ZWEIUNDZWANZIG
Nicholai hatte ihn eiskalt erwischt. Carlos ließ den Revolver fallen und hob die Hände. Er musste Zeit gewinnen.
Rede mit ihm, errege seine Aufmerksamkeit. Jill braucht dich, du musst zu ihr zurück – ob mit oder ohne Impfstoff.
„Hola, Arschgesicht“, sagte Carlos gelassen. „Ich hab mich schon gefragt, ob ich dich wiedersehen würde, nachdem unsere Fahrgelegenheit zur Stadt hinaus in die Luft gegangen ist. Ein Monster war schuld, ob du’s glaubst oder nicht. Und was gibt’s bei dir Neues? Irgendwas Interessantes gekillt in letzter Zeit?“
Hinter dem hohen Regal, das vor einer der Wände stand, stöhnte jemand vor Schmerz. Nicholai wandte den Blick nicht ab, aber Carlos sah, dass er den richtigen Ton angeschlagen hatte. Nicholai war selbstgefällig, gereizt … und neugierig.
„Ich werde dich umlegen – die Antwort lautet also nein, nichts Interessantes. Sag, ist Mikhail schon gestorben? Und wie geht’s deiner kleinen Freundin, dieser Schlampe, Miss Valentine?“
Carlos sah ihn an. „Beide tot. Mikhail starb in der Straßenbahn, und Jill hat sich das Virus eingefangen. Ich … musste sie erschießen, vor ein paar Stunden erst.“ Er würde hier wahrscheinlich nicht lebend herauskommen, und er wollte nicht, dass Nicholai sich auf die Suche nach Jill machte. Rasch wechselte er das Thema. „Du hast auf Mikhail geschossen, stimmt’s?“
„Das habe ich.“ Nicholais Augen funkelten. Während er sprach, fasste er in seine vordere Tasche und zog etwas heraus, das wie eine Zigarrenhülle aus Metall aussah. „Und wie es das Schicksal so will – ist das hier das Heilmittel für das, was deine Freundin umgebracht hat. Wenn du nur etwas früher gekommen wärst … Ich nehme an, man könnte sagen, dass ich in gewisser Weise zumindest teilverantwortlich bin für ihrer beider Tod, nicht wahr?“
Die Probe. Das Einzige, was Jill jetzt noch retten konnte – und Carlos wurde von dem Irren, der es besaß, mit der Waffe bedroht.
Denk nach! Lass dir was einfallen!
Hinter dem Regal ertönte ein weiteres raues, schmerzerfülltes Wimmern. Carlos neigte den Kopf und konnte einen Mann ausmachen, der in der hintersten Zimmerecke kauerte, gerade noch erkennbar zwischen zwei Aktenstapeln. Sein Gesicht vermochte Carlos nicht zu sehen, aber der Unterkörper des Mannes war blutüberströmt.
„Und mit dem Typen da sind’s drei“, meinte Carlos. Er wollte das Gespräch in Gang zu halten, während er es vermied, den silbernen Behälter, den Nicholai hochhielt, anzusehen. „Was bist du doch für ein Draufgänger, hm? Was ich gern wüsste: Ist es nur Mittel zum Zweck, oder macht es dir einfach Spaß, Menschen zu killen?“
„Ich genieße es, Menschen zu töten, die so nutzlos sind wie du“, antwortete Nicholai und ließ den Impfstoff in eine Tasche gleiten. „Kannst du mir nur einen Grund nennen, weshalb du es verdienen solltest weiterzuleben?“
Der sterbende Mann hinter dem Regal stöhnte abermals auf. Carlos spähte zwischen den Stapeln hindurch und sah, dass der Mann zitternd eine Handgranate umklammerte – der Ring war bereits abgezogen. Carlos realisierte, dass der Mann offenbar so laut gestöhnt hatte, um das dabei entstandene Geräusch zu überdecken, und ein Teil von ihm fand Bewunderung dafür – all das ging ihm in dem einen Moment durch den Kopf, bevor er zurückzuweichen begann, die Hände immer noch erhoben. Bei der Granate handelte es sich um eine RG34, dieselbe Sorte, die in Carlos’ Weste steckte, und er wollte so viel Abstand wie möglich zwischen sich und das Ding bringen.
Lenk ihn ab!
„Ich bin ein ausgezeichneter Schütze, von Natur aus großzügig, und ich benutze jeden Tag Zahnseide“, sagte Carlos, wich einen weiteren Schritt nach hinten und versuchte, den Anschein zu erwecken, als ängstige er sich zutiefst und wolle das mit aufgesetzter Tapferkeit kaschieren.
„Was für eine Verschwendung“, sagte Nicholai lächelnd und streckte den Arm aus.
