn Redfield und seine Kameraden der Kleinen nach Rockfort gefolgt waren, ihre Anwesenheit hier für sie das Zeichen zum Angriff gewesen war …
… oder vielleicht hat sie sich sogar absichtlich schnappen lassen?
Es war, als fiele ein Puzzleteil an seinen vorgesehenen Platz. Natürlich, natürlich hatte sie das. Kluges Mädchen, sie hatte ihre Rolle gut gespielt. Ob Umbrella den Angriff unwissentlich herausgefordert hatte, zählte nicht, nicht jetzt, damit wollte Alfred sich später befassen. Worauf es jetzt ankam, war, dass diese kleine Hexe den Feind hierher geführt hatte, und sie war womöglich noch am Leben, stahl Informationen, schnüffelte herum, plante vielleicht sogar, seiner Alexia etwas … etwas anzutun.
„Nein“, schnaufte er. Seine Angst schlug augenblicklich in Zorn um. Offensichtlich war es die ganze Zeit schon ihr Plan gewesen, Umbrella so viel Schaden wie nur möglich zuzufügen – und Alexia war zweifellos der klügste wissenschaftliche Kopf, der in der Biowaffenforschung am Werke war, vielleicht der klügste überhaupt.
Damit durfte Claire nicht davonkommen. Er würde sie finden … oder, besser noch, warten, bis sie zu ihm kam, was sie sicherlich tun würde. Er konnte sie beobachten, auf der Lauer liegen wie ein Jäger, und das Mädchen war seine Beute.
Und warum willst du sie gleich umbringen, wo du vorher doch so viel Spaß mit ihr haben könntest? Das war Alexias Stimme in seinen Gedanken, die ihn an die Spiele ihrer Kindheit erinnerte, das Vergnügen, das sie mit ihren gemeinsamen Experimenten gehabt hatten, als sie bemerkenswerte Versuche durchgeführt und zugesehen hatten, wie Lebewesen litten und starben. Diese Erfahrung, dieses Teilen intimster Erlebnisse, hatte das Band zwischen ihnen zu Stahl werden lassen.
Ich kann sie am Leben und Alexia mit ihr spielen lassen … oder ich könnte sie in ein Labyrinth locken, um zu sehen, wie sie sich gegen ein paar unserer Schoßtierchen schlägt …Es gab viele Möglichkeiten. Bis auf ein paar wenige Ausnahmen konnte Alfred per Computer sämtliche Türen der Insel aufschließen. Er konnte die Kleine mit Leichtigkeit überall dorthin dirigieren, wo er sie haben wollte, und sie ganz nach Belieben töten.
Claire Redfield hatte ihn unterschätzt, alle hatten sie das getan, aber damit war nun Schluss … und wenn die Dinge so liefen, wie Alfred zu hoffen begann, würde der Tag in einer sehr viel freundlicheren Note ausklingen als dem kläglichen Misston, mit dem er begonnen hatte.
Wenn sich hier infizierte Hunde herumtrieben, dann versteckten sie sich gegenwärtig. Der offene Hof, auf den Claire hinaustrat, war mit Leichen übersät, deren Fleisch im fahlen Mondlicht widerlich grau wirkte, bis auf die unzähligen Stellen, die mit Blut besudelt waren. Keine Hunde, keine Bewegung, bis auf die tief hängenden Wolken, die über den sich zuziehenden Nachthimmel jagten. Claire verharrte einen Augenblick lang, durchforstete die Schatten, machte sich mit ihrer Umgebung vertraut und ließ dann den Ausgang hinter sich zurück.
„Steve“, flüsterte sie scharf. Aus Angst vor dem, was auf sie lauern mochte, wagte sie es nicht zu rufen. Doch leider war Steve Burnside ebenso verschwunden wie der heulende Hund, den sie gehört hatte; Steve schien nicht einfach nur davongegangen zu sein, sondern einen regelrechten Sprint hingelegt zu haben.
