ZEHN
Claire tat der Kopf weh. Schon wieder.
Irgendetwas brannte, sie konnte Rauch riechen, und sie fror entsetzlich. Und plötzlich erinnerte sie sich, was geschehen war – der Schnee, das Gebäude, der Crash. Alfred. Sie öffnete die Augen und hob den Kopf, was ihr schwer fiel, da sie immer noch im Sitz festgegurtet war, jetzt allerdings in einem Winkel von etwa 45 Grad vornüber geneigt – und dort war Steve in seinem Sitz. Er bewegte sich nicht.
„Steve! Steve, wach auf!“
Steve stöhnte und murmelte etwas, und Claire atmete etwas leichter. Nach mehreren Versuchen gelang es ihr, den Sicherheitsgurt zu lösen. Sie rutschte aus dem Sitz, blieb in der Hocke, mit den Füßen auf das gestützt, was einmal das Armaturenbrett gewesen war. Wegen des ungünstigen Winkels konnte sie durch die Frontscheibe nicht viel sehen, aber sie schienen sich in einem großen Gebäude zu befinden. Fünfzehn oder zwanzig Meter voraus war eine graue Metallwand, und durch das klaffende Loch auf ihrer Seite des Flugzeugs konnte sie den Teil eines Laufstegs mit Geländer erkennen, der etwa drei Meter unter ihnen verlief.
Und wo sind sie jetzt alle? Oder wo ist irgendjemand?
Wenn es eine Umbrella-Einrichtung war, warum war dann nicht ein Dutzend Soldaten zur Stelle, um sie aus dem Wrack zu schleifen? Oder zumindest ein paar extrem übellaunige Hausmeister …?
Steve kam zu sich. Claire bemerkte an seinem Haaransatz eine hässliche Beule. Sie fasste sich an den Kopf und stellte fest, dass sie über der rechten Schläfe eine ebensolche hatte, etwa zwei Fingerbreit höher als jene, mit der sie … ja, wann eigentlich aufgewacht war? Gestern? Vorgestern?
Hach, wie die Zeit doch verfliegt, wenn man dauernd k. o. geschlagen wird.
„Was brennt denn da?“, fragte Steve, seine Augen öffnend.
„Ich weiß nicht“, erwiderte Claire. In der Kabine lag nur ein Hauch von Rauch, sie nahm an, dass er von einem anderen Teil des Flugzeugs herrührte. Auf jeden Fall wollte sie nicht hier bleiben, um zu sehen, ob es in die Luft ging. „Aber wir sollten schleunigst raus. Glaubst du, dass du laufen kannst?“
„Diese Stiefel wurden fürs Laufen gemacht“, brummelte Steve, und Claire grinste und half ihm mit dem Gurt.
Von den Waffen, die zu ihren Füßen auf einem Haufen lagen, bargen sie, was möglich war – Steves Maschinenpistole und Claires Neunmillimeter. Leider war die Munition knapp, und ein paar Clips waren verschollen. Claire hatte 27 Schuss, Steve 15. Sie teilten sich die Patronen, und nun, da sie nichts mehr an Bord hielt, kletterte Steve hinaus, ließ sich über dem Laufsteg hinab, und die letzten paar Fuß einfach fallen.
„Was gibt’s da draußen?“, fragte Claire, die am Rand des Loches saß und die Waffe hinter ihren Gürtel klemmte. Es war so kalt, dass sie ihren Atem sehen konnte, aber sie war der Meinung, es eine Weile aushalten zu können.
„Nicht allzu viel“, rief Steve zurück und schaute sich um. „Wir sind in einem großen, runden Gebäude – ich glaube, es wurde um einen Minenschacht oder so was herum gebaut. In der Mitte ist ein senkrecht abfallendes Loch. Aber es ist niemand hier.“
Er sah zu Claire hoch und hob die Arme. „Komm runter, ich fang dich auf.“
Das bezweifelte Claire. Er war in guter Form, hatte aber den Körperbau eines Läufers, war nicht sonderlich muskulös. Andererseits konnte sie nicht den ganzen Tag im Flugzeug bleiben, und sie hasste es, aus Höhen zu springen, die ein paar Fuß überschritten, sie brauchte also fraglos eine helfende Hand …
„Ich komme“, sagte sie, schob sich über den Rand des Loches, hielt sich so lange wie möglich fest …
… und dann fiel sie. Steve stieß einen „Umpf“-Laut aus, und dann fanden sie sich beide am Boden wieder, Steve auf dem Rücken, seine Arme um sie gelegt, und Claire auf ihm liegend.