Wirf das gottverdammte Ding!
„Warum?“, fragte Carlos schnell. „Warum tust du das?“
Nicholais Lächeln dehnte sich zu einem Grinsen aus, dasselbe raubtierartige Grinsen, das Carlos im Hubschrauber auf seinem Gesicht gesehen hatte, und es kam ihm vor, als läge dies bereits eine Million Jahre zurück.
„Ich besitze Führungsqualitäten“, sagte Nicholai, und zum ersten Mal konnte Carlos den Wahnsinn in seinen dunklen Augen sehen. „Das ist alles, was du wissen musst …“
„Stirb!“, schrie der blutende Mann. Carlos nahm ein Aufflackern von Bewegung hinter dem Regal wahr, und dann tauchte er zur Seite weg, versuchte, hinter einen Tisch zu kommen, als ein Fenster zerbrach und …
BUUMMMMMM!
Aktenhefter und Bücher wurden durch die Luft gewirbelt. Zerfetzte Materialien regneten herab, Holz und Papier und Metallteile. Das schwere Regal kippte knarrend um und schlug mit einem gewaltigen Krachen zu Boden. Dann war plötzlich wieder alles ruhig, und überall lag Dreck.
Carlos setzte sich auf, einen Arm vor seinen pochenden Brustkorb gepresst. Der Schmerz trieb ihm Tränen in die Augen. Er blinzelte sie weg, kam auf die Beine und griff sich im Aufstehen den Revolver, der ihm entglitten war.
Nicholai war verschwunden. Carlos stapfte durch den Schutt zur Ecke und entsann sich, dass ein Fenster zerborsten war, bevor die Granate explodierte. Obwohl es draußen dunkel und regnerisch war, konnte Carlos eine Etage tiefer das Dach eines sich anschließenden Gebäudetrakts erkennen.
Bamm! Bamm!
Carlos wich zurück, als zwei Kugeln in die Außenmauer schlugen, kaum eine Handbreite von seinem Gesicht entfernt. Er schalt sich im Stillen einen Narren dafür, dass er den Kopf aus dem Fenster gestreckt hatte wie ein baboso. Er trat zurück, drehte sich um und starrte auf die verbrannten, blutigen Überreste des Mannes, der die Granate geworfen hatte.
„Gracias“, sagte Carlos leise. Er wünschte sich, es wäre ihm noch etwas Besseres einfallen, doch dann entschied er, dass es zu spät für Konversation war. Der Mann war tot, er hörte nichts mehr.
Carlos ging durch den Raum zurück und überlegte, wie er Nicholai noch einholen sollte. Es würde nicht einfach werden, aber ihm blieb keine andere Wahl.
Dann sah er aus dem Augenwinkel das Glitzern von Metall und blieb stehen. Er blinzelte und empfand etwas wie Ehrfurcht, als ihm klar wurde, was er da entdeckt hatte – und dann hob er es auch schon auf, und eine gewaltige Last fiel von seinen Schultern und seinem Herzen.
Es gab Rettung für Jill. Dieser irre pendejo hatte den Impfstoff zurückgelassen.
Schnell bewegte sich Nicholai durch den Regen auf die Vorderseite des Krankenhauses zu. Alles ist bestens, er ist tot – auf Knopfdruck. Und ich drücke diesen Knopf, ich kann den Strom abschalten und ihn schachmatt setzen.
Plötzlich lachte er laut auf und dachte an die Containment-Röhren im Keller, wo die Jäger gelagert wurden. Bei Abschaltung des Stromes wurden die Behälter automatisch abgelassen, damit die Jäger in der sauerstofflosen Flüssigkeit nicht ertranken.
Stirb oder kämpfe und stirb, Carlos. Nicholai war schlau gewesen, er hatte vorausgedacht, und jetzt brauchte er lediglich ein paar Schalter umzulegen, und Carlos stand im Dunkeln, und die amphibienartigen Jäger patschten auf ihn zu, und vielleicht würde Carlos schon tot sein, bevor das Krankenhaus in die Luft ging – aber wie auch immer, tot war er auf alle Fälle.
Jill schlief wieder, und es ging ihr schlecht. Ihr war heiß, alles tat ihr weh, und ihre Träume waren fort – pulsierende, sich windende Schatten waren an ihre Stelle getreten. Schatten mit Mustern, rau und feucht. Übelkeit rang mit unerfüllter Leere, mit elendem Durst und steigender Hitze.
Sie rollte sich erst auf die eine Seite, dann auf die andere, suchte Erlösung von dem kriechenden Jucken, das sich überall in ihr eingenistet hatte und das die hässlichen Schatten wachsen ließ, während sie weiterschlief.