Warum? Warum wollte er denn bloß allein sein? Vielleicht irrte sie sich ja, aber Steves Argument, dass er sich nicht behindern lassen wollte, klang einfach nicht nach der Wahrheit. Als sie unversehens in den Alptraum von Raccoon gestolpert war, hatte ihr Zusammentreffen mit Leon die Sache völlig verändert. Sie waren zwar nicht die ganze Zeit über zusammen geblieben, aber einfach nur zu wissen, dass da noch jemand war, der ebenso entsetzt war und Angst hatte wie sie … anstatt sich hilflos und allein zu fühlen … hatte sie in die Lage versetzt, klare Ziele zu formulieren, die über das bloße Überleben hinausgingen – ein Transportmittel finden, das sie aus der Stadt brachte, nach Chris suchen, auf Sherry Birken aufpassen.
Und vom Standpunkt der Sicherheit aus betrachtet ist es auch viel besser, wenn einem jemand den Rücken deckt, als allein loszuziehen, keine Frage.
Welchen Grund er auch haben mochte, sie würde verdammt noch mal alles versuchen, um ihn umzustimmen – vorausgesetzt, dass sie ihn fand. Der Hof vor ihr war viel größer als derjenige, den sie gerade hinter sich gelassen hatte. Rechts von ihr befand sich eine lange, einstöckige Hütte, linker Hand eine Wand ohne Türen, vielleicht die Rückseite eines größeren Gebäudes. Hinter einem der zerbrochenen Fenster in der Wand brannte ein kleines Feuer, und zwischen den Toten lag jede Menge Schutt herum – Folgen des verheerenden Angriffs. Unmittelbar rechts von ihr war ein versperrtes Tor, auf der anderen Seite ein vom Mondlicht erhellter Weg und eine geschlossene Tür … was hieß, dass Steve sich entweder in der Hütte befand oder um sie herumgegangen war, wozu er den ebenfalls nach rechts führenden Weg am gegenüberliegenden Ende des Hofes benutzt haben musste.
Claire beschloss, es zuerst mit der Hütte zu versuchen.
Während sie die Stufen zu der von einem Geländer gesäumten Veranda, die fast über die gesamte Länge des Gebäudes verlief, hinaufeilte, fragte sie sich, wer Rockfort wohl angegriffen haben mochte und warum. Rodrigo hatte etwas über eine Spezialeinheit gesagt, aber wenn das stimmte, stellte sich die Frage, wessen Befehlen diese Truppe folgte? Umbrella schien also durchaus Feinde zu haben, und das war fraglos eine gute Nachricht – aber der Angriff auf die Insel war dennoch eine Tragödie. Gefangene und Angestellte waren gestorben, und das T-Virus – und vielleicht auch das G-Virus und Gott weiß, wie viele andere – machten keinen Unterschied zwischen Schuldigen und Unschuldigen.
Claire erreichte die schlichte Holztür der Hütte. Die Neunmillimeter schussbereit drückte sie die Tür auf – und schloss sie sofort wieder, als sie dahinter zwei Virusträger entdeckte, die um einen Tisch herum schlurften. Eine Sekunde später prallte etwas gegen die Tür und ein tiefes, Mitleid erregendes Stöhnen drang hindurch.
Dann also den Weg entlang. Claire bezweifelte, dass der von sich selbst so überzeugte Steve irgendjemanden am Leben gelassen hätte, wäre er in die Hütte gegangen, außerdem hätte sie die Schüsse gehört …
Es sei denn, sie haben ihn zuerst erwischt.
Es gefiel Claire nicht, aber die bittere Wahrheit ihrer Lage sah einfach so aus, dass sie es sich nicht leisten konnte, Munition darauf zu verschwenden, das herauszufinden. Sie würde dem Weg folgen, nachsehen, wohin er führte … und wenn sie Steve dann nicht fand, war er eben auf sich allein gestellt. Sie wollte das Richtige tun, aber ebenso sehr war sie darauf bedacht, ihren eigenen Hintern zu retten. Sie musste zurück nach Paris, zu Chris und den anderen, was sie ganz sicher nicht schaffen würde, wenn sie ihre Munition verjubelte und als Imbiss für Kannibalen endete.
Sie ging die Veranda entlang, alle Sinne auf Empfang geschaltet, und näherte sich dem Ende des Gebäudes. Sie hatte den Zombiehund keineswegs vergessen und lauschte auf das Trappeln von Krallen auf dem Boden, auf das schwere Hecheln, an das sie sich von ihrer früheren Erfahrung in Raccoon her noch erinnerte. Die feuchte, kühle Nacht war still, eine frische Brise wehte über den Hof, und das einzige Atemgeräusch, das Claire hörte, war ihr eigenes.
Sie warf einen raschen Blick um die Ecke der Hütte. Nichts, nur der Leichnam eines Mannes, der halb im niedrigen Zwischenraum unter der Hütte und halb im Freien lag, etwa fünf Meter entfernt. Weitere zehn Meter dahinter bog der Weg sehr zu Claires Erleichterung abermals nach rechts ab – diesen Teil hatte sie durch das abgesperrte Tor hindurch gesehen, und da war er leer gewesen.
Dann muss er also durch diese Tür in der Westmauer gegangen sein … Es war beruhigend, sich einer Tatsache sicher sein zu können, wenn es mit Umbrella zu tun hatte. Claire ging den Weg entlang und überlegte, was es wohl bedurfte, um diesen Macho-Typen dazu zu bewegen, bei ihr zu bleiben. Vielleicht sollte sie ihm von Raccoon erzählen und ihm klar machen, dass sie einige Übung im Umgang mit Umbrella-Katastrophen hatte …
Claire war gerade im Begriff, über den Oberkörper des daliegenden Leichnams zu steigen, als dieser sich bewegte.
Sie sprang zurück, die Pistole auf den blutigen Kopf des Mannes gerichtet. Ihr Herz hämmerte – aber sie stellte fest, dass er wirklich tot war, dass stattdessen jemand oder etwas ihn an den Beinen in die Schatten des Kriechbodens unter der Hütte zerrte, mit kräftigen, regelmäßigen Ruckbewegungen …
Wie ein Hund, der sich mit etwas Schwerem im Maul zurückzieht.
Nach diesem Gedanken dachte Claire gar nichts mehr, sprang nur ihrem Instinkt gehorchend über den Toten hinweg und rannte davon, sich bewusst, dass der Hund – wenn es denn einer war – nicht für immer abgelenkt sein würde. Die Erkenntnis, dass er weniger als einen Meter entfernt gewesen war, verlieh ihr zusätzliches Tempo. Sie bog um die Ecke. Ihre Stiefel patschten auf den feuchten, hart gebackenen Erdboden. Sie pumpte mit den Armen. Zombies waren langsam, unkoordiniert – die Hunde jedoch, die sie und Leon gesehen hatten, waren bösartig und blitzschnell. Nicht einmal bewaffnet hatte sie ein Interesse daran, sich auch nur einem von ihnen zu stellen – ein einziger Biss genügte, und sie war ebenfalls infiziert.
Arrruuuuu!
Das glucksende Heulen kam von weiter entfernt, drang nicht aus dem Kriechboden unter der Hütte, sondern von irgendwo aus dem vorderen Bereich des Hofes.
Scheiße, wie viele mögen das sein? Egal, sie war fast am Ziel, ihre Rettung lag links vor ihr. Sie wagte nicht zurückzuschauen, wurde um keinen Deut langsamer, bis sie die Tür erreichte, die Klinke packte und drückte. Die Tür öffnete sich ganz leicht, und da Claire unmittelbar vor sich nichts erblickte, was Zähne hatte, sprang sie hinein und schlug die Tür hinter sich zu …
… aber nur, um das vielstimmige Wimmern von Zombies zu hören und den fiebrigen Verwesungsgestank der sterbenden Virusträger zu riechen, während in ihrem Rücken auch schon etwas gegen die Tür krachte und mit Krallen daran zu scharren begann, knurrend wie ein wildes Tier.