„Gut gefangen“, sagte sie.
„Ach, das war doch gar nichts“, meinte Steve lächelnd.
Er war warm. Und attraktiv und süß und unübersehbar interessiert, und für ein paar Sekunden rührten sie sich beide nicht. Claire genoss es, gehalten zu werden … und Steve wollte mehr, sie erkannte es daran, wie er ihr Gesicht betrachtete.
Um Himmels willen, du bist hier nicht auf Urlaub! Beweg dich!
„Wir sollten wahrscheinlich …“
„… herausfinden, wo wir sind“, beendete Steve den Satz, und obwohl sie Enttäuschung in seinen Augen aufblitzen sah, gab er sich doch alle Mühe, dies zu verbergen. Er seufzte melodramatisch, als er die Arme in vorgetäuschter Resignation sinken ließ. Widerstrebend erhob sie sich und half ihm beim Aufstehen.
Es schien in der Tat ein Minenschacht zu sein, etwa zwanzig Meter im Durchmesser, und der Laufsteg, auf dem sie sich befanden, umlief ihn etwa zur Hälfte in mehreren Stufen; es gab ein paar Leitern, und von ihrem Standort aus konnte Claire mindestens zwei Türen sehen, ganz unten und links von ihnen. Auf ihrer Ebene gab es nur rechts eine Tür, aber Steves Überprüfung ergab, dass sie abgeschlossen war.
„Und? Was glaubst du, wo die alle sind?“, fragte er mit gesenkter Stimme. So gewaltig und leer wie der Raum war, bestand die Gefahr eines Echoeffekts.
Claire schüttelte den Kopf. „Schneemänner bauen?“
„Ha-ha“, machte Steve. „Sollte Alfred jetzt nicht eigentlich mit einem Flammenwerfer oder so was herausspringen?“
„Ja, wahrscheinlich“, sagte Claire. Denselben Gedanken hatte sie auch schon gehabt. „Vielleicht ist er noch nicht hier, oder er hat nicht damit gerechnet, dass wir abstürzen, und vielleicht ist er deswegen in einem anderen Gebäude, bei dem wir eigentlich landen sollten … wir sollten also besser die Fliege machen. Wenn wir es zu einem dieser anderen Flugzeuge schaffen, bevor er uns findet …“
„Okay, los“, sagte Steve. „Sollen wir uns trennen? So könnten wir effektiver suchen und die Sache beschleunigen.“
„Wo Alfred hier irgendwo herumrennt? Ich stimme mit Nein“, erwiderte Claire, und Steve nickte. Er wirkte erleichtert.
„Also … da lang“, sagte Claire und ging auf die erste Leiter zu. Steve folgte ihr auf dem Fuße.
Sie kletterten hinab und standen wenig später vor der nächsten Tür, eine Doppeltür sogar, die vom Steg aus etwas zurückversetzt – und ebenfalls abgeschlossen war. Steve erbot sich, sie einzutreten, aber Claire schlug vor, es erst einmal bei den anderen zu versuchen. Die Ruhe hier bereitete ihr zunehmendes Unbehagen, und sie wollte nicht, dass der widerhallende Lärm einer aufgebrochenen Tür ihre Anwesenheit verriet. Obwohl – die müssten ja im Koma liegen, wenn sie den Crash nicht gehört oder gespürt haben …
Weiter ging es zur nächsten Tür, die einzige vor einer Öffnung in der Wand, hinter der eine Treppe nach unten führte. Claire rüttelte am Knauf, und dieser ließ sich problemlos drehen. Sie machten ihre Waffen klar, für alle Fälle – und auf ein Nicken von Steve hin drückte Claire die Tür auf …
… und spürte, wie ihr Mund vor Schrecken aufklappte.
Ist denn das die Möglichkeit?
