Neuntes Kapitel

Ich liebe ihn aus ganzem Herzen.

Diese überwältigende Einsicht traf Keely wie ein Blitz aus heiterem Himmel.

»Pour tous jours«, flüsterte sie. »Für immer.«

Keely schaute aus dem Fenster ihres Schlafzimmers und wartete auf den Sonnenaufgang. Der Morgen war kühl und sie zitterte, aber die Pflicht rief, und das war wichtiger als ihr körperliches Wohlempfinden. Im Osten dämmerte es bereits, der Sonnenaufgang kündigte sich an.

Seit wann war der englische Graf so wichtig für sie? fragte sich Keely. Er hatte dem gestrigen Sturm getrotzt, aber sie wußte besser als die meisten, daß die Zuneigung eines Mannes so beständig ist wie der wankelmütige Mond. Ob seine zarte Neigung für sie die Unwetter am Hofe überstehen würde?

Keely traute ihm nicht. Sicher, der Graf hatte sein Versprechen gehalten, was ihre Cousins anging. Und er schien sich auch nicht wegen ihrer nicht gerade ehrenhaft zu nennenden Herkunft zu schämen. Aber Megan hatte Robert Talbot vertraut und dafür gelitten.

»Schenke dem König mit der Flammenkrone und der goldenen Hand dein Vertrauen ...«

Richard Devereux trug eine Flammenkrone und die Königin nannte ihn Midas in Anspielung auf den sagenumwobenen König, der alles in Gold verwandelte, was er berührte. Hatte ihre Mutter den Grafen gesehen? Was, wenn sie ihm ihr Vertrauen schenkte und er sich dessen nicht würdig erwies? Würde sie ihr Leben aufs Spiel setzen oder nur ihr Herz?

Keely war so aufgewühlt, daß sie nicht mehr klar denken konnte. Sie sehnte sich nur noch danach, hinauszuschleichen, um die aufgehende Sonne nicht nur zu sehen, sondern auch zu spüren. Sie bedurfte der Unterstützung der Naturkräfte. Sie würde die Mutter Göttin bitten, dem Grafen innere Stärke zu verleihen. Um den Myriaden von Höflingen keine Aufmerksamkeit zu schenken, die sich über sie das Maul zerreißen würden, mußte er geduldig und stark sein.

Die besondere Kraft dieses heiligen Ortes im Garten des Grafen versprach eine erfolgreiche Fürbitte. Wo die Birke, die Eibe und die Eiche sich trafen, da war die magische Kraft zu Hause.

Ohne sich lange darum zu kümmern, daß sie noch im Nachthemd steckte, packte Keely ihre Zeremonienrobe, wickelte sich darin ein und lief auf bloßen Füßen zur Tür. Ihr Herz schlug aufgeregt. Seit dem Abend, bevor sie ihren Vater traf, hatte sie keine richtige Andacht mehr gehalten. Kein Wunder, daß ihr Verstand so verwirrt und ihr das Herz so schwer war.

Sie drückte das Ohr gegen die Tür, um zu lauschen, ob der Gang leer war. Es waren keine Schritte zu hören. Sie öffnete die Tür einen Spalt und lugte hinaus. Niemand war zu sehen, es war noch zu früh für die Dienstboten. Sie holte tief Luft und trat auf den Korridor, die Tür zog sie lautlos ins Schloß.

Immer an der Wand entlang schlich Keely durch den düsteren Korridor, in den kein Licht fiel, bis sie zur Treppe kam. Unten angelangt sah sie, daß der Weg durch das Foyer verlassen war. Wenn kein Frühaufsteher sich im Hof herumtrieb, gelangte sie unentdeckt nach draußen.

Auf Zehenspitzen huschte Keely durch das Foyer. Geschwind öffnete sie die Tür und war draußen. Der Hof war menschenleer.

Wie ein Engel der Nacht schritt Keely durch den dichten Nebel, der sich wie ein Liebhaber an Mutter Erde schmiegte. Einmal blieb sie stehen, um sich zu vergewissern, daß ihr niemand folgte. Dann schlüpfte sie auf den Pfad, der zum Besitz des Grafen führte.

Bei den heiligen Steinen! dachte Keely und hielt inne. Sie hatte ihre goldene Sichel und ihre magischen Steine vergessen. Sie sah zurück, beschloß aber, daß es nur den Weg nach vorne gab. Bis sie das Haus erreichte und sich holen konnte, was sie brauchte, standen die Dienstboten des Herzogs auf. Sie würde nie unentdeckt hierher zurückkehren können.

Aus dem Nebel ragten die drei heiligsten Bäume heraus. Sie standen zusammen wie alte Freunde. Keely lächelte, als sie das helle Weiß der heiligen Birke erblickte, das dunkle Immergrün der heiligen Eibe und den heiligsten Baum unter ihnen, die majestätische Eiche.

Keely zog sich die Kapuze ihrer Zeremonienrobe über den Kopf und trat an den heiligen Ort. Wenn sie in der freien Natur eine Andacht halten konnte, fühlte sie sich wie der glücklichste Mensch der Welt. Auf dem Weg zu den Bäumen hob Keely acht gewöhnliche Steine auf.

Damit legte sie den magischen Kreis. Dabei achtete sie darauf, die Steine jeweils an den richtigen Platz zu legen: auf den nordwestlichsten Punkt der Kreislinie, auf den nördlichsten, den nordöstlichsten, den südöstlichsten, den südlichsten und den südwestlichsten. Sie betrat den Kreis von Westen und schloß ihn hinter sich mit dem letzten Stein. Dabei sprach sie die Worte: »Störende Gedanken bleiben draußen.«

In der Mitte des Kreises angelangt, drehte sich Keely dreimal im Uhrzeigersinn und blieb, die Augen auf die aufgehende Sonne gerichtet, stehen. Sie schloß die Augen und konzentrierte sich auf ihren Atem.

»Die Alten sind hier, sie warten ab und sehen zu«, klang Keelys sanfte Stimme durch die stille Nacht. »Die Sterne sprechen durch die Steine, und das Licht scheint durch die dickste Eiche.« Ihre Stimme wurde lauter: »Himmel und Erde sind ein Reich.«

Keely hielt inne, um sich zu sammeln. Dann hob sie die Arme und flehte: »Geist, der mich auf meiner Reise geleitet, hilf mir, die Sprache der Bäume zu verstehen. Geist meiner Ahnen, hilf mir, die Sprache des Windes zu verstehen. Geist meines Stammes, hilf mir, die Sprache der Wolken zu verstehen ... Myrddin, größter der Druiden, öffne mein Herz, damit ich über den Horizont hinaussehe.«

Lange Zeit passierte gar nichts. Und dann geschah es ...

Starke Hände packten sie an den Oberarmen und wirbelten sie herum. Die Kapuze glitt Keely vom Kopf und gab den Blick auf ihr ebenholzschwarzes Haar frei, das ihr bis zur Hüfte reichte. Im selben Augenblick riß sie die Augen auf und blickte in das wütende Gesicht des Grafen.

»Was, zum Teufel, machst du hier?« fauchte Richard und schüttelte sie.

»Es ist verboten, den heiligen Kreis zu durchbrechen!« rief Keely. »So zerstörst du meine ...«

Richards Gesicht spiegelte seine Fassungslosigkeit. Ohne Vorwarnung hob er sie hoch und trug sie in seinen Armen über den Rasen.

»Ich kann selbst gehen«, protestierte sie leise.

»Sei ruhig«, fuhr er sie an.

Mit Keely in den Armen marschierte Richard an seinen schlaftrunkenen Dienstboten vorbei und die Treppe hinauf in sein Arbeitszimmer, wo er die Tür mit dem Fuß zustieß. Er setzte sie vor einem Sessel ab und schubste sie hinein.

»Warum hast du mir nachspioniert?« fragte ihn Keely so streng sie konnte.

»Ich stelle hier die Fragen«, schoß Richard zurück. »Vergiß nicht, Mylady, ich habe dich auf meinem Besitz aufgegriffen.«

»Warum, um …« Keely, nur darauf bedacht, möglichst schnell von hier fortzukommen, stand auf.

»Setz dich«, befahl ihr Richard und drückte sie zurück in den Sessel.

Klugerweise blieb Keely, wo sie war.

Richard schaute sie finster an. Keely fühlte sich ganz unwohl unter diesem Blick. Endlich fragte er sie: »Bist du eine Art Hexe?«

»Du glaubst doch gewiß nicht an solch abergläubisches Zeug«, entgegnete Keely.

»Was ich glaube, tut hier nichts zur Sache«, entgegnete Richard barsch. »Ich will wissen, was du glaubst. Bist du auf meinem Besitz der Hexerei nachgegangen?«

Keely sah ihm in die Augen und antwortete: »Nein, so etwas würde ich nie tun.«

Seine smaragdgrünen Augen schienen sich in ihre veilchenblauen Augen zu bohren. »Was genau glaubst du?«

»Hat die Inquisition England erreicht?« konterte sie.

»Beantworte meine Frage.« Oder sonst hing unausgesprochen im Raum.

»Ich … wurde christlich getauft«, wich Keely aus. Sie schlich um die Wahrheit herum wie die Katze um den heißen Brei.

Die Dame ist raffiniert, folgerte Richard, aber nicht ganz so raffiniert wie er selbst. »Du hast meine Frage nicht beantwortet, meine Liebe. Was bist du?«

Sie sah ein, daß sie nicht umhinkam, ihm die Wahrheit zu gestehen. Mit erhobenem Kinn blickte sie ihm in die Smaragdaugen und sagte ein einziges Wort, das ihn zutiefst erschütterte.

»Druidin.«

»Gott im Himmel, ich bin mit einer Heidin verlobt!« explodierte Richard.

»Ich verfüge über gewisse Kenntnisse«, brüstete sich Keely hochmütig.

Richard schloß die Augen. Entsetzt schüttelte er den Kopf. Diese unglaubliche Dummheit war mehr, als er ertragen konnte. Als er sie wieder ansah, stand ihm seine Verachtung deutlich ins Gesicht geschrieben.

»Kenntnisse ohne gesunden Menschenverstand sind etwas sehr Gefährliches«, erklärte er ihr.