Wie viele Hunde, wie viele Zombies? Der Gedanke blitzte durch ihr von Panik erfasstes Denken. Der Drang, Munition zu sparen, war seit Raccoon tief in ihr verwurzelt. Aber was, wenn ich dabei bin, in eine Sackgasse zu geraten? Fast machte sie der Gefahr zum Trotz kehrt, bis sie sah, wo die Zombies waren.
Die Passage, in der sie sich befand, war von Dunkelheit erfüllt, aber sie konnte einige Männer sehen, die linker Hand in einem von einem Gitter umzäunten Bereich umherstolperten. Alle befanden sie sich in einem weit fortgeschrittenen Stadium der Verwesung. Einer von ihnen schlug gegen die Maschendrahttür, Fäden und zerstörtes Gewebe hingen ihm von den nahezu skelettierten Fingern. Er war unempfindlich für den Schmerz seines sich zersetzenden Körpers.
Muss der Zwinger sein …
Claire trat ein paar Schritte weiter vor, richtete den Blick besorgt auf das einfache und nicht allzu stabil wirkende Schloss, das die Tür verschlossen hielt – und dann sah sie die drei Zombies, die nicht eingesperrt waren, gerade als der erste nach ihr griff. Speichel und eine andere, dunkle Flüssigkeit troffen ihm aus dem aufklaffenden Mund, seine knöchernen Finger streckten sich, um die ihren zu berühren. Sie war so auf die Kreaturen im Käfig konzentriert gewesen, dass sie die anderen gar nicht bemerkt hatte.
Reflexartig ließ sie sich fallen und trat ihm gegen die Brust, ein harter und wirkungsvoller Kick, der das Wesen nach hinten stieß. Claire konnte spüren, wie ihr Stiefel in das verwesende Fleisch des Zombies eindrang, aber sie hatte keine Zeit, um sich zu ekeln. Stattdessen brachte sie die Neunmillimeter hoch …
… und mit einem dünnen, metallischen Geräusch flog die Zwingertür auf. Plötzlich hatte Claire es nicht mehr mit drei, sondern mit sieben Zombies zu tun. Sie drängten auf sie zu, wichen ungeschickt einem Müllcontainer aus, ebenso ein paar Fässern und den Leibern ihrer toten Artgenossen.
Ohne nachzudenken, schoss Claire dem, der ihr am nächsten war, ein sauberes Loch in die rechte Schläfe. Dennoch begriff sie, während der Zombie stürzte und zu Boden ging, dass sie verloren war. Es waren zu viele, sie waren zu eng beisammen, und sie würde es nie schaffen, sie alle …
Die Fässer! Eines davon trug ein Etikett, das vor seinem brennbaren Inhalt warnte. Derselbe Trick, den ich in Paris angewandt habe!
Claire warf sich hinter dem Müllcontainer in Deckung und wechselte die Waffe beim Aufprall in die linke Hand. Das Ziel vor ihrem geistigen Auge im Visier, kam sie hoch und schoss, wobei sich nur ihr Arm um die Kante des Containers krümmte, während die verwirrten Zombies hin- und herschwankten, nach ihr suchten und vor Hunger stöhnten …
Bamm! Bamm! Ba –
Da erfolgte die Explosion.
Der Müllcontainer rammte gegen Claires rechte Schulter und stieß sie nach hinten. Sie fiel auf die Seite, rollte sich zusammen, ihre Ohren dröhnten, gezackte, brennende Metallfetzen regneten nieder und prasselten auf den Deckel des Containers. Ein paar trafen auch ihr linkes Bein. Sie fegte sie weg, konnte kaum glauben, dass es geklappt hatte, dass sie noch am Leben war.