Es war ein Schlafraum, finster und stinkend, und auf das Geräusch der sich öffnenden Tür hin wandten sich drei oder vier Zombies um und kamen auf Claire und Steve zu. Sie waren frisch infiziert, der Großteil ihrer Haut noch intakt. Mindestens einer von ihnen begann allerdings schon zu verwesen, der widerliche Gestank verfaulenden Gewebes hing schwer in der kalten Luft.
Steve war blass geworden, und als er die Tür zuschlug, schluckte er hart und wirkte und klang, als sei ihm fürchterlich schlecht. „Einer dieser Typen hat auf Rockfort gearbeitet. Er war Koch.“
Natürlich! Claire hatte einen Moment lang geglaubt, es sei auch hier zu einem Virusausbruch gekommen, aber das wäre nun wirklich ein zu großer Zufall gewesen. Zumindest eines der Flugzeuge draußen musste von der Insel gekommen sein, wahrscheinlich mit einem Haufen panischer Angestellter an Bord – vermutlich keine Wissenschaftler –, denen nicht bewusst war, dass sie die Infektion quasi im Gepäck führten.
Noch mehr kranke und sterbende Virus-Kannibalen … und was sonst noch? Claire schauderte bei dem Versuch, sich vorzustellen, was für eine Art von Soldat Umbrella wohl für ein arktisches Einsatzgebiet entwickelte … und welche von Natur aus hier heimische Tiere vor ihrem Eintreffen infiziert worden sein mochten.
„Wir müssen hier raus, das steht fest“, sagte Steve.
Hm, vielleicht wurde Alfred ja gefressen, dachte Claire. Wunschdenken, auch wenn sie fraglos ein bisschen Glück verdient hätten. „Gehen wir.“
Die letzte Stelle, die es zu überprüfen gab, eine Wendeltreppe, markierte das Ende des Stegs; sie führte hinab in nahezu absolute Finsternis. Claire entsann sich der Streichhölzer, die sie auf Rockfort gefunden hatte, reichte Steve ihre Waffe und fischte das Päckchen aus ihrer Tasche; sie gab ihm die Hälfte der Hölzchen, bevor sie ihre Waffe wieder entgegennahm. Steve übernahm die Führung, riss auf etwa halbem Weg die Treppe hinunter zwei Zündhölzer an und hielt sie hoch. Sie gaben nicht viel Licht ab, aber es war besser als nichts.
Sie erreichten das untere Ende der Treppe und schoben sich in einen schmalen Gang. Claire war höchst wachsam. Irgendetwas stank wie fauliges Getreide, und obwohl sie keine Bewegung hören konnte, hatte sie doch das Gefühl, dass sie nicht allein waren. Im Allgemeinen vertraute sie ihrem Instinkt blind, aber es war so still hier, nicht einmal das Flüstern eines Geräusches oder einer Bewegung war auszumachen …
Nur die Nerven, dachte sie hoffnungsvoll.
Ihr Blick reichte nur etwa einen Meter voraus, aber sie bewegten sich so schnell wie möglich; das Gefühl, völlig ungeschützt und verletzbar zu sein, trieb sie voran.
Ein paar weitere Stufen, dann konnte Claire sehen, dass sich der Gang verzweigte. Sie konnten entweder geradeaus oder nach links gehen.
„Was meinst du?“, flüsterte Claire – und plötzlich explodierte der Gang in Bewegung. Flügel schlugen, und der Fäulnisgestank spülte über sie hinweg. Steve fluchte, als die Streichhölzer verloschen und die Dunkelheit vollkommen machten. Etwas strich über Claires Gesicht, fedrig, leicht und lautlos, und sie schlug reflexartig und angeekelt danach. Sie bekam eine Gänsehaut, aber sie wusste nicht, wohin oder auf was sie schießen sollte.
„Komm!“, rief Steve, packte ihren Oberarm und zerrte sie vorwärts. Atemlos stolperte sie ihm hinterher, und wieder berührte etwas Flatterndes ihr Gesicht, trocken und staubig.
Und dann zog Steve sie durch eine Tür, die er hinter ihnen zuschlug. Beide ließen sie sich dagegen sinken. Claire schauderte, völlig angewidert.
„Motten“, sagte Steve. „Mann, waren die groß, hast du sie gesehen? So groß wie Vögel, wie Falken …“ Sie konnte hören, wie er ausspuckte, als versuche er, seinen Mund zu säubern.
