Zwanzigstes Kapitel

»Verdammter Pferdemist!« rief Roger.

Der Junge stand vor der Priorei und beschattete die Augen, um besser sehen zu können, den Blick in die Ferne gerichtet. Reiter näherten sich der Priorei, und Roger erkannte die beiden Männer, die voran ritten.

»Graf Richard!« rief er und rannte in das Haus hinein. »Soldaten aus London kommen. Es sind Dudley und mein Vater.«

Sowohl Richard als auch Herzog Robert packten ihr Schwert und rannten nach draußen. Hinter Dudley und dem Grafen von Eden, Rogers Vater, ritten sechs Männer.

Richard warf seinem Schwiegervater einen besorgten Blick zu. Kam Dudley, um sie verhaften zu lassen, oder überbrachte er die Nachricht von Keelys sicherer Ankunft in London?

Eine Woche war seit jenem schicksalhaften Tag verstrichen, an dem er Willis herausgefordert hatte. Inzwischen sollte seine Frau London erreicht und den Mord an Lady Jane aufgeklärt haben.

»Steckt das Schwert in die Scheide«, erklärte Richard, als er sah, wer hinter Dudley ritt. »Onkel Hal ist dabei. Keely muß in London angekommen sein.«

»Ich traue Dudley nicht«, antwortete Herzog Robert und steckte sein Schwert widerstrebend in die Scheide. »Und von Debrett halte ich auch nicht viel. Das ist nicht gegen dich gerichtet, Roger.«

»Das habe ich auch nicht so verstanden«, entgegnete der Junge. »Auch ich halte nicht viel von meinem Vater.«

Robert Dudley, Simon Debrett und Hal Bagenal brachten ihre Pferde zum Stehen und stiegen ab. Auf eine Kopfbewegung Dudleys hin zogen die Soldaten das Schwert.

»Ich habe es dir gesagt«, flüsterte Herzog Robert.

Richard warf seinem Stiefvater einen fragenden Blick zu. Onkel Hal zuckte, offensichtlich unglücklich, die Schultern, als wolle er sich entschuldigen. In diesem Augenblick war Richard klar, daß Dudley seinen Stiefvater gezwungen haben mußte, ihm sein Versteck zu verraten.

»Richard Devereux und Robert Talbot, ich verhafte Euch hiermit auf Befehl Ihrer Majestät«, verkündete Dudley. »Ihr habt willentlich dem Gericht Ihrer Majestät zuwider gehandelt und den jungen Roger Debrett entführt, den Erben des Grafen von Eden.«

»Das ist eine Lüge!« rief Roger. »Ich zwang sie, mich mitzunehmen.«

»Unverbesserlicher Lümmel«, stieß Simon Debrett zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und versetzte seinem Sohn einen Schlag, daß dieser zu Boden ging.

Sowohl Richard als auch Herzog Robert traten einen Schritt nach vorne, um den Jungen zu schützen. Fünf auf ihre Brust gerichtete Schwerter überzeugten sie, zu bleiben, wo sie waren.

»Wo ist Baron Smythe?« wollte Dudley wissen. »Er ist verhaftet, da er Flüchtigen Zuflucht bot.«

»Smythe liegt in der Familiengruft«, klärte Herzog Robert ihn auf.

Dudley wich zurück. »War er krank?«

»Wir haben uns duelliert«, antwortete Richard. »Ich gewann.«

»Ihr habt also auch Smythe ermordet?«

»Es war eine Hinrichtung«, verteidigte Roger den Grafen. »Kein Mord.«

»Halt den Mund«, fuhr Simon Debrett ihn an und schüttelte ihn. »Du wirst das bereuen, sobald wir zu Hause sind.«

»Dudley, ich erklärte bereits, daß Smythe Richards Frau entführte«, mischte Hal sich ein. »Das war der Grund, warum der Graf geflohen ist.«

»Und wo befindet sich die fragliche Dame?« wollte Dudley wissen.

Richard warf seinem Stiefvater einen besorgten Blick zu. »Keely ist nicht nach Devereux House zurückgekehrt?«

Hal schüttelte den Kopf.

Wo ist sie? fragte Richard sich. Wohin hatten Odo und Hew sie gebracht? Konnten sie das Opfer von Straßenräubern geworden sein? Gott im Himmel, seine schwangere Frau war wie vom Erdboden verschluckt! Und nach dem haßerfüllten Blick Dudleys zu urteilen, würde er wenig Gelegenheit haben, nach ihr zu suchen.

»Nun, Devereux? Was habt Ihr Eurer Frau angetan?« Dudley klang beinahe zufrieden. »Vielleicht sollten wir doch einen Blick in die Gruft der Smythes werfen.«

»Überlegt, was Ihr sagt«, entgegnete Richard. Bei diesem Vorwurf aus dem Mund seines Rivalen wurde ihm beinahe übel. »Würde ich die Frau töten, die meinen Erben unter dem Herzen trägt?«

»Ein verrückt gewordenes Ungeheuer wie Ihr ist zu allem fähig«, antwortete Dudley. »Laßt die Waffen sinken!«

Richard und Herzog Robert fügten sich in das Unvermeidbare und ließen zuerst ihr Schwert und dann ihren Dolch zu Boden sinken. Richard warf seinem Stiefvater einen vorwurfsvollen Blick zu, der den Anstand besaß, daraufhin zu erröten.

»Es tut mir leid, Richard«, entschuldigte sich Hal. »Dudley brachte Elisabeth dazu, Louise, Cheshire und Morgana im Tower als Geiseln zu halten, bis du dich ergibst und dein Verhalten erklärst. Ich ritt mit Dudley, um zu gewährleisten, daß du wohlbehalten in London ankommst.«

»Ihr ließt meine Mutter in den Tower werfen?« explodierte Richard. Ