ACHTZEHN
Carlos sah zu, wie Jill ein weiteres Mal die Leiter nach oben kletterte und versuchte, seine Hoffnung im Zaum zu halten. Wenn das nicht klappte, würde er sauer … nein, stinksauer sein.
Zum Teufel damit. Wenn das nicht klappt, sollten wir einfach zu Fuß verschwinden oder zusehen, dass wir es zu dieser Fabrik schaffen und uns dort ein Fahrzeug stehlen. Sie hat Recht, diese Leute sind andar lurius, verloren im Weltraum. Je eher wir aus ihrem Territorium rauskommen, desto besser.
Ein paar Momente lang starrte er mit leerem Blick auf den dunklen Vorplatz hinaus, so übermüdet, dass er sich fragte, wie er noch irgendetwas tun, auch nur einen einzigen Schritt machen sollte; es schien ihm unmöglich. Alles, was ihn noch aufrecht hielt, war sein Wunsch von hier zu verschwinden, diesen Holocaust hinter sich zu lassen und zu versuchen, neue Kraft zu schöpfen.
Als der erste gewaltige Glockenschlag erschallte, der tiefe, hohle Ton unter der Turmspitze hervorrollte, stellte Carlos fest, dass er seine Hoffnung nicht bezähmen konnte. Er versuchte es, redete sich ein, dass sich ein Fehler in dem Programm zeigen würde, redete sich ein, dass Umbrella Killer schicken oder dass der Pilot ein Zombie sein würde. Aber nichts half. Ein Helikopter würde kommen und sie abholen, er wusste es, er glaubte es. Er hoffte nur, dass das Rettungsteam keine Schwierigkeiten haben würde, einen Landeplatz zu finden …
Scheinwerfer! Es gab vier davon auf dem Sims und einen rostigen Schaltkasten nahe der Tür, die ins Innere des Turmes führte. Das Licht würde den Transporter schneller zu ihnen führen. Carlos eilte darauf zu und spähte nach oben, um nachzusehen, ob Jill schon wieder herunterkam, was nicht der Fall war …
… und als er wieder nach vorne blickte, sah er, dass er nicht mehr allein war. Wie durch Zauberei war der gigantische, verstümmelte Freak, der Jill gejagt hatte, plötzlich einfach da, und zwar so nahe, dass Carlos verbranntes Fleisch riechen konnte. Das Monster knurrte wütend und richtete seine hässlichen Schweinsaugen zum oberen Ende der Leiter hinauf.
„Carlos, pass auf!“, schrie Jill von oben herunter, aber das Nemesis-Ungeheuer ignorierte ihn völlig, machte einen riesenhaften Schritt auf die Leiter zu, und die augenlosen Schlangen, die seine Tentakel waren, peitschten um seinen monströsen Schädel. Noch ein Schritt, und das Ding würde die Leiter erreicht haben – und Jill säße in der Falle.
Sie sagte, Kugeln machen ihm nichts aus.
Carlos war verzweifelt. Er wollte unbedingt etwas unternehmen. Dann sah er den grünen Schalter im Steuerungskasten für die Scheinwerfer und hetzte darauf zu, selbst unsicher, was er eigentlich vorhatte. Wenn sie Glück hatten, konnte er das Ding vielleicht ablenken …
… und alle vier Lampen flammten gleichzeitig auf – blendend hell!
Sofort wurde die Luft um sie herum wärmer. Der Turm wurde in einer Weise angestrahlt, dass er wahrscheinlich meilenweit zu sehen war. Einer der Lichtbalken fuhr direkt in das entsetzliche Gesicht des Freaks und ließ ihn nach hinten stolpern. Riesige Hände bedeckten die mutierten Augen – und Carlos handelte.
Mit erhobenem M16 rannte er auf das geblendete Ungetüm zu und rammte ihm das Gewehr gegen die Brust. Danach drückte er so fest, wie er konnte. Aus dem Gleichgewicht gebracht taumelte das Monster rückwärts. Seine Beine prallten gegen das alte Geländer …
… und mit einem Knirschen und Knacken gab ein breiter Teil der Brüstung nach, stürzte in die Dunkelheit – und Nemesis fiel hinterher.
Carlos hörte einen Übelkeit erregenden Aufschlag am Boden, und gleichzeitig erloschen die überhitzten Scheinwerfer und ließen glühende, dunkle Schemen vor seinen Augen tanzen.