Sie antwortete nicht, suchte stattdessen nach einem Streichholz. Der Raum war stockdunkel, und sie wollte sichergehen, dass keins von den Biestern mehr herumflatterte. Motten, pfui Teufel! Irgendwie schienen sie ihr schlimmer als jeder Zombie, wie sie jemanden streifen, jemanden ins Gesicht flattern konnten – sie schauderte abermals und riss ihr Streichholz an.
Steve hatte sie in ein Büro gezerrt, das scheinbar frei von Riesenmotten und anderen Umbrella-Unannehmlichkeiten war. Sie sah zwei Kerzenleuchter auf einer Truhe zu ihrer Rechten und nahm sie sofort auf, entzündete die halb niedergebrannten Kerzen und reichte Steve eine davon, bevor sie sich umschaute. Das weiche Kerzenlicht erfüllte ihren Zufluchtsort mit flackernden Schatten. Ein Schreibtisch aus Holz, Regale, ein paar gerahmte Gemälde – das Zimmer war überraschend hübsch, in Anbetracht der reinen Zweckmäßigkeit des Rests dieses Ortes. Es war auch nicht kalt. Sie suchten rasch nach Waffen und Munition, fanden jedoch nichts.
„Hey, vielleicht steht da drin etwas, das uns nützt“, sagte Steve mit einer Geste zum Schreibtisch hin. Dort lagen eine Anzahl von Papieren und ein paar Karten – aber Claire interessierte sich plötzlich mehr für den weißlichen Klumpen, der hinten an seiner rechten Schulter klebte.
„Halt still“, sagte sie und trat hinter ihn. Eine zähe, netzartige Schmiere hielt das Ding fest, der Klumpen selbst war knapp zehn Zentimeter lang und irgendwie unförmig, wie ein gedehntes Hühnerei.
„Was ist das? Nimm’s weg“, sagte Steve angespannt, und Claire hielt die Kerze näher hin und stellte fest, dass das weiße Gebilde nicht ganz lichtundurchlässig war. Sie konnte hineinsehen, ein wenig …
… wo sich eine fette, weiße Larve wand, eingehüllt in durchsichtiges Gallert. Es war ein Ei, die Motte hatte ein Ei auf seine Schulter gelegt!
Claire wollte sich übergeben, riss sich aber zusammen und hielt nach etwas Ausschau, mit dem sie das Ei packen konnte. In einem Mülleimer neben der Truhe befand sich zerknülltes Papier, davon nahm sie ein Stück.
„Einen Moment noch“, sagte sie, erstaunt, wie gelassen sie klang, als sie das Ei von Steves Schulter pflückte. Es wollte sich nicht lösen, das feuchte, netzähnliche Zeug war hartnäckig, aber sie schaffte es und ließ es sofort zu Boden fallen. „Ich hab’s.“
Steve drehte sich um und ging neben dem Stück Papier in die Hocke, hielt seinen Kerzenleuchter nach vorne – und erhob sich abrupt. Die Übelkeit stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er stampfte mit dem Stiefel fest auf das Ei, und klares Gallert spritzte unter der Sohle hervor.
„O Mann“, sagte er mit nach unten gezogenen Mundwinkeln. „Erinnere mich später dran, dass ich kotze, nachdem wir was gegessen haben. Und wenn wir das nächste Mal da durchgehen – keine Streichhölzer!“
Er untersuchte ihren Rücken, fand nichts, Gott sei Dank nicht, und dann teilten sie sich die Dinge, die auf dem Schreibtisch lagen. Steve nahm die Karten und setzte sich auf den Boden, Claire sah die Papiere am Schreibtisch durch.
Inventarliste, Rechnung, Rechnung, Liste … Claire hoffte, dass Steve mehr Glück hatte. Demzufolge, was sie den Unterlagen entnehmen konnte, befanden sie sich in einer Einrichtung, die Umbrella „Transport-Terminal“ nannte, was immer darunter auch zu verstehen sein mochte, und das Ganze war um eine aufgelassene Mine herum gebaut worden. Claire war nicht sicher, was genau hier gefördert worden war, aber es gab eine Reihe von Quittungen neueren Datums für einige teure Gerätschaften und eine Riesenmenge Baumaterial. Fast genug, um eine kleine Stadt zu errichten.
