FÜNFZEHN
Jill stand neben Carlos im Führerhaus des Zuges und schaute nach draußen, wo die dunklen Ruinen von Raccoon langsam vorbeizogen. Im gelblichen Strahl des Frontscheinwerfers allein konnten sie nicht viel sehen, aber es loderten zahlreiche kleine Feuer und der nicht ganz volle Mond warf sein kaltes Licht über die Szenerie – über schuttübersäte Straßen, zerbrochene, mit Brettern vernagelte Fenster und über lebende Schatten, die ziellos umherwankten.
„Fahr langsam“, sagte Jill. „Wenn die Schienen blockiert sind und wir zu schnell …“
Carlos warf ihr einen gereizten Blick zu. „Was du nicht sagst, da hätte ich ja nie dran gedacht. Gracias.“
Sein Sarkasmus verlangte eigentlich nach einer Erwiderung, aber Jill war zu müde, und ihr Körper fühlte sich an wie ein riesiger blauer Fleck. „Ja, schon gut. Entschuldige.“
Vor ihnen erstreckten sich die Schienen. Carlos bediente vorsichtig die Steuerung und verlangsamte in jeder Kurve buchstäblich auf Kriechgeschwindigkeit. Jill hätte sich gern hingesetzt oder wäre in den anderen Wagen zu Mikhail gegangen, um sich etwas hinzulegen – bis zum Uhrenturm waren es ein paar Meilen, und ein Jogger hätte locker mit ihnen Schritt halten können –, aber sie wusste, dass Carlos ebenfalls übermüdet war. Das Mindeste, was sie tun konnte, war, ihre schmerzenden Füße noch für ein paar Minuten zu ertragen und ihm Gesellschaft zu leisten.
Es schien eine unausgesprochene Vereinbarung zwischen ihnen zu bestehen, nicht über Nicholai zu sprechen – vielleicht weil Spekulationen darüber, wo er war und was er gerade tat, ohnehin sinnlos waren. Was er auch im Schilde führen mochte, sie waren dabei, aus der Stadt zu verschwinden. Vorausgesetzt, dass sie überlebten, war Jill entschlossener denn je, dafür zu sorgen, dass Umbrella für alle begangenen Verbrechen büßte, und Umbrella, nicht Nicholai, war dafür verantwortlich, dass der Tod Einzug in Raccoon gehalten hatte.
Ihre Intuition in Bezug auf Nicholai hatte sie nicht getrogen, wenn sie auch das wahre Ausmaß seiner Täuschung so nicht vermutet hatte. Nach dem zu schließen, was in dem Tagebuch stand, das Carlos gefunden hatte, schien es, als sei die Firma darauf vorbereitet gewesen, dass Raccoon infiziert werden könnte – und als habe man eine geheimes Team zusammengestellt, das über den genauen Ablauf der Katastrophe berichten, quasi Buch führen sollte. Das war schrecklich, aber nicht überraschend.
Schließlich haben wir es mit Umbrella zu tun. Wenn sie illegalerweise gentechnisch Viren entwerfen und Killermaschinen züchten konnten, denen sie besagte Viren injizieren, warum sollten sie dann nicht auch aus Massenmord Kapital schlagen? Ein paar Notizen machen, ein paar Kämpfe dokumentieren …
Jill stolperte gegen Carlos, als ein Stoß die Straßenbahn durchlief und das Geräusch splitternden Glases von dem anderen Wagen zu ihnen drang. Eine halbe Sekunde später hörten sie, wie Mikhail einen fiebrigen Schrei ausstieß – ob aus Angst oder vor Schmerzen, konnte Jill nicht feststellen.
„Hier, übernimm die Steuerung“, sagte Carlos, aber sie war schon auf halbem Weg durch den Wagen, den schweren Revolver in der Hand.
„Ich kümmere mich darum, fahr du weiter“, rief sie zurück, während sie auf die Tür zusprintete und wollte gar nicht daran denken, was sie erwarten mochte. Um den Wagen derart zu erschüttern …
… muss eines ihrer Monster dahinterstecken. Und Mikhail kann vermutlich nicht mal aus eigener Kraft sitzen.
Sie drückte die Tür auf und trat auf die Verbindungsplattform. Das schwere Rattern der fahrenden Straßenbahn schien unglaublich laut. Sie öffnete die zweite Tür. Mikhails Hilflosigkeit beschäftigte sie. Sie machte sich große Sorgen um ihn.
Verdammt!