Keely wollte gerade den Mund aufmachen, um gegen diese Beleidigung zu protestieren, doch Richard packte sie am Kinn und fuhr sie an: »Du hältst jetzt den Mund und hörst mir zu.«

Wie ein General vor seinen Truppen ging Richard vor ihr auf und ab und hielt eine wahre Brandrede. »Du bist das närrischste Weib, das mir je untergekommen ist – noch dümmer als meine Schwestern – und dein gesunder Menschenverstand reicht nicht aus, um dein eigenes Überleben zu gewährleisten. Weißt du überhaupt, wie viele Menschen an Hexen glauben? Weißt du das? Tausende! Ja, sogar die Königin glaubt an das Übernatürliche. Ist dir klar, daß du auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden könntest? Ist dir das klar? Wenn die Menschen Angst haben, handeln sie, die Fragen stellen sie später.«

Keely lächelte sanft. »Mylord, keiner von uns stirbt wirklich. Unsere Seelen begeben sich auf das Große Abenteuer.«

Noch mehr von diesen Dummheiten, dachte Richard. Seine Worte stießen auf taube Ohren. Er mußte die Sache anders angehen.

Er trat an seinen Schreibtisch und schenkte sich einen Becher schottischen Whisky ein, den er in einem Schluck leerte. Nun verstand er, warum sein Schwager dieses Getränk so schätzte. Es stärkte wie nichts anderes auf der Welt einen Mann, wenn er sich mit diesem unlogischen Wesen herumschlug, das gemeinhin Frau genannt wurde.

Richard drehte sich um und wandte sich wieder Keely zu, die noch immer unruhig in ihrem Sessel saß. Er kniete sich vor sie hin und wärmte ihre Hände mit den seinen. »Schatz, ich fürchte um deine Sicherheit. Glaube, was du willst, aber sich vor einer unbarmherzigen Gesellschaft zur Schau zu stellen, kann sich als verhängnisvoller Irrtum erweisen.«

Keely traute ihren Ohren nicht. »Willst du damit sagen, du hast nichts gegen meine Überzeugungen?«

Richard überwand sich und nickte. »Die meisten Menschen in diesem Land sind gefährlich intolerant. Deine Anschauungen müssen geheim bleiben.«

»Aber sicher«, stimmte Keely bereitwillig zu. Sowohl sie als auch Megan hatten stets sorgfältig darauf geachtet, niemanden damit zu behelligen.

Richard atmete tief durch.

»Was hast du so früh da draußen getan?« fragte sie ihn.

»Ich wollte den Sonnenaufgang beobachten, weil ich wußte, du würdest das auch tun«, gestand er.

Diese zärtliche Anwandlung zauberte ein Lächeln auf Keelys Lippen.

»Ich hatte nicht die geringste Ahnung, daß du in meinem Garten herumhüpfen und Beschwörungen rufen würdest«, brachte Richard sie zum Lachen. Er stand auf und bot ihr seinen Arm an. »Ich bringe dich nach Hause.«

Erleichtert, daß sie ihr Geheimnis nicht länger vor ihm zu verbergen brauchte, hakte Keely sich bei Richard unter. Zusammen gingen sie in den Garten und hinüber zur Residenz der Talbots.

»Heute vormittag zeige ich dir London«, teilte ihr Richard mit, als sie den Hof erreichten. »Um zehn Uhr hole ich dich ab.«

»Ich denke nicht ...«

»Möchtest du den Vormittag lieber in Morganas Gesellschaft verbringen?« fragte er sie mit hochgezogener Augenbraue.

»Ich werde um neun Uhr fertig sein«, antwortete Keely und verschwand im Haus.

Richard wollte gerade gehen, als er den Herzog sah, der aus den Stallgebäuden auf ihn zukam. Er war von oben bis unten voller Blut und Schmutz, strahlte aber über das ganze Gesicht.

»Meine Lieblingsstute hat soeben gefohlt«, erklärte ihm Herzog Robert. Seine Augen wanderten zur Tür, hinter der gerade seine Tochter verschwunden war. »Es ist schrecklich früh, um Keely einen Besuch abzustatten«, bemerkte er.

»Ich fand meine Verlobte, wie sie Beschwörungen singend in meinem Garten um Bäume herumhüpfte«, entgegnete Richard, um zu sehen, wie der Herzog darauf reagierte.

Einen kurzen Augenblick lang schien Herzog Robert sprachlos, doch er gewann schnell die Fassung wieder. »Schlafwandelte wohl«, log er und wich dem Blick des Grafen aus.

»Von wegen Schlafwandeln«, grinste Richard und schüttelte mißbilligend den Kopf. »Ihr wißt Bescheid, nicht wahr?«

Herzog Robert nickte.

»Wie könnt Ihr Keely erlauben, sich in Gefahr zu begeben? Verbietet Ihr ...«

»Ich habe in ihrem traurigen Leben achtzehn Jahre lang keine Rolle gespielt«, unterbrach ihn der Herzog. »Megan gab ihre merkwürdigen – aber harmlosen – Überzeugungen an ihre Tochter weiter. Wir können die Vergangenheit nicht ändern, Devereux. Wir können nur die Zukunft beeinflussen.«

»Ihr seid jetzt für sie verantwortlich«, erinnerte Richard ihn.

»Würde der Papst der katholischen Kirche widersagen?« konterte Herzog Robert. »Ich glaube nicht. Genausowenig wird Keely verleugnen, was zu ihrem innersten Wesen gehört. Meine Tochter würde lieber sterben, als einen Schritt vom einmal gewählten Weg abzuweichen. Wie Ihr wißt, hatten die Waliser noch nie einen Sinn fürs Praktische. Es gehört zu ihrer Tradition, für ihre innerste Überzeugung in den Tod zu gehen.«

»Wer am Hof aus dem Rahmen fällt, zieht die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich«, warf Richard ein. »Das ist nun einmal so, und das kann Schande oder sogar den Tod bringen.«

»Keely braucht einen Ehemann, der stark genug ist, um für ihre Sicherheit zu sorgen – selbst gegenüber der Königin«, antwortete der Herzog. »Wenn Ihr dazu nicht fähig seid, tretet zur Seite. Ich finde einen anderen, der dazu fähig ist.«

Bei dieser Beleidigung zuckte Richard zusammen, sagte aber nichts darauf.