Das mächtige Läuten der Glocken erfüllte auch weiterhin die Luft, während Jill die Leiter herabkletterte, zu Carlos an das zerbrochene Geländer trat und den Granatwerfer von der Schulter nahm.
„Ich … danke!“, sagte sie und sah ihm offenen und festen Blickes in die Augen. „Wenn du die Scheinwerfer nicht eingeschaltet hättest, wäre ich jetzt tot. Vielen Dank.“
Carlos war beeindruckt, und ihre Offenheit machte ihn ein wenig nervös. „De nada“, erwiderte er, und plötzlich war ihm nur zu bewusst, wie anziehend sie auf ihn wirkte – nicht nur ihres Aussehens wegen –, und wie wenig Erfahrung er im Umgang mit Frauen hatte. Er war ein autodidaktischer, 21-jähriger Söldner, und er hatte bisher weder viel Zeit noch Gelegenheit gehabt, um mit Frauen auszugehen.
Sie kann nicht viel älter sein als ich, höchstens fünfundzwanzig, und vielleicht …
Jill schnippte vor ihm mit den Fingern, holte ihn in die Wirklichkeit zurück und erinnerte ihn daran, wie müde er war. Er war völlig weggetreten gewesen.
„Bist du noch bei mir?“
Carlos nickte und räusperte sich die Kehle frei. „Ja, entschuldige. Hast du was gesagt?“
„Ich sagte, wir müssen weiter. Wenn das Ding noch so munter ist, nachdem es eine Granate ins Gesicht bekommen hat, bezweifele ich, dass ein Sturz aus dem ersten Stock es umbringen wird.“
„Richtig“, sagte Carlos. „Wir sollten vor dem Turm bleiben. Wahrscheinlich werden sie uns ein Gurtgeschirr herunterwerfen, wenn sie nicht landen können.“
Jill nickte. „Also los.“
Motiviert von der tiefen Stimme der läutenden Glocken, fragte sich Carlos unvermittelt, ob Nicholai wohl noch am Leben war – und wenn ja, was er wohl tun würde, wenn er das Läuten hörte.
Nicholai hörte die Glocken, als er auf dem Weg zurück in die Stadt war – und schnaubte verärgert. Er ließ sich davon nicht ködern. Er hatte nicht erwartet, dass das unfähige Trio es schaffen würde, aber was machte es schon, dass es ihnen doch gelungen war? Davis Chan hatte einen weiteren Bericht geschickt, ausgerechnet von einer Modeboutique aus, und Nicholai hatte vor, ihn aufzuspüren.
Und warum sollte es mich kümmern, ob sie mit ihrem lausigen Leben davonkommen – angesichts dessen, was ich habe?
Zum dritten Mal, seit er das Krankenhaus verlassen hatte, zog Nicholai den flachen Metallbehälter aus seiner Tasche. Er konnte einfach nicht widerstehen. Darin befand sich eine Glasphiole mit einer violetten Flüssigkeit, die er selbst synthetisiert hatte, mit Hilfe einer Anleitung, die Aquinos Assistent umsichtigerweise hinterlassen hatte.
Nicholai wusste, dass es am sichersten gewesen wäre, die Probe irgendwo zu verstecken, doch der kleine Behälter repräsentierte seinen neuen, erhabenen Status Umbrella gegenüber – er war ein Führer, Geringeren überlegen, und er fand, dass es ihm das Gefühl von Macht und eine gewisse Bodenständigkeit verlieh, den Impfstoff bei sich zu tragen und von Zeit zu Zeit in Händen zu halten.