Die einzelnen Elemente der Szene, in die sie hineinplatzte, waren ebenso simpel wie Todesgefahr signalisierend: ein zerbrochenes Fenster, überall Glasscherben, links von ihr Mikhail mit dem Rücken an der Wand und bemüht, auf die Beine zu kommen, dabei sein Gewehr als Krücke nutzend … und in der Mitte des Wagens der S. T. A. R. S.-Killer, den unförmigen Kopf nach hinten geworfen, und sein riesiges, lippenloses Maul zu einem unartikulierten, knurrenden Brüllen geöffnet. Die noch heilen Fenster bebten unter der Gewalt dieses wahnsinnigen Schreis.
Jill eröffnete das Feuer. Jeder Schuss eine ohrenbetäubende Explosion. Die schweren Geschosse schlugen in den Oberkörper des Monsters, während es weiterheulte. Die schiere Gewalt der Treffer trieb es ein paar Schritte nach hinten, aber wenn es noch irgendeine andere Wirkung gab, konnte Jill sie nicht feststellen.
Bei der sechsten Kugel fiel Mikhails Gewehr mit ein, die kleineren Geschosse hämmerten in Nemesis’ Beine, während Jill die Munition ausging. Mikhail kauerte noch immer an der Wand und er vermochte kaum zu zielen, aber Jill war dankbar für jede Hilfe, die sie bekommen konnte. Sie nahm ihre Beretta – selbst mit einem Speedloader würde sie zu lange brauchen, um den.357er nachzuladen – und drückte ab, versuchte, Kopfschüsse anzubringen.
Klappt nicht …
Nemesis hielt schreiend inne und richtete seine Aufmerksamkeit auf sie, seine geschlitzten weißen Augen wie Katarakta, seine gewaltigen Zähne glatt und glänzend. Tentakel schlängelten sich um seinen haarlosen, klumpigen Schädel.
„Verschwinde!“, rief Mikhail, und Jill warf ihm einen Blick zu, zog den Gedanken nicht einmal in Betracht, schoss abermals – bis sie einen Augenblick später registrierte, dass Mikhail eine Granate in der Hand hielt, einen seiner zitternden Finger schon durch den Ring geschoben. Sie erkannte das Modell, ohne darüber nachzudenken – eine tschechische RG34, Barry hatte Splittergranaten gesammelt –, während sie wirkungslos eine Kugel in Nemesis’ genähte Stirn jagte. Impakt-Granate. Wenn der Ring abgezogen ist, detoniert sie bei Kontakt. Aber das wird er nicht schaffen, das ist Selbstmord!
„Nein, du verschwindest – geh hinter mich“, schrie sie zurück, und der S. T. A. R. S.-Killer machte einen gewaltigen Schritt nach vorn, mit dem er die Entfernung zwischen ihnen beinahe halbierte.
„Hau ab!“, befahl Mikhail abermals und zog den Ring, einen Ausdruck unfassbarer Konzentration und Entschlossenheit im totenbleichen Gesicht. „Ich bin schon tot. Mach endlich, los!“
Ein weiterer Schuss aus der Beretta, dann war das Magazin leer.
Jill wirbelte herum, rannte und ließ Mikhail allein mit dem Monster zurück.
Carlos hörte das Schreien inmitten der Schüsse, während er versuchte, die Straßenbahn zum Halten zu bringen, weil er Jill und Mikhail unbedingt helfen wollte. Aber sie waren gerade in einer relativ scharfen Kurve, und die schlecht gewartete Steuerung widersetzte sich seinen Anstrengungen. Er stand etwa eine Sekunde davor, doch endlich zu ihnen stoßen zu können, als die Tür hinter ihm krachend auffuhr.
Carlos wirbelte herum, das M16 im Einarm-Anschlag, die andere Hand instinktiv am Gashebel belassend – und sah Jill. Sie flog regelrecht in den Wagen, ihre Miene eine Maske wuchernden Schreckens. Ihre Lippen formten seinen Namen …
… und hinter ihr entstand ein gewaltiges Beben aus Feuer und Lärm, stieß sie vornüber und zwang sie zu einer unbeholfenen Schulterrolle, die von dem hallenden Krachen aus dem zweiten Wagen begleitet wurde. Flammenzungen platzten durch das Fenster der hinteren Tür, während sich der Boden gefährlich neigte. Carlos prallte gegen den Fahrersitz, und die Lehne des Stuhles stieß ihm so brutal gegen den Schenkel, dass ihm Tränen in die Augen schossen.
Mikhail!
Carlos machte einen unsicheren Schritt in Richtung Heck – und sah nur brennende Teile des zerstörten zweiten Wagens, die hinter ihrem hergeschleift wurden und sich lösten, als die Straßenbahn an Fahrt gewann. Mikhail konnte nicht überlebt haben, und Carlos begann sich ernsthafte Sorgen um ihre eigenen Chancen zu machen, als Jill nach vorne getaumelt kam. Ihr Gesicht war verzerrt. Was immer sie auch gesehen haben mochte, es musste schrecklich gewesen sein.
Die Straßenbahn erreichte eine weitere Kurve und geriet dann außer Kontrolle, wurde vor- und zurückgeworfen wie ein Schiff auf stürmischer See – mit dem Unterschied, dass Donner und Blitze dadurch entstanden, dass ihr Wagen mit Wucht in Gebäude und Autos krachte und riesige Funkenwolken aufstieben ließ.
Anstatt dadurch langsamer zu werden, schien der Wagen bei jedem Aufprall noch an Geschwindigkeit zu gewinnen und rumpelte unter fürchterlichem metallenen Kreischen durch die Dunkelheit.
Carlos kämpfte gegen den Andruck an. Er wusste, dass der Wagen aus dem Gleis gesprungen, dass Mikhail tot und dass ihre einzige Hoffnung die Handbremse war. Wenn sie Glück hatten, würden die Räder blockieren. Er riss den Hebel so fest er konnte nach hinten …
… doch nichts geschah, überhaupt nichts. Sie waren verloren.
Jill schaffte es, nach vorne zu kommen. Sie fand Halt an Sitzlehnen und Stangen, während die Straßenbahn weiterhin bockte und quietschte. Carlos sah, wie sie den nutzlosen Hebel in seiner Hand anstarrte, sah Verzweiflung in ihren Augen aufblitzen, und er wusste, dass sie springen mussten.
„Die Bremsen!“, rief Jill gegen den infernalischen Lärm.
„Funktionieren nicht! Wir müssen abspringen!“
Er drehte sich um, packte sein Gewehr am Lauf und benutzte den Kolben, um ein Seitenfenster einzuschlagen. Ein plötzliches Rucken des Bodens ließ ihm die Glasscherben gegen die Brust regnen. Er hielt sich mit einer Hand am Fensterrahmen fest, fasste nach hinten, um Jill zu packen …
… und sah, wie sie den Ellbogen gegen eine kleine Scheibe rammte, die weit unten in die Konsole eingelassen war. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck verzweifelter Hoffnung, während sie einen Schalter betätigte, den er nicht sehen konnte.
SKRIIIII …
Die Notbremse!
Und unfassbarerweise wurde die Straßenbahn tatsächlich langsamer, neigte sich ein letztes Mal nach links, bevor sie zurückkippte und in einem verglühenden Schweif heller Funken weiterrutschte. Carlos schloss die Augen und spannte sich, versuchte sich auf den Aufprall vorzubereiten – und ein paar Sekunden später markierte ein sanftes, unspektakuläres Knirschen das Ende ihrer Reise.
Der Wagen war an einem Haufen zertrümmerter Betonreste inmitten eines ordentlich getrimmten Rasens zum Stehen gekommen. In der Nähe standen ein paar schattenumwobene Statuen und Hecken. Ein letztes Beben durchlief den Wagen – dann war es vorbei.
Stille, bis auf das Knacken sich abkühlenden Metalls. Carlos öffnete die Augen und war kaum im Stande zu fassen, dass ihre Alptraumfahrt durch die Stadt hier zu Ende war. Neben ihm schnappte Jill zittrig nach Luft. Alles war so schnell gegangen, dass ihr Überleben einem Wunder gleichkam.
„Mikhail?“, fragte er leise.
Jill schüttelte den Kopf. „Es war das Tyranten-Ding, dieser S. T. A. R. S.-Killer. Mikhail hatte eine Granate, das Monster kam auf uns zu und er …“
Ihre Stimme brach. Sie fasste in ihre Hüfttasche und begann, ihre Waffen nachzuladen, konzentrierte sich auf diese simplen Bewegungen. Es schien sie zu beruhigen. Als sie weitersprach, klang ihre Stimme fest.
„Mikhail opferte sich, als er sah, dass Nemesis auf mich losging.“
Sie wandte den Blick ab, hinaus ins Dunkel. Ein kalter Wind wehte durch die zerbrochenen Fenster der Straßenbahn herein. Jills Schultern sanken herab. Carlos wusste nicht recht, was er sagen sollte. Er trat zu ihr, berührte sanft ihren abgeschürften Rücken und spürte, wie sich ihr Körper versteifte. Rasch ließ er die Hand sinken, weil er fürchtete, sie irgendwie verletzt zu haben, doch dann erkannte er, dass sie auf etwas starrte, das dort draußen war. Ihre feinen Züge zeigten einen Ausdruck puren Staunens.
Carlos folgte ihrem Blick hinaus und nach oben, wo er einen gigantischen, drei- oder vierstöckigen Turm über ihnen aufragen sah, der sich vor der Kulisse des bewölkten Nachthimmels abzeichnete. Ein leuchtend weißes Zifferblatt nahe der Turmspitze verriet, dass es schon fast Mitternacht war.
„Jemand liebt uns, Carlos“, sagte Jill, und er konnte nur stumm nicken.
Sie hatten den Uhrenturm erreicht.
Nicholai ging die vom Mondlicht beschienenen Gleise entlang, ohne sich, während er Richtung Westen trottete, Mühe zu geben, sich zu verbergen. Wenn etwas auf ihn zukam, würde er es sehen und töten können, lange bevor es ihn erreichte. Er war schlechter Laune und freute sich fast auf die Möglichkeit, irgendetwas in Stücke zu schießen, ob es nun ein Mensch oder etwas anderes war.
Sein Zorn hatte sich etwas gelegt und war einem eher fatalistischen Zustand gewichen. Es schien ihm nicht länger möglich, den sterbenden Zugführer und die beiden jungen Soldaten aufzuspüren – es blieb einfach nicht mehr genug Zeit. Er würde mindestens eine Stunde brauchen, um den Uhrenturm zu erreichen. Vorausgesetzt, dass sie herausfanden, wie man die Glocken läutete, würden sie längst fort sein, bis er dort eintraf.
Nicholais Miene verfinsterte sich. Er rief sich in Erinnerung, dass sich sein Plan nicht geändert hatte, dass er nach wie vor eine Agenda zu erfüllen hatte. Vier Menschen warteten auf ihn, ohne es zu wissen. Nach Dr. Aquino waren da noch die Soldaten – Chan und ein Sergeant Ken Franklin – und der Fabrikarbeiter, Foster. Wenn sie alle aus dem Weg geräumt waren, musste Nicholai immer noch ihre Daten zusammentragen, ein Treffen arrangieren und mit dem Helikopter verschwinden. Er hatte viel zu tun … dennoch fühlte er sich durch die Umstände betrogen.
Er blieb stehen und neigte den Kopf zur Seite. Er hörte ein Krachen, etwas wie einen Aufprall, weiter westlich, vielleicht sogar eine kleine Explosion, die von der Entfernung gedämpft wurde. Eine Sekunde später spürte er eine ganz leichte Erschütterung der Schienen. Die Gleise verliefen in der Mitte einer Hauptstraße, alles Mögliche, was solide war, konnte ihnen einen Ruck versetzt haben …
– aber ich weiß, dass sie es waren – Mikhail und Carlos und Jill Valentine. Sie sind gegen etwas gefahren, oder etwas ist mit der Maschine schief gegangen, oder …
Oder … er wusste nicht, was, aber er war plötzlich ganz sicher, dass sie in Schwierigkeiten steckten. Das verstärkte sein positives Gefühl, dass er derjenige mit Talent war. Im Gegensatz zu ihm mussten sie sich auf das Glück zu verlassen, und nicht alles Glück war gut.
Vielleicht sehen wir uns wieder. Alles ist möglich an einem Ort wie diesem.
Links vor ihm, zwischen einem Bürogebäude und einem umzäunten Gelände, ertönte ein gurgelndes Stöhnen, dann ein weiteres. Drei Infizierte schlurften hervor, etwa zehn Meter von der Stelle entfernt, an der Nicholai stand. Sie waren zu weit weg, um sie im wächsernen Mondlicht deutlich zu erkennen, aber er konnte zumindest sehen, dass keiner der drei in guter Verfassung war. Zweien fehlte je ein Arm, und die Beine des Dritten waren irgendwie verkürzt worden, sodass es aussah, als liefe er auf den Kniescheiben. Jeder seiner Schritte erzeugte einen Laut, als schmatze jemand mit den Lippen.
„Uhllg“, beschwerte sich einer von ihnen, und Nicholai schoss ihm ins verwesende Gehirn. Zwei weitere Schüsse und die beiden anderen folgten dem Ersten und brachen auf dem Asphalt zusammen.
Danach ging es Nicholai viel besser. Ob er nun Gelegenheit bekam, seine doppelzüngigen Kameraden wiederzusehen, oder nicht – und er hatte das starke Gefühl, dass es dazu kommen würde –, er war der Überlegene, und er würde am Ende triumphieren.
Diese Gewissheit erfüllte ihn mit neuer Energie. Nicholai verfiel in einen leichten Trab, erpicht darauf, sich der nächsten Herausforderung zu stellen – ganz gleich, welcher Art sie auch sein mochte.