Sie richtete sich auf, blieb aber in der Hocke und sah nach, was von ihren Gegnern übrig geblieben war. Nur einer von ihnen war noch unversehrt. Schwer lehnte er am Zwinger, seine Kleidung und die Haare brannten. Der Oberkörper eines anderen versuchte auf Claire zuzukriechen, seine schwarze, Blasen werfende Haut schälte sich ab, während er sich zentimeterweise vorwärts schob. Die anderen hatte es zerrissen, der brennende Boden leckte nach ihren kümmerlichen Überresten.
Rasch entledigte sich Claire der beiden Überlebenden. Das jammervolle Ende, das diese Menschen gefunden hatten, versetzte ihr einen Stich ins Herz. Seit Raccoon wurde sie in ihren Träumen von Zombies heimgesucht, von jenen stinkenden, triefenden Kreaturen, die sich von lebendem Fleisch ernährten. Umbrella hatte diese speziellen Monster unbeabsichtigt erschaffen, alptraumhafte wandelnde Tote, die geradewegs einschlägigen Filmen entsprungen zu sein schienen, und es hieß töten oder getötet werden, es gab keine andere Wahl.
Nur, dass sie vor nicht allzu langer Zeit noch Menschen waren. Menschen, die Familien und ein Leben hatten, die es nicht verdienten, auf solch schreckliche Weise zu sterben, ganz gleich, welche Untaten sie auch begangen haben mochten. Claire sah hinab auf die armen verbrannten Leiber, und ihr wurde fast schlecht vor Mitleid – und von dem leisen, aber beharrlichen, fiebrigen Hass auf Umbrella.
Claire schüttelte den Kopf und gab sich alle Mühe, es gut sein zu lassen; sie durfte nicht zulassen, dass all dieser Schmerz sie in einem entscheidenden Moment beeinträchtigte und zögern ließ. Wie ein Soldat im Krieg konnte sie es sich nicht erlauben, den Feind zu vermenschlichen … wenn sie auch keinen Zweifel daran hatte, wer der wahre Feind war. Und sie hoffte inbrünstig, dass die Führer von Umbrella für alles, was sie getan hatten, in der Hölle schmoren würden.
Weil sie nicht noch einmal überrascht werden wollte, überprüfte sie das Dunkel des Durchgangs sorgfältig. Im hinteren Teil des Zwingers stand eine echte Guillotine, und wie es aussah, war sie mit echtem Blut befleckt. Der bloße Anblick ließ Claire schaudern; er erinnerte sie an Chief Irons vom RPD und seinen geheimen Kerker. Irons war der lebende Beweis dafür gewesen, dass Umbrella seine Undercover-Mitarbeiter keinem Psychotest unterzog.
Hinter dem furchtbaren Hinrichtungsgerät lag eine Tür, aber Steve war sicher nicht diesen Weg gegangen, nicht an den eingesperrten Zombies vorbei. Neben dem Zwinger befand sich ein Schott aus Metall, aber es ließ sich nicht aufschieben … und daneben war die einzige Tür, durch die Steve gegangen sein konnte, weil der Durchgang seitlich davon in einer Sackgasse endete.
Claire ging auf die Tür zu. Mit einem Mal fühlte sie sich sehr müde und sehr alt, ihre Emotionen schienen aufgebraucht zu sein. Sie überprüfte die Pistole und griff nach der Klinke. Wie geistesabwesend fragte sie sich, ob sie ihren Bruder je wiedersehen würde. Manchmal empfand sie es als gewaltige Bürde, an ihrer Hoffnung festzuhalten, die noch um so schwerer wog, da Claire sie nicht ablegen konnte – nicht einmal für einen kurzen Augenblick.