Claire fand eine Anzahl von Memos, die zwei außerordentlich langweilige Herren ausgetauscht hatten und in denen es um Umbrellas Budgetzuteilung für das kommende Jahr ging. Noch langweiliger wurde es dadurch, dass alles absolut legal zu sein schien. Das Büro, in dem sie sich befanden, gehörte einem dieser beiden Männer, einem Tomoko Oda, und in einem Schreiben von ihm stieß sie endlich auf etwas, das ihre Aufmerksamkeit weckte, ein Postskriptum auf einem seiner langen Finanzberichte, der gerade mal eine Woche alt war.
P. S.: Erinnern Sie sich übrigens an die Geschichte von dem „Monster“-Gefangenen, die Sie mir erzählten, als ich hierher kam? Lachen Sie nicht, aber ich habe ihn nun endlich selbst gehört, vor zwei Nächten, in eben diesem Büro. Es war genauso Furcht erregend, wie die Geschichten es behaupten, eine Art wütendes, stöhnendes Schreien, das von den unteren Ebenen heraufhallte. Mein Werkmeister sagte mir, dass Arbeiter es seit etwa 15 Jahren hören, fast immer spät nachts – das beliebteste Gerücht besagt, er würde deshalb so schreien, weil man seine Fütterungszeit versäumt hat. Ich habe aber auch gehört, dass er ein Geist sein soll, ein Schwindel, ein schief gelaufenes wissenschaftliches Experiment oder sogar ein Dämon. Ich habe mir noch keine eigene Meinung gebildet, und da keinem von uns dort unten der Zugang gestattet ist, nehme ich an, dass es auch weiterhin ein Geheimnis bleiben wird. Ich muss Ihnen allerdings gestehen, dass ich keine Lust habe, weiter als nach B2 hinabzusteigen, seit ich dieses entsetzliche, irrsinnige Heulen gehört habe.
Sagen Sie mir bitte wegen dieser Ventilbolzen-Lieferung Bescheid. Grüße, Tom.
Es hatte den Anschein, als wüssten die Arbeiter oben nicht allzu viel über das, was unten vorging. Was wahrscheinlich besser für sie war, dachte Claire … obwohl, angesichts der momentanen Situation, vielleicht auch nicht.
Steve lachte plötzlich auf, ein kurzes, triumphierendes Bellen, und erhob sich mit einem breiten Grinsen. Er klatschte eine politische Karte der Antarktis auf den Schreibtisch.
„Wir sind hier“, sagte er und zeigte auf einen roten Punkt, den jemand eingezeichnet hatte, „etwa auf halber Strecke zwischen diesem japanischen Außenposten, Dome Fuji, und dem Pol selbst, auf australischem Gebiet. Und genau hier befindet sich eine australische Forschungsstation – zehn, höchstens fünfzehn Meilen entfernt.“
Claire spürte, wie ihr Herz einen Takt übersprang. „Das ist ja großartig! Verdammt, das könnten wir vielleicht sogar zu Fuß schaffen, wenn wir eine anständige Ausrüstung fänden …“
… und wenn wir aus diesem Keller rauskämen, dachte sie, und ihre Begeisterung legte sich ein wenig.
Steve faltete eine zweite Karte auseinander und breitete sie aus. „Warte, das war noch nicht die gute Nachricht. Sieh dir das an.“
Die Fotokopie eines Bauplans. Claire studierte die handgezeichneten Diagramme, Seitenansichten und Draufsichten eines großen Gebäudes und seiner drei Etagen, die Ebenen und Räume säuberlich markiert – und dann stand sie auch auf, weil sie zu aufgeregt war, um stillzusitzen. Es handelte sich um einen Detailplan des Gebäudes, in dem sie sich befanden und das nicht groß, aber … tief war.
„Hier sind wir jetzt“, sagte Steve und deutete auf ein kleines, rechteckiges Etikett, auf dem „Manager’s Office“ stand, auf Ebene B2. Er fuhr mit dem Finger abwärts, nach links und weiter nach unten, bis zu einem seltsam geformten Bereich am unteren Ende des Diagramms; es sah aus wie ein großes, auf der Seite liegendes Fragezeichen. Winzige schwarze Buchstaben bezeichneten es als „Grubenraum“ und von dort führte ein mit dünnen Bleistiftstrichen eingezeichneter Tunnel weg, neben dem „Zur Oberfläche/nicht fertig gestellt“ stand, ebenfalls mit Bleistift geschrieben.