Lächelnd schob Nicholai den Behälter in seine Tasche zurück, so, dass er leicht zu greifen war, und ging weiter. Die Glocken ignorierte er bewusst. Die Dinge liefen hervorragend – er hatte den Impfstoff, er wusste, wo Chan sich aufhielt und wo Franklin in weniger als 48 Stunden sein würde. Er hatte bereits Vorkehrungen getroffen, um das Krankenhaus in die Luft zu jagen, und er würde den Knopf drücken, sobald sein Treffen mit Franklin vorüber war. Nicholai dachte daran, zur Fabrik hinüberzugehen und Terence Foster auszuschalten, während er auf Franklin wartete, es war jede Menge Zeit dafür …
Genau wie ich glaubte, jede Menge Zeit zu haben, um Mikhail zu verfolgen, das edelmütige Teammitglied zu spielen oder zu entscheiden, wer von ihnen zuerst sterben dürfe …
Die lärmenden Glocken schienen auf ihn einzuschlagen, ihn an sein Versagen erinnern zu wollen, aber er ließ nicht zu, dass ihn die Flucht dreier Unfähiger ablenkte. Er näherte sich der Stadt, er konnte den vereinigten Schein Hunderter kleiner und größerer Feuer sehen, der das Dunkel der Stadt durchbrach. Selbst wenn er wollte, würde er es nicht zum Uhrenturm schaffen, ehe der Hubschrauber eintraf. Und er wollte es gar nicht, er hatte Gelegenheit gehabt, nachdem er Aquino tötete – und beschlossen, dass seine Zeit dafür zu kostbar war. Es war die richtige Entscheidung … und die seltsamen Zweifel, die sich beim Klang der Glocken in ihm entfalteten, musste er verdrängen. Es bedeutete nichts, dass sie überlebt hatten, und es bedeutete schon gar nicht, dass sie so gut wie er waren.
Außerdem hatte er noch ein paar Spürhunde zu erledigen, um sein Informationsmonopol zu sichern. Er nahm an, dass Chan sich vermutlich in dem Laden, von dem aus er seinen Bericht geschickt hatte, einquartieren würde. Schließlich war es schon spät. Nicholai würde ihn töten, seine Daten an sich nehmen und sich irgendwo in der Stadt ausruhen. Beim Spürhund-Briefing hatte er gehört, dass Nahrungsmittel knapp waren, aber er war sicher, dass er klarkommen würde – er würde vielleicht ein paar Speisekammern nach Lebensmittelkonserven durchkämmen müssen. Am Morgen würde er seinen eigenen Bericht absenden, seine Deckung wahren, und den Tag würde er damit zubringen, selbst auf Informationsjagd zu gehen, bevor er wieder nach Westen aufbrach.
Alles war in Ordnung, und während er allmählich über die Vororte in die Stadt gelangte, störte ihn das Geräusch eines näherkommenden Hubschraubers nicht im Geringsten. Sollten diese rückgratlosen, Scheiße fressenden Bastarde doch davonrennen – er fühlte sich großartig, hatte alles unter Kontrolle, ihm ging es besser denn je.
Er hatte nur Kopfschmerzen wegen dieser verdammten Glocken.
Sie folgten dem größten Teil des verschlungenen Weges durch den Uhrenturm, weil Jill sichergehen wollte, dass Nemesis entweder konfus davon wurde oder den Rückzug antrat, bevor sie hinausgingen, um den Hubschrauber zu erwarten. Während des Gehens bastelten sie sich eine Story zurecht, die sie denjenigen auftischen wollten, die die Evakuierung leiteten – Jill war Kimberly Sampsel (der Name ihrer besten Freundin in der fünften Klasse), sie hatte in einer örtlichen Kunstgalerie gearbeitet, keine Familie, und sie war erst kürzlich nach Raccoon gezogen. Carlos hatte sie gefunden, nachdem sein Zugführer, das einzige andere überlebende U. B. C. S.-Mitglied, von Zombies getötet worden war. Gemeinsam hatten sie es zum Uhrenturm geschafft, Ende der Geschichte.
Sie entschieden, Nicholai, Nemesis und die anderen unidentifizierbaren Kreaturen, die sie herumlaufen gesehen hatten, nicht zu erwähnen. Die Idee dahinter war, sich bezüglich der Tatsachen so unwissend wie möglich zu geben. Keiner von ihnen wollte irgendein Risiko hinsichtlich der Loyalität des Rettungsteams eingehen, und Jill zweifelte nicht daran, dass in dem Transporter jemand auf sie wartete, um sie zu befragen. Je einfacher ihre Geschichte also war, desto besser. Sie mussten nur beten, dass niemand ihr Foto zur Hand hatte. Wie sie sich davonmachen sollten, darüber konnten sie sich Gedanken machen, sobald sie aus der Stadt heraus waren.
Am Haupteingang des Turmes hielten sie einen Moment inne, sammelten sich, und Jill verspürte eine seltsame Mischung aus Glück und Nervosität. Rettung war unterwegs, aber sie standen jetzt so kurz davor zu entkommen, dass sie fürchtete, es könnte doch noch etwas schief gehen.