»Ist die Hochzeit noch ein Thema?« fragte Herzog Robert.

»Ja.« Ohne ein weiteres Wort drehte Richard sich um und ging den Weg zurück, den er gekommen war.

Schmunzelnd blickte Herzog Robert ihm nach. »Jungspunde wie du glauben, sie wüßten bereits alles«, murmelte er zufrieden. »Devereux, du bist gerade dabei, eine schwere Lektion zu lernen. Wenn eine Frau das Herz eines Mannes stiehlt, gehören seine Unabhängigkeit und sein Seelenfrieden der Vergangenheit an.«

Der Herbst zeigte sich von seiner schönsten Seite, als Keely zum verabredeten Zeitpunkt um zehn Uhr in den Hof trat. Von der strahlenden Sonne besiegt, hatte sich der Morgennebel aufgelöst, und eine sanfte Brise streichelte ihr Gesicht und spielte mit dem Saum ihres Mantels.

Keely trug einen violetten Wollrock und eine weiße Leinenbluse unter ihrem schwarzen Wollumhang. Ihr ebenholzschwarzes Haar hatte sie in der Mitte gescheitelt und zu einem dicken Zopf geflochten, den sie in einem Knoten trug.

»Noch mal einen schönen guten Morgen«, grüßte Richard sie mit einem freundlichen Lächeln auf dem Gesicht. »Deine Schönheit versüßt mir den Tag.«

Keely errötete und erwiderte sein Lächeln. Unter ihren dichten, dunklen Wimpern hervor bewunderte sie seine männliche Erscheinung. Der Graf war ganz in Schwarz gekleidet. Er erinnerte sie an einen wunderschönen Raubvogel und erschien ihr viel edler und bewundernswerter als diese Hofschranzen mit oben rot geschminkten Wangen.

»Du solltest nicht im Männersattel reiten«, wandte Richard ein, als er sie auf Merlin hob. »Englische Damen pflegen im Damensattel zu reiten.«

»Wir Waliserinnen sind nicht so zimperlich«, antwortete Keely. »Ich liebe es, Merlin zwischen den Beinen zu spüren. Anders könnte ich gar nicht reiten.«

Richard trieb es die Röte ins Gesicht. So unschuldig sie dies gesagt hatte, es hatte ihn erregt. Er starrte sie an, aber Keely lächelte nur ihr schwer deutbares Lächeln. War ihr klar, wie anzüglich diese Bemerkung war? Keine Frau von achtzehn Jahren konnte so unbedarft sein, oder?

Keely und Richard wandten ihre Pferde nach Nordosten und ritten gemächlich den Strand hinunter. Die Stadt London lag östlich von Talbot House.

»Deine Lippe sieht heute viel besser aus«, bemerkte Richard. Und etwas später: »Weißt du eigentlich, daß Merlin eine Stute ist?«

»Ja. Wie heißt dein Pferd?«

»Es hat keinen Namen.«

»Jedes Wesen braucht einen Namen.« Keelys vorwurfsvoller Ton war unmißverständlich.

Richard musterte sie aus den Augenwinkeln. »Gib du ihm einen Namen, Schatz.«

Keely betrachtete seinen bildschönen Rappen, überlegte kurz und meinte: »Pfeffer.«

Richard kicherte. »Pfeffer ist kein passender Name für das Pferd eines Grafen.«

»Du brauchst einen Namen, der auch für einen Menschen geeignet wäre?«

Richard nickte.

»Warte, wie wär‘s mit Blödel?«

Richard fuhr herum und blickte in ihr schelmisch lächelndes Gesicht. Nun mußte auch er lachen. »Schwarzer Pfeffer soll er heißen.«

Während sie den Strand entlangritten, zeigte ihr Richard, was es an Sehenswürdigkeiten gab. Links kamen sie an Leicester House vorbei, das durch die Milford-Treppen von Arundel House getrennt war. Rechts befand sich Durham House, wo Edward VI. und Jane Grey gelebt hatten, nicht zur selben Zeit, versteht sich. Weiter oben ragte Westminster Hall und die Westminster Abbey empor. Dort lag der alte König Heinrich neben seiner geliebten Königin, Jane Seymour, begraben.

Bei Charing Cross schwenkten Richard und Keely nach rechts und ritten nach London hinein. Hier nun wurde das Gedränge in den Straßen zusehends dichter, so daß sie gezwungen waren, sich vorsichtig ihren Weg durch die verwinkelten Gassen zu suchen.

Nicht wenige blieben stehen und drehten den Kopf nach ihnen um, als sie vorbeiritten. Keely fühlte sich immer unwohler in ihrer Haut. Sie musterte den Grafen aus den Augenwinkeln, doch Richard schienen die neugierigen Blicke der Londoner Bürger nicht zu stören. Ganz im Gegenteil, er schien sie gar nicht zu bemerken.