Steve zuckte zusammen, als er das Krachen hörte, das von draußen hereindrang. Reflexartig sah er sich in dem kleinen, vollgestopften Büro um, als erwarte er, dass die Wände einstürzten. Nach ein paar Herzschlägen entspannte er sich in der Annahme, dass es sich nur um eine weitere durch die Hitze ausgelöste Explosion gehandelt hatte, nichts, was ihm Sorge bereiten musste. Seit dem Angriff brannten überall auf dem Gefängnisgelände Feuer, die hier und da etwas Brennbares erfassten, Kanister mit Sauerstoff, Kerosin oder ähnlichem, und dann kam es zu Explosionen.
Einer solchen Explosion verdankte er es sogar, dass er noch am Leben war – er war vom herumfliegenden Trümmerstück einer Wand ausgeknockt worden, als ein Ölfass hochgegangen war, und der Schutt hatte ihn vollständig zugedeckt und verborgen. Als er schließlich wieder zu sich kam, war das große Zombiefressen weitgehend vorüber gewesen, die meisten Gefängniswärter und Gefangenen bereits tot …
Die Richtung, die seine Gedanken nahmen, gefiel ihm nicht. Er konzentrierte seine Aufmerksamkeit wieder auf den Computerbildschirm und das darauf dargestellte Dateienverzeichnis, auf das er gestoßen war, als er nach einer Karte von der Insel gesucht hatte. Irgendein Volltrottel hatte das Passwort auf einen Haftnotizzettel geschrieben, ihn an den Computer geklebt und Steve damit problemlosen Zugriff auf ein paar offenbar geheime Unterlagen ermöglicht. Zu dumm, dass das meiste davon so langweilig wie Selters war – Gefängnisbudgetierungen, Namen und Daten, die ihm nichts sagten, Informationen über eine Speziallegierung, die von Metalldetektoren nicht erkannt werden konnte … nun, das wenigstens war einigermaßen interessant, bedachte man, dass er durch einen Kontroll-Metalldetektor hatte gehen müssen, um in das Büro zu gelangen; aber drei, vier gut platzierte Kugeln in die Apparatur hatten dieses Problem gelöst. Und das war gut so, denn er hatte in einer Schreibtischschublade einen der Emblemschlüssel für das Haupttor gefunden, was auf dem Rückweg ganz sicher einen Alarm ausgelöst hätte.
Alles, was ich brauche, ist eine gottverdammte Karte, die mich zum nächstgelegenen Boot oder Flugzeug führt, und dann bin ich Geschichte. Er würde auch das Mädchen nachholen, wenn er einen Fluchtweg gefunden hatte, würde den Ritter in strahlender Rüstung geben … und sie würde sich ganz bestimmt dankbar zeigen, vielleicht sogar dankbar genug, um …
Ein Name in dem Dateienverzeichnis stach ihm ins Auge. Steve runzelte die Stirn und blickte genauer auf den Monitor. Da war ein Ordner mit dem Namen Redfield, C. … C wie in Claire Redfield? Neugierig öffnete er ihn und las immer noch ganz vertieft, als er hinter sich ein Geräusch hörte.
Er angelte seine Waffe vom Schreibtisch, wirbelte herum und verpasste sich im Geiste einen Tritt in den Hintern, weil er nicht besser aufgepasst hatte – und da stand Claire, die eigene Waffe zu Boden gerichtet, einen leicht verdutzten Ausdruck auf dem Gesicht.
„Was tust du da?“, fragte sie gelassen, als hätte sie ihm nicht gerade einen Heidenschreck eingejagt. „Und wie bist du an den Zombies da draußen vorbeigekommen?“
„Ich bin gerannt“, antwortete er, verärgert über ihrer Frage. Hielt sie ihn etwa für hilflos? „Und ich suche nach einer Karte … hey, bist du mit einem Christopher Redfield verwandt?“
Claire furchte die Stirn. „Chris ist mein Bruder. Warum?“
Geschwister. Das ist die Erklärung. Steve deutete auf den Computer und fragte sich beiläufig, ob wohl der ganze Redfield-Clan aus Draufgängern bestand. Ihr Bruder jedenfalls war einer, ehemaliger Air-Force-Pilot und S. T. A. R. S.-Angehöriger, ein Meisterschütze und ein echter Dorn im Fleisch von Umbrella. Er hätte es nie und nimmer laut zugegeben, aber Steve war einigermaßen beeindruckt.