„Und dort müssen wir hin“, vollendete Claire und schüttelte ungläubig den Kopf. Die Karte, die Steve gefunden hatte, würde sie vermutlich davor bewahren, stundenlang herumzuirren, und angesichts der wenigen Munition, die sie noch hatten, mochte sie ihnen außerdem das Leben retten.
„Ja. Wenn wir auf irgendwelche verschlossenen Türen stoßen, brechen wir sie auf oder zerschießen vielleicht die Schlösser“, sagte Steve optimistisch. „Und es ist nur eine Minute von hier. Wir werden in Nullkommanichts wieder in der Luft sein.“
„Da steht, dass der Tunnel nicht fertig gestellt ist …“, begann Claire, aber Steve unterbrach sie.
„Und? Wenn noch daran gearbeitet wird, dann liegen da sicher irgendwelche Werkzeuge herum“, meinte er gut gelaunt. „Ich meine, da steht doch,Grubenraum‘, oder?“
Sie konnte seiner Logik nicht widersprechen und wollte es auch nicht. Es war fast zu schön, um wahr zu sein, und sie war mehr als nur bereit für ein paar gute Neuigkeiten … aber es bedeutete auch, dass sie noch einmal durch „Mottenhausen“ laufen mussten. Doch diesmal waren sie darauf vorbereitet.
„Dafür hast du etwas gut bei mir“, sagte Claire, ihrer eigenen Begeisterung nachgebend.
Steve hob unschuldig die Augenbrauen. „Ach ja? Was denn genau?“
Sie wollte gerade antworten, dass sie für Vorschläge offen sei, als ein unerwartetes, alarmierendes Geräusch sie innehalten ließ; es drang aus dem Nichts und zugleich scheinbar von überall her in das Büro. Für einen Sekundenbruchteil dachte sie, es seien irgendwelche Luftschutzsirenen, weil es so laut und durchdringend war, aber keine Sirene begann so tief und dumpf und steigerte sich derart, beschwor ein solches Angstgefühl herauf. In diesem Laut lag Zorn, blinde Wut, so absolut, dass es nicht zu begreifen war.
Erstarrt lauschten sie, wie sich der unfassbare, grässliche Schrei dehnte und schließlich erstarb; Claire fragte sich, wie lange die Fütterungszeit überschritten sein mochte. Sie zweifelte nicht daran, dass es sich um eine von Umbrellas Schöpfungen handelte. Kein Geist vermochte derartige Laute zu verursachen, und keine Menschenseele konnte von solcher Rage erfüllt sein.
„Lass uns gehen“, sagte Claire leise, und Steve nickte. Seine Augen waren groß, sein Blick bang, als er die Karten zusammenfaltete und wegsteckte.
Sie machten ihre Waffen schussbereit, legten sich rasch einen Plan zurecht, und auf drei stieß Steve die Tür auf.
Während das Brüllen der Monstrosität verhallte, lächelte Alfred sie durch die dicken Gitterstäbe ihrer kahlen, dunklen Zelle an und bewunderte das Werk seiner Schwester. Er hatte ihr geholfen, natürlich, aber sie war das Genie, das das T-Veronica-Virus erschaffen hatte, und das im Alter von nur zehn Jahren … und obschon sie ihr erstes Experiment als Fehlschlag erachtet hatte, war Alfred völlig anderer Ansicht. Das Ergebnis war auf einer persönlichen Ebene zutiefst befriedigend.
Die Dinge waren jetzt so viel klarer, seit dem Augenblick, da er Rockfort verlassen hatte. Erinnerungen waren zurückgekehrt, Dinge, die er begraben oder verloren hatte, Gefühle, die er einst gehegt und vergessen hatte. Nach fünfzehn Jahren in einer grauen Zone umnebelter Verwirrung und unbeständiger Fantasien hatte Alfred das Gefühl, dass endlich Ordnung in seine Welt einkehrte – und er verstand nun, warum ihr Heim angegriffen worden war und welch ein Glücksfall das für ihn gewesen war.