»Gesundheit wünsch ich Euch, Midas«, rief einer der mutigeren Schaulustigen ihnen zu.

Richard lachte und warf dem Mann eine Münze zu. »Gott schütze die Königin«, rief er.

Als sie an der St. Pauls Cathedral angekommen waren, schwenkten Richard und Keely nach rechts. Am Ende der Straße ritten sie rechts in die Thames Street. Keely hatte keine Ahnung, wohin sie ritten, sie folgte einfach dem Grafen.

»Unser erstes Ziel liegt etwas außerhalb von London, im Osten«, erklärte er ihr. »Der White Tower ist Englands berühmtestes Wahrzeichen. Er ist eine Mischung aus Palast, Garnison und Gefängnis. Elisabeth hält dort nie Hof, weil der White Tower sie zu sehr an unerfreuliche Zeiten erinnert. Doch die Nacht vor der Krönung verbrachte sie dort, wie es der Brauch ist. Damals war ich noch zu jung, aber meine Eltern waren bei der Krönung anwesend.«

Am Ende der Thames Street ragte düster der Tower empor. Richard hielt sein Pferd an und erzählte: »Mein Vater mußte im Beauchamp-Turm einsitzen, als der alte König Heinrich nicht gut auf ihn zu sprechen war.«

»Er überlebte und konnte diese Geschichte erzählen?« fragte Keely überrascht. Sogar zu den hinterwäldlerischen Walisern waren die Schauergeschichten von Englands Königen und ihrem schreckenerregenden Tower gedrungen.

Richard schmunzelte über ihre Unwissenheit. »Schatz, der Tower ist weder ein Verlies noch eine Folterkammer. Es ist sogar außerordentlich einfach, dort zu entkommen, sofern man das Geld besitzt, die Wachen zu bestechen, oder den Mut, in die Themse zu springen.«

»Dein Vater entkam?«

Richard schüttelte den Kopf. »Mein Vater spazierte zum Tor hinaus, als Heinrichs Wut verraucht war.«

»Weshalb saß er denn dort ein?«

»Er hatte meine Mutter ohne die Erlaubnis des Königs geheiratet.«

Als sie durch die großen Tore in den Schloßhof ritten, lief Keely ein eiskalter Schauer über den Rücken. »Auf diesem Schloß lastet ein Fluch«, erklärte sie. »Wilhelm der Eroberer mischte Drachenblut in den Mörtel.«

Richard warf ihr einen belustigten Blick zu. »Es gibt keine Drachen, höchstens in der lebhaften Phantasie von deinesgleichen, Schatz.«

Darauf stieg er ab und half Keely aus dem Sattel, die nicht von seiner Seite wich. Sie fühlte sich hier bedrückt und unwohl.

Was der Graf auch gesagt haben mochte, in ihrem tiefsten Innern wußte Keely, daß in dem verfluchten Schloß arme Seelen umherirrten, verdammt in alle Ewigkeit. Wer von diesen englischen Christen besaß das Wissen und den Mut, diesen armen, verlorenen Seelen zu helfen, den Weg auf die andere Seite zu finden?

Zwei scharlachrot gekleidete Gardesoldaten stürzten auf sie zu und kümmerten sich um ihre Pferde. Richard warf jedem von ihnen eine Münze zu. »Wir wohnen der Messe in der Kapelle bei«, erklärte er ihnen. »Wir brauchen keine Eskorte.«

Ein unheimliches Knurren zerriß die Luft. Voller Angst warf Keely sich dem Grafen in die Arme. »Hier spukt es!«

Richard schmunzelte, nahm sie jedoch fürsorglich in die Arme. Die Wachsoldaten grinsten einander zu.

»Das sind die Löwen in der Menagerie der Königin«, erklärte Richard. »Wir kommen dort vorbei, wenn wir wieder gehen.«

Er griff nach Keelys Hand und führte sie den Weg zum Offiziersquartier hinunter. »Wir gehen da durch.« Er deutete auf eine Tür.

Keely hörte ihn nicht. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt einem Tor etwas weiter unten. »Was ist das für ein Eingang?« flüsterte sie.

»Es heißt ›Verrätertor‹.«

Keely erschauerte. Ein düstere Wolke der Verzweiflung überwältigte sie, lähmte ihre Sinne, und sie setzte sich gegen den sanften Druck des Grafen zur Wehr. »Ich kann die Hoffnungslosigkeit dieses Ortes nicht ertragen. Bring mich fort von hier.«

»Schatz, nur Verräter müssen den Tower fürchten«, versicherte ihr Richard lächelnd. Offensichtlich war der Ruf des Towers bis nach Wales gedrungen. »Das ist eine Burg, nicht mehr und nicht weniger.«

»Jeder Ort besitzt einen bestimmten Geist«, beharrte Keely. »Ich bin empfindlicher als du und höre die schrecklichen Schreie dieser Seelen, die für alle Ewigkeit in diesen Steinmauern gefangen sind. Die beschränkten Engländer sehen nicht über den eigenen Horizont hinaus.«

»Tot ist tot«, entgegnete Richard gereizt. »Wer im Grab liegt, kann nicht mehr zu uns reden.«

»Wie sehr Ihr Euch da täuscht, Mylord.«

»Werden die Waliser von der Vernunft unzugänglicher Furcht regiert?«

»Mir ist nicht wohl«, verbesserte ihn Keely. »Zeigt mir den Weg, vielleicht kann ich ein paar dieser armen verirrten Seelen den Weg in das Große Abenteuer weisen.«

»Fang jetzt bloß nicht mit deinen heidnischen Beschwörungen an«, schärfte Richard ihr ein, als sie am Offiziersquartier vorbei auf den grasbewachsenen Innenhof traten. »Das hier ist die Towerwiese«, erklärte er ihr daraufhin. »Das Gebäude da vorne ist die Kapelle St. Peter ad Vincula. Der königliche Kaplan feiert dort täglich um elf Uhr eine heilige Messe.«

Auf der Towerwiese herrschte eine unheimliche Ruhe. Es schien, als hielten die grauen Steinmauern, die sie umgaben, die Stille gefangen. Ein kühler Hauch lag in der Luft.