Vielleicht liegt es ja nur daran, dass Umbrella die Rettung leitet. Gott weiß, dass sie nicht besonders gut darin sind, ihren verbockten Scheiß auf die Reihe zu bringen …
„Jill? Bevor wir gehen, möchte ich dir etwas sagen“, begann Carlos, und für ein paar Sekunden glaubte Jill, dass sich ihre Unruhe bestätigen würde, dass er ihr ein furchtbares Geheimnis enthüllen würde, das er bislang zurückgehalten hatte – doch dann sah sie seine fürsorgliche, nachdenkliche Miene und änderte ihre Ansicht.
„Okay, schieß los“, sagte sie sachlich und erinnerte sich, wie er sie draußen auf dem Balkon angesehen hatte. Sie hatte diesen Blick schon gesehen, bei anderen Männern – und sie wusste nicht recht, wie er ihr bei Carlos gefiel. Bevor er nach Europa gegangen war, waren Chris Redfield und sie einander ziemlich nahe gekommen …
„Bevor ich hier herkam, wurde ich von diesem Typen in Bezug auf Raccoon angesprochen, wegen dem, was hier vorgeht“, fing Carlos an – und Jill hatte gerade genug Zeit, sich wegen ihrer Vermutung albern vorzukommen, ehe seine Worte richtig zu ihr vordrangen.
„Er sagte mir, dass uns eine harte Zeit bevorstünde und bot an, mir zu helfen. Erst dachte ich, er sei verrückt …“
„… aber dann kamst du hierher und hast herausgefunden, dass er es nicht ist.“
Carlos starrte sie an. „Kennst du ihn etwa?“
„Wahrscheinlich so gut wie du. Mir ging’s genauso, vor der Spencer-Mission. Er gab mir Informationen über die Villa – und riet mir, darauf zu achten, wem ich traue. Trent, stimmt’s?“
Carlos nickte, und obwohl sie beide den Mund öffneten, um etwas zu sagen, sprach doch keiner von ihnen ein Wort. Es war das Geräusch des näherkommenden Helikopters, das sie verstummen, das sie beide grinsen und Blicke voller Freude und Erleichterung wechseln ließ.
„Lass uns später über ihn reden“, sagte Carlos und drückte die Türen auf. Das Hämmern des Hubschrauberrotors erfüllte die Eingangshalle des Turmes, während sie beide auf den Vorplatz hinaustraten.
Jill sah nur einen Transporthubschrauber, aber das war ihr egal. Offensichtlich war ja niemand außer ihnen zu evakuieren, und als die Maschine einen Kreis über der zerstörten Straßenbahn zog, begannen sie und Carlos die Arme zu schwenken und zu rufen.
„Hier drüben! Wir sind hier drüben!“ Jill sah das glatt rasierte Gesicht des Piloten, sein Lächeln glänzte im Widerschein der Cockpitlichter, als er näher kam …
… nahe genug, dass sie sehen konnte, wie sein Lächeln verschwand – im selben Moment, als sich rechts von ihnen eine Waffe entlud, und auf dem jugendlichen Gesicht über ihnen erschien ein Ausdruck puren Schreckens.
Schsch …
Ein Streifen farbigen Rauches raste von einem der Dächer der Nebengebäude des Turmes aus auf den schwebenden Hubschrauber zu.
Von unten nach oben – Bazooka oder Raketenwerfer …
„Nein“, flüsterte Jill, als das Geschoss in den Hubschrauber einschlug und explodierte. Wie betäubt dachte Jill, dass es eine von Wärmesensoren gelenkte Rakete gewesen sein musste – angesichts des Schadens, den sie anrichtete.
Da wirbelte der Hubschrauber auch schon auf sie zu, mit furchtbarer Schlagseite, und Feuer schlug aus dem zerstörten Cockpit.
Carlos packte sie am Arm und riss sie beinahe von den Beinen, zog sie hinaus auf den Vorplatz, als ein hohes, sich steigerndes, Heulen über sie hinwegraste. Der brennende Hubschrauber stotterte vorwärts, während sie sich hinter den Brunnen kauerten …
… und dann krachte er in den Uhrenturm. Brennende Trümmer – Metall, Stein und Holz – regneten auf sie herab, während der Transporter durch das Dach der Eingangshalle brach. Und wie die Stimme der personifizierten Zerstörungswut hörte Jill Nemesis’ Triumphgebrüll über allem.