„Sie wussten auch, dass es an der Zeit war, weißt du?“, sagte Alfred. „Wäre der Angriff nicht gewesen, hätte ich vielleicht weiterhin geglaubt, dass sie bei mir sei.“
Belustigt sah er, wie die Monstrosität ihren scheußlichen Kopf in Richtung der Tür neigte und lauschte. Sie war an ihren Stuhl gekettet, eine Binde lag um ihre Augen, die Hände waren ihr auf den Rücken gebunden … und obwohl sie seit anderthalb Jahrzehnten zu keinem echten Gedanken mehr imstande war, reagierte sie doch auf die Laute von Worten. Vielleicht erkannte sie sogar seine Stimme, auf irgendeiner animalischen, instinktiven Ebene.
Sie müsste es eigentlich fühlen, dachte Alfred. Er wollte nicht, dass die Monstrosität starb, ehe Alexia erwachte … aber das würde schon bald geschehen, sehr bald – vielleicht hatte der Prozess bereits begonnen. Der Gedanke, dass er ihrer wundersamen Wiedergeburt beiwohnen durfte, erfüllte ihn mit Staunen.
„Ich habe sie so vermisst“, seufzte Alfred. So sehr, dass er ein Spiegelbild von ihr erschaffen hatte, um mit diesem die einsamen Jahre des Wartens zu teilen. „Doch bald wird sie als herrschende Königin in Erscheinung treten, mit mir als ihrem getreuen Soldaten, und nichts wird uns je wieder trennen.“
Und das erinnerte ihn an seine letzte Aufgabe, ein letztes Ziel, das es zu erreichen galt, bevor er in aller Ruhe abwarten konnte. Seine Freude über die Entdeckung des abgestürzten Flugzeugs war von kurzer Dauer gewesen. Er hatte es leer vorgefunden, aber nachdem er sich den Grundriss des Terminals wieder in Erinnerung gerufen hatte, war ihm klar gewesen, dass das dumme Pärchen nur an zwei Orten sein konnte. Er hatte sich aus der Waffenkammer in einem der anderen Gebäude ein Scharfschützengewehr geholt, eine 30.06 Bolt Action Remington mit einem Vergrößerungszielfernrohr, ein wunderbares Spielzeug, und er war entschlossen, es auszuprobieren. Er konnte es nicht zulassen, dass Claire und ihr kleiner Freund in einem unpassenden Moment auftauchten und die Feier ruinierten …
Plötzlich begann Alfred zu lachen – als ihm ein Juwel von einer Idee kam. Die Monstrosität musste fressen … warum nicht die beiden Wichte? Claire Redfield hatte die Vernichtung über Rockfort gebracht, hatte versucht, den Namen Ashford zu besudeln, genau wie es die Monstrosität getan hatte, in gewisser Weise.
Er wird die feindlichen Agenten verschlingen, zu Ehren von Alexias Rückkehr … und dann werden wir eine private Wiedervereinigung der Familie feiern, nur wir drei.
Auf das Geräusch seines Lachens hin wurde die Monstrosität unruhig und zerrte mit solcher Kraft an ihren Ketten, dass Alfred aufhörte zu lachen. Sie entließ ein weiteres gewaltiges, lang anhaltendes Brüllen, rang um ihre Freiheit, aber Alfred war überzeugt, dass die Fesseln noch ein wenig halten würden.
„Ich bin bald wieder da“, versprach er, nahm sein Gewehr auf und ging davon. Dabei fragte er sich, wie Claire es wohl finden würde, seinen und Alexias Vater unter solch ungewöhnlichen Umständen kennen zu lernen – nämlich anlässlich ihres eigenen Todes. Die Monstrosität wurde von Körperwärme und dem Geruch von Angst angezogen, das glaubte Alfred jedenfalls gern, und er freute sich sehr darauf, mit ansehen zu können, wie Claire hilflos durch die Dunkelheit pirschte.
Als Alfred die Treppe zur zweiten Kellerebene hinaufstieg, schrie Alexander Ashford abermals, wie er es auch vor fünfzehn Jahren getan hatte, als seine eigenen Kinder ihn unter Drogen gesetzt und ihm das Leben gestohlen hatten.