Keely hatte das Gefühl, eine andere Welt zu betreten. Die lauten Massen, die sich im engen Londoner Gassengewirr drängten, schienen Millionen Meilen entfernt zu sein. Ihr schauderte, die feinen ebenholzschwarzen Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf. Als sie sich umblickte, sah Keely eine dunkelhaarige Frau, die vor den Fenstern des Offiziersquartiers auf und ab ging.

»Wer ist das?« flüsterte sie und sah zu ihrem Verlobten hoch.

Richard blickte über die Schulter, sah aber niemanden. »Von wem sprichst du?«

»Dort drüben ...« Keely warf einen Blick über ihre Schulter. Die Frau war im Gebäude verschwunden. »Ach, vergiß es.«

Als sie über den gepflasterten Hof gingen, überlegte Richard, ob er Keely seine düstere Geschichte erzählen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Seine Verlobte schien ihren Ausflug nicht sonderlich zu genießen, und er begann bereits zu bereuen, sie hierher gebracht zu haben.

König Heinrich VII. hatte die Kapelle im frühen Tudorstil errichten lassen. Der Boden war mit Steinplatten belegt, und die Kirchenstühle waren aus poliertem Holz. Durch die hohen Fenster fiel das Sonnenlicht in den Altarraum und brachte den Messingschmuck zum Glänzen. Die Decke über ihren Köpfen bestand aus wertvollem Edelkastanienholz.

Vom Turm schlug es elf Uhr. Keely fuhr zusammen und blickte sich erschrocken um.

»Ganz ruhig, Schatz. Du brauchst keine Angst zu haben«, flüsterte Richard. Was in Gottes Namen brachte sie so aus der Fassung? fragte er sich. Seit sie durch das Mitteltor geritten waren, war Keely so aufgeregt wie ein junger Soldat bei seiner ersten Schlacht. Ob ihr Unwohlsein etwas mit ihren merkwürdigen religiösen Überzeugungen zu tun hatte? Richard hoffte inständig, dies möge nicht so sein. Königin Elisabeth verlangte, daß ihre Edelleute sie zur heiligen Messe begleiteten. Er konnte für seine Frau ein- oder zweimal Entschuldigungen erfinden, aber Tag für Tag war das schlicht undenkbar.

Als die Glockenschläge verhallt waren, schwebte der Kaplan herein. Prächtig gewandet in die Soutane eines königlichen Kaplans, nickte er Richard und Keely zu, den einzigen Kirchgängern an diesem Morgen.

Die Frühmesse begann. Je länger sie dauerte, um so aufgeregter wurde Keely. Jede Sehne, jeder Nerv war zum Zerreißen gespannt. Eine tiefe Traurigkeit ergriff sie. Tausend Seelen schienen sie anzuflehen, ihnen zu helfen. Spürte der Graf denn gar nichts von all dem Unglück, das in der Luft lag? Und der Kaplan? War sie die einzige, die für die Schrecken der Vergangenheit empfänglich war?

Keely saß regungslos neben Richard, doch das Blut pochte ihr in den Adern. Ihre Nerven waren bis zum letzten angespannt, Schweißperlen standen ihr auf der Oberlippe. Sie schnappte nur noch nach Luft. Schlagartig sprang sie hoch. Sie versuchte, an Richard vorbei ins Freie zu gelangen, doch er packte sie am Arm und hielt sie zurück.

»Laß mich gehen!« schrie Keely.

Der Kaplan drehte sich um. Verdutzt sah er, wie eine rasende Edeldame versuchte, dem Grafen von Basildon zu entkommen.

Mit der Kraft der Verzweiflung schob sie Richard zur Seite und rannte an ihm vorbei aus dem Kirchenstuhl, flog den Mittelgang hinunter und zur Tür hinaus, um draußen im kühlen, feuchten Gras auf die Knie zu sinken. Den Kopf gebeugt, saugte Keely die belebende Luft förmlich in sich ein.

»Liebling, bist du krank?« fragte Richard, der sich neben sie kniete.

Keely blickte auf und sah, wie besorgt er um sie war. Sie schüttelte den Kopf.