„Du solltest ihm vielleicht sagen, dass Umbrella ihn beobachtet“, erwiderte er und trat beiseite, damit Claire lesen konnte, was auf dem Bildschirm stand. Offenbar war Redfield in Paris, auch wenn Umbrella es nicht geschafft hatte, seinen genauen Aufenthaltsort in Erfahrung zu bringen. Steve freute sich, dass er auf eine Datei gestoßen war, die ihr wichtig war – ein Dankeschön von einem hübschen Mädchen war immer eine feine Sache.
Claire überflog die Informationen, drückte dann ein paar Tasten und blickte mit einem Ausdruck der Erleichterung zu Steve. „Gott sei Dank, dass es Privatsatelliten gibt. Ich kann mich mit Leon in Verbindung setzen. Er ist ein Freund und müsste sich inzwischen mit Chris zusammengetan haben …“
Sie hatte bereits zu tippen begonnen, spulte ihre Erklärungen wie beiläufig ab, während sich ihre Finger über die Tastatur bewegten. „… es gibt da ein Messageboard, das wir beide benutzen … da, siehst du?,Kontakt so schnell wie möglich, die ganze Bande ist hier.‘ Das hat er in der Nacht, in der ich gefangen genommen wurde, gepostet.“
Steve zuckte die Achseln. Die Lebensgeschichte von Claires Freunden interessierte ihn nicht sonderlich. „Geh in die Datei davor, da stehen Breiten- und Längengrad dieses Felsens“, sagte er mit einem kleinen Lächeln. „Warum schickst du deinem Bruder keine Wegbeschreibung und lässt ihn anrücken, damit er den Tag rettet?“
Er erwartete einen weiteren gereizten Blick, aber Claire nickte nur mit todernster Miene. „Gute Idee. Ich werde ihm sagen, dass es bei diesen Koordinaten einen Ausbruch gegeben hat. Dann wissen sie schon, was ich meine.“
Sie war schön, sicher, aber auch ganz schön naiv. „Das war ein Witz“, sagte er kopfschüttelnd. Sie befanden sich mitten im Nirgendwo.
Sie sah zu ihm auf. „Zum Totlachen. Ich werd’ ihn Chris erzählen, sobald er hier aufkreuzt.“
Völlig warnungslos stieg unbändige Wut in ihm hoch, ein Tornado aus Zorn und Verzweiflung und einer ganzen Menge von Gefühlen, die er nicht einmal ansatzweise verstand. Was er jedoch verstand, war, dass die kleine Miss Claire falsch lag, dass sie dumm und rotznäsig war und völlig falsch lag.
„Willst du mich auf den Arm nehmen? Du erwartest echt, dass er hier auftaucht, bei allem, was hier abgeht? Und schau dir doch die Koordinaten an!“ Die Worte brachen hitzig und schnell aus ihm hervor und lauter als beabsichtigt, aber das war ihm egal. „Sei doch nicht dumm – glaub mir, du kannst dich nicht auf andere Leute verlassen, du wirst am Ende nur enttäuscht, und dann kannst du niemanden die Schuld geben außer dir selbst!“
Jetzt sah sie ihn an, als habe er den Verstand verloren, und über seinen Zorn brach eine Woge aus Scham herein, Scham, weil er ohne wirklichen Grund ausgerastet war. Er konnte spüren, wie ihm die Tränen kamen, was seine Demütigung nur noch verstärkte, aber er würde nicht wie ein Baby vor ihr heulen, unter keinen Umständen. Bevor sie etwas sagen konnte, drehte er sich um und rannte davon, puterrot im Gesicht.
„Steve, warte!“
Er schlug die Bürotür hinter sich zu und lief weiter, wollte nur weg von hier. Zum Teufel mit der Karte, ich hab den Schlüssel, mir fällt schon was ein, und ich werde alles umbringen, was mich aufzuhalten versucht!