In der Praxis eines Arztes auf der dritten Etage versorgte sich Carlos mit Nadeln, Spritzen und einer halben Flasche Betadin. Außerdem fand er einen Schrank voller Arzneiproben und versuchte die Etiketten zu entziffern. Er suchte nach einem leichten Schmerzmittel – als das Licht ausging.
„Scheiße.“ Er legte die Probe beiseite und versuchte sich in der plötzlichen Dunkelheit zu orientieren. Er brauchte etwa anderthalb Sekunden, um zu der Feststellung zu gelangen, dass wahrscheinlich Nicholai dahinter steckte – und noch eine Sekunde, um zu entscheiden, dass er hier raus musste, und zwar schnell. Nicholai hatte den Strom vermutlich nicht abgeschaltet, nur damit sich Carlos im Dunkeln die Zehen anstieß. Was immer der Wahnsinnige vorhatte, Carlos wollte ihm nicht in die Hände spielen.
Er schob sich aus dem Zimmer auf den Gang hinaus, langsam, die Hände von sich ausgestreckt. Gerade als er die Treppe erreichte, ging summend die Notbeleuchtung des Krankenhauses an und warf weiches, rotes Licht über ihn. Der Schein ließ seine Umgebung fremdartig wirken. Das Licht war gerade hell genug, um sehen zu können, und tauchte alles in düstere Schatten.
Carlos ging die Stufen hinab, zwei auf einmal nehmend, den Daumen am Abzug des Revolvers. Er ignorierte seine schmerzende Seite und beschloss, später zusammenzubrechen – wenn er nicht mehr so in Eile war. Er kannte nur zwei Möglichkeiten, aus dem Krankenhaus zu entkommen – das Fenster, durch das Nicholai gesprungen war, und den Vordereingang. Es gab sicher noch andere Wege, aber er wollte keine Zeit damit verschwenden, sie zu suchen. Seiner Erfahrung nach waren die meisten Krankenhäuser Labyrinthe.
Der Haupteingang war seine beste Chance. Nicholai glaubte vermutlich nicht, dass Carlos den Nerv hatte, schnurstracks aus dem augenfälligsten Portal hinauszumarschieren – jedenfalls hoffte Carlos das.
Er hatte den Treppenabsatz zwischen dem zweiten Stock und dem ersten erreicht, als er irgendwo tief unter sich eine Tür krachen hörte. Das Echo hallte im Treppenhaus wider und ließ ihn schaudern. Das Geräusch, das folgte – der wüste, grunzende Kampfschrei einer zweifellos mutierten Kreatur – setzte ihn wieder in Bewegung. Seine Füße berührten die Stufen kaum, aber er war immer noch nicht schnell genug – gerade als er die letzten Stufen hinunterraste, sprang eine monströse Gestalt vor den Ausgang zum Erdgeschoss.
Sie war riesig, humanoid, groß und breit und troff vor Schleim. Ihr Körper, von dunklem Blaugrün, wirkte in dem schwach roten Licht beinahe schwarz. Mit seinen übergroßen Schwimmflossenhänden und -füßen und seinem riesigen runden Schädel und Maul glich das Wesen noch am ehesten einem gigantischen, auf entsetzliche Weise zerquetschten Frosch.
Der kräftige Unterkiefer klappte nach unten, und ein weiteres durchdringendes, quietschendes Kreischen hallte durch das Treppenhaus. Carlos hörte, wie mindestens drei weitere dieser Kreaturen der ersten antworteten, ein wütender, unheimlicher Chor, der von irgendwo unter ihm herauftönte.
Carlos eröffnete das Feuer. Die erste Kugel traf die Metalltür und erzeugte einen ohrenbetäubenden Geräuschtornado. Bevor er den Abzug erneut drücken konnte, sprang die amphibienartige Kreatur und landete quietschend vor Carlos, die muskulösen Arme weit ausgestreckt.
Reflexartig ließ Carlos sich fallen und schoss, während er mehrere Stufen hinunterrutschte. Dann rollte er sich auf seine unverletzte Seite, sodass er der Bewegung der Kreatur mit der Waffe folgen konnte. Drei, vier Kugeln klatschten in den schleimigen Leib des Froschwesens, als es über ihn hinwegsegelte.
Es war tot, bevor es aufkam. Dunkle, wässrige, brackige Flüssigkeit schäumte aus dem zuckenden Körper.
Carlos kam auf die Beine, rannte los und war halb durch die Tür, als die Artgenossen der Kreatur ihr wildes, trommelfellzerreißendes Lamento anstimmten. Sie waren vielleicht nicht allzu schwer zu töten, aber er wollte gar nicht wissen, wie seine Chancen standen, wenn drei oder mehr von ihnen gleichzeitig auf ihn zusprangen.