Er half ihr auf die Beine und zog sie in seine Arme. »Du hättest mir sagen sollen, daß du dich nicht wohl fühlst.«

Keely lehnte sich an seine kräftige, warme Brust. Der ruhige, regelmäßige Schlag seines Herzens half, ihre Aufregung legte sich. Ihr Blick schweifte zur Kapelle und anschließend zum gepflasterten Richtplatz. Schließlich waren ihre veilchenblauen Augen auf ihn gerichtet, und sie sagte in einem Ton, der ihr ganzes Elend enthielt: »Das ist der traurigste Platz der Welt.«

»Was meinst du damit?« fragte Richard und streichelte ihr sanft über den Rücken. »Ich wohne der Messe in der Kapelle jedesmal bei, wenn ich hier bin. Es lag nie in meiner Absicht, dich zu beunruhigen.«

»... ermordete Königinnen liegen unter dem Pflaster der

Kapelle begraben«, antwortete Keely mit bebender Stimme. Sie drehte sich in seinen Armen und deutete auf einen etwas weiter entfernten Turm der Festung. »Und dort drüben ...«

»Das ist der Wakefield-Turm.«

»Unter dem liegen zwei ermordete Prinzen«, erklärte ihm Keely.

»Woher willst du das wissen? Niemand weiß, wo die Söhne Edward Plantagenets begraben wurden. Ihr Onkel ordnete ihre Hinrichtung an.«

Keely starrte den Turm an. »Du irrst dich. Der Tudorsche Thronräuber war es, der ihre ...«

Blitzschnell legte ihr Richard die Hand auf den Mund, um sie am Sprechen zu hindern. Keely sah in seine Augen und entdeckte die Angst, die er mit Zorn zu überdecken suchte.

»Richard Plantagenet befahl die Hinrichtung der Prinzen«, erklärte der Graf in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Sag nie etwas anderes. Das Verschwinden der Prinzen liegt beinahe hundert Jahre zurück. Alte Streitfragen auszugraben hat keinen Sinn. Verstehst du?«

Keely nickte. Die Ermordung der beiden kleinen Prinzen war Königsmord der schrecklichsten Art. Die Enkeltochter des Tudorschen Thronräubers saß nun auf Englands Thron. Den Begründer dieser Dynastie des Mordes an unschuldigen Kindern zu bezichtigen, würde nicht gut ankommen.

Richard und Keely gingen zurück über die Towerwiese. Je weiter sie sich von der Kapelle entfernten, um so ruhiger wurde Keely. Sie hatten wieder das Offiziersquartier erreicht.

»Basildon!« rief eine Stimme.

Richard drehte sich um und begrüßte lächelnd einen Mann mittleren Alters, der über die Wiese auf sie zukam. »William Kingston, der Wachmann des Towers«, stellte er ihn Keely vor. »Ich bin gleich wieder da«, rief Richard und ging seinem Bekannten entgegen.

Keely wollte so schnell wie möglich diesen Ort verlassen und wollte gerade weitergehen, hielt aber abrupt inne. Da stand die Frau von vorhin, nur ein paar Schritte von ihr entfernt.

Sie war aufsehenerregend angezogen. Über einem leuchtend roten Kleid trug sie einen schwarzen Samtumhang. Das ebenholzschwarze Haar trug sie geflochten in einem perlenbesetzten Haarnetz. Obwohl sie wirklich königliche Gewänder trug, wirkten diese etwas altmodisch.

Keely wußte nicht warum, aber sie hatte das Bedürfnis, die Dame mit einem Hofknicks zu begrüßen. »Guten Tag, Mylady«, erklärte sie.

»Was macht Ihr hier?« fragte die Frau Keely. Sie hatte schwarze Augen und einen lebhaften Gesichtsausdruck.

»Ich besuchte mit meinem Verlobten die Kapelle.«

Die Frau blickte zur Wiese und meinte: »Er hat rotes Haar wie mein Gatte. Ich muß dringend mit meinem Gatten sprechen. Es ist von größter Wichtigkeit. Habt Ihr ihn gesehen?«

»Ich kenne Euren Gatten nicht«, antwortete Keely, »doch mein Verlobter kennt viele Menschen hier. Wie heißt Euer Gatte?«

»Heinrich«, antwortete die Frau belustigt und fügte hinzu: »Kind, hüte dich vor dem verräterischen dunklen Schmied.«

Keely erstarrte. Mit offenem Mund stand sie da, vollkommen sprachlos ob dieser Warnung – es waren beinahe dieselben Worte, mit denen Megan sie auf ihrem Totenbett gewarnt hatte.

»Keely!«

Keely wirbelte herum. Amüsiert kamen Richard und der Wachmann auf sie zu.

»Hast du gebetet oder nur Selbstgespräche geführt?« neckte Richard sie.

»Weder noch. Ich habe mich mit der Dame hier unterhalten«, antwortete Keely. Sie wandte sich an den Wachmann. »Bitte, Sir, könnt Ihr ihren Ehemann Heinrich holen?«

Sowohl Richard als auch der Wachmann blickten mit einemmal ernst drein. »Schatz, du stehst ganz allein hier«, machte der Graf sie aufmerksam.

Keely wandte sich um. »Noch vor einem Augenblick war sie da. Ihr müßt doch Heinrichs Gattin kennen. Habt ihr nicht gesehen, wie sie mit mir sprach?«

»Trug die Dame Schwarz und Rot?« fragte der Wachmann Keely und bekreuzigte sich.

Keely nickte. Sie war erleichtert, daß der Mann die Dame kannte.