Er rannte den langen Gang hinunter, an dem defekten Metalldetektor vorbei und hinaus, die Waffe schussbereit in der Hand. Ein Teil von ihm war bitter enttäuscht, als er den Zwinger passierte und zweimal fast über feuchte, rauchende Körperteile stolperte – es gab nichts zu erschießen, niemanden, den er ins Jenseits befördern konnte, nichts, was ihm hätte helfen können, nicht mehr zu fühlen, was er fühlte.
Er jagte durch die Tür, die hinter dem Quartierhaus ins Freie führte, und machte sich daran, um das lange Gebäude herumgehen. Er schwitzte, sein Herz hämmerte, sein dickes Haar klebte ihm trotz der kalten Luft auf der Kopfhaut – und er war so auf seinen widersinnigen Ärger konzentriert, den Zwang zu rennen, dass er nichts kommen sah oder hörte, bis es beinahe zu spät war.
Wamm!
Etwas traf ihn von hinten und stieß ihn nach vorne. Er fiel und rollte sich sofort auf den Rücken. Plötzliches, tödliches Entsetzen sperrte alles andere aus – und da waren zwei von ihnen, zwei der Gefängniswachhunde. Einer kehrte in einem Bogen zurück, nachdem er ihn angesprungen hatte, der andere knurrte tief in der Kehle, während er steifbeinig und mit gesenktem Kopf näher kam.
Herrgott, schau sich die einer an …
Sie waren einmal Rottweiler gewesen, aber jetzt nicht mehr. Sie waren infiziert. Steve erkannte es an ihren glasigen, roten Augen und an den triefenden Schnauzen, an den merkwürdigen neuen Muskelsträngen, die sich unter dem fast schleimig wirkenden Fell spannten und bündelten. Und zum ersten Mal seit dem Angriff wurde Steve das volle Ausmaß von Umbrellas Irrsinn – ihrer geheimen Experimente und der albernen Spionagefilm-Mentalität – richtig bewusst. Steve mochte Hunde, viel mehr, als er die meisten Menschen mochte, und was man diesen beiden armen Geschöpfen angetan hatte, war einfach nicht fair.
Nicht fair – falscher Ort zur falschen Zeit, ich hab nichts von all dem verdient, ich hab nichts Verkehrtes getan …
Er merkte nicht einmal, dass sich sein Mitleid auf ein neues Objekt verlagert hatte, auf ihn selbst. Er hatte keine Zeit, es sich bewusst zu machen. Seit er sich auf den Rücken gerollt hatte, war noch keine Sekunde vergangen, und die Hunde machten sich zum Angriff bereit.
Binnen einer weiteren Sekunde war es vorbei – das war genau die Zeit, die Steve brauchte, um abzudrücken, sich zu drehen, und wieder abzudrücken. Beide Tiere gingen augenblicklich zu Boden, das erste hatte die Kugel in den Kopf bekommen, das zweite in die Brust. Der zweite Hund entließ ein einzelnes Winseln, vor Schmerz, Angst oder Überraschung, bevor er im Schlamm zusammenbrach, und dieser Laut vervielfachte Steves Hass auf Umbrella noch. Unablässig wiederholte sich in seinem Kopf der Gedanke, wie unfair das alles war. Er kam mühsam auf die Beine und verfiel in einen stolpernden Lauf. Er hatte den Schlüssel zum Gefängnistor. Er war nicht mehr ihr Gefangener.
Zeit, es ihnen zurückzuzahlen, dachte er grimmig, und plötzlich hoffte er, betete er, dass ihm einer von ihnen über den Weg laufen möge, einer dieser kranken Arschlochhurensöhne, die für Umbrella arbeiteten und die Entscheidungen fällten. Vielleicht würde es ihm ein bisschen besser gehen, wenn er sie um den Tod betteln hörte.