Er stürmte in die Eingangshalle und rammte die Tür hinter sich zu. Erst dann merkte er, dass es eines Schlüssels bedurfte, um sie abzuschließen. Er drehte sich und suchte nach etwas, das er benutzen konnte, um die Tür zu blockieren.
Doch stattdessen sah er auf der anderen Seite des Raumes ein kleines weißes Blinklicht, das seinen Blick aus einem schattigen roten Ozean aus zertrümmerten Möbeln und Leichen heraus auf sich zog.
Ein weißes Blinklicht an einem kleinen Kasten, der an einer Säule befestigt war. Das Display eines ablaufenden Zeitzünders.
Carlos versuchte in Gedanken etwas zu finden, das es sonst noch hätte sein können, aber es ihm fiel nichts ein. Er wusste nur, dass es nicht dort gewesen war, als er hier angekommen war. Es war eine Bombe, Nicholai hatte sie dort angebracht, und plötzlich waren die Froschmonster das weitaus kleinere Übel.
Sein Kopf war merkwürdig leer, als er durch die Lobby stampfte, eine gedankenlose, wortlose Panik überkam ihn, drängte ihn, schnell und weit fort zu rennen, keine Zeit mit Nachdenken zu verschwenden. Er stolperte über eine zerstörte Couch und wusste nicht, ob er fiel oder Schmerzen verspürte, er bewegte sich zu schnell. Die Glastüren an der Vorderseite des Gebäudes waren alles, was er sah. Dann war er durch.
Bamm!
Seine Füße platschten über glänzend schwarzen Asphalt. Regen peitschte ihm ins verschwitzte Gesicht. Reihen zertrümmerter und verlassener Autos, im Licht einer Straßenlaterne leuchtend wie nasse Juwelen. Der Trommelschlag seines bebenden Herzens …
… und eine Explosion, so gewaltig, dass sein Gehör sie nicht zur Gänze erfassen konnte, eine Art KA-WHAMM!, das ebenso sehr Bewegung wie Geräusch war. Sein Körper wurde davongeschleudert, ein welkes Blatt in einem heißen, brutalen Hurrikan. Himmel und Erde verbanden sich zu etwas Untrennbarem.
Carlos schlitterte über nasses Pflaster, wurde unsanft von einem Feuerhydranten gestoppt, spürte den enormen Schmerz in seiner Seite und schmeckte das Blut, das ihm aus der Nase lief.
Kaum einen Block entfernt war das Krankenhaus zu einer rauchenden Ruine reduziert worden, und noch immer regneten kleine Trümmer herab, wie tödlicher Hagel. Einige Teile standen in Flammen, aber das Gros des Gebäudes hatte sich einfach aufgelöst. Materie war zu Staub geworden, und dieser Staub senkte sich herab und wurde zu Schlamm, während der Himmel noch immer Wasser über alles schüttete.
Jill!
Carlos rappelte sich auf und machte sich humpelnd auf den Weg zurück zum Uhrenturm.
Nicholai merkte, dass er die Impfstoffprobe verloren hatte, als er vom Krankenhaus fortrannte – als nur noch eine Minute blieb, bevor alles in die Luft fliegen würde. Als es bereits zu spät war.
Er hatte keine andere Wahl, als weiterzurennen, und das tat er, und als das Krankenhaus explodierte, stapfte Nicholai drei Blocks entfernt auf der Straße auf und ab – außer sich vor Zorn. Dermaßen außer sich, dass er nicht merkte, dass das gemarterte Stöhnen, das er hörte, von ihm selbst kam, und auch nicht, dass er die Kiefer fest genug zusammenpresste, um sich zwei Zähne abzubrechen.
Nach einer Weile erinnerte er sich, dass er noch zwei Menschen umzubringen hatte, und er begann sich zu beruhigen. Im Stande zu sein, seiner Wut Ausdruck zu verleihen, würde sich als positiv erweisen. Es war nicht gesund, seine Gefühle zu unterdrücken.
Noch immer galt sein Hauptaugenmerk der Spürhund-Operation. Der Impfstoff war ein Bonus gewesen, ein Geschenk – also hatte er, in gewisser Weise, gar nichts verloren.
Das redete sich Nicholai unaufhörlich ein, während er unterwegs war, um sich Davis Chan zu schnappen. Es ließ ihn sich besser fühlen, wenn auch nicht so gut wie die Erinnerung daran, dass er sein Jagdmesser hatte schärfen lassen, unmittelbar bevor er nach Raccoon gekommen war. Er war sicher, dass Chan dies zu schätzen wissen würde.