Der Wachmann warf dem Grafen einen unsicheren Blick zu. »Das war der Geist von Königin Anna.«

Richard prustete laut los und klopfte dem Mann auf die Schulter. »Gebt auf, Kingston. Es gibt keine Geister.«

»Mein Vater war in jenen tragischen Zeiten Wachmann im Tower«, erklärte Kingston. »Die Königin verbrachte ihre letzten Tage im Offiziersquartier. Viele haben sie hier vor dieser Fensterfront auf und ab wandeln sehen, aber sie hat noch nie gesprochen.«

»Ihre Seele ist zwischen zwei Welten gefangen«, zog Keely ihre Aufmerksamkeit auf sich. »Falls ich vielleicht ...« Sie sprach den Satz nicht zu Ende, als sie das Stirnrunzeln des Grafen sah.

»Ich denke, wir sparen uns die Menagerie für ein andermal auf«, meinte Richard, packte Keely am Arm und führte sie zum Tor.

Als sie auf der Rückseite des Offiziersquartiers herauskamen, führte er sie den Weg zum Mitteltower hinunter. »Erwähne niemals, was hier heute geschehen ist«, befahl er ihr. »Elisabeth wird dir für deine unaufgefordert vorgetragene Ansichten nicht danken.«

»Wie starb die Königin?« fragte Keely.

Richard hielt inne und sah sie an. Seine Smaragdaugen spiegelten seine Überraschung wider. »Das weißt du nicht?«

Keely schüttelte den Kopf.

»Königin Elisabeths Vater, König Heinrich, ließ ihre Mutter auf der Towerwiese enthaupten.«

»Warum?«

»Weil sie ihm keinen Sohn geboren hat.«

Keely warf einen Blick zurück auf das Offiziersquartier. Sie nagte an ihrer Unterlippe und sah den Grafen mit ihren veilchenblauen Augen bittend an. »Kann ich sie nicht zum Großen Abenteuer führen?«

»Bist du verrückt?« schrie Richard und schüttelte sie.

»Aber sie wird niemals Frieden finden, außer ...«

»Nein!«

»Na gut«, gab Keely nach. »Dann bitte ich Megan darum.«

Richard schloß die Augen vor ihrer unerträglichen Dummheit und fragte sich, warum er eigentlich noch immer so versessen darauf war, sie zu heiraten. Sicher, Keely brauchte seinen Schutz und seine Führung, aber es schien, dieser bekloppte Waliser Trottel war emsig darum bemüht, die Familien Devereux und Talbot aufs Schafott zu bringen.

»Schatz, deine Mutter ist tot«, erinnerte er sie mit täuschend ruhiger Stimme.

»Megan versprach, an Samhuinn zurückzukehren«, erklärte ihm Keely. »Dann werde ich sie darum bitten.«

»Lieber Gott!« explodierte Richard und zog die neugierigen Blicke der Wachsoldaten auf sich. Mit gesenkter Stimme erklärte er ihr: »Die Toten können nicht zurückkommen in diese Welt, um uns zu besuchen.«

Keely wollte ihm gerade widersprechen, aber Richard fügte hinzu: »Sag jetzt bitte nichts darauf. Ganz im Gegenteil, halt den Mund, bis wir wieder Talbot House erreicht haben.«

Während des langen Rittes zurück durch London und den Strand entlang kochte Keely stumm vor Wut. Sie wollte am liebsten ihre Verlobung lösen. Wie sollte sie den Rest ihres Lebens im Schatten eines mißbilligenden Gatten verbringen? Als Druidin hatte sie gelernt, solche Dinge auf sich beruhen zu lassen. Doch das englische Blut, das in ihren Adern floß, drängte sie, dem Grafen den unerträglichen Hochmut aus seinem hübschen Gesicht zu prügeln.

Als sie am Hof der Talbotschen Residenz angelangt waren, stieg Richard von seinem Pferd und wollte Keely aus dem Sattel helfen. Aber sie war zu schnell für ihn. Sie sprang von Merlin und rief wütend: »Ich habe mich blendend amüsiert! Danke für den herrlichen Ausflug!«

Richard schmunzelte und zog sie ihn seine Arme. »Gern geschehen, Schatz.« Seine Stimme war eine einzige Liebkosung.

Keely sank gegen seine Brust. Er war so zärtlich, ihre Wut war wie weggefegt. Schließlich war es nicht seine Schuld, daß er so gar keine Ahnung vom Leben nach dem Tod hatte. Er war dazu erzogen worden, im Hier und Jetzt zu leben, ohne einen ernsthaften Gedanken an das Jenseits zu verschwenden.

»Warum bestehst du darauf, mich zu heiraten?« fragte ihn Keely. »Ich bin so anders als die Damen am Hofe, die du kennst. Und nicht im geringsten bereit, mich zu ändern.«

»Du bist die einzige Frau, die jemals meine Eifersucht weckte«, antwortete Richard. »Und es ist sehr unbefriedigend, einen Baum herausfordern zu wollen.«

Keely kicherte. »Tu doch so, als seist du eine edle Eiche.«

»Wie geht das?«

Keely nahm seine Arme und hob sie hoch in die Luft. »Achte auf deine Äste.«

Richard zog eine Augenbraue in die Höhe. »Was soll ich jetzt tun?« fragte er.

»Nichts.« Keely trat dicht an ihn heran und drückte sich an ihn. Sie legte die Arme um seinen Körper, stellte sich auf die Zehenspitzen und küßte ihn zart auf den Mund. Bevor er sie fest an seinen männlichen Körper pressen konnte, drehte Keely sich um und verschwand im Haus.

Deine Mädchenzeit ist in weniger als einem Monat vorbei, dachte Richard, als er ihr hinterher blickte. Genieße deine neckischen Spiele, so lange du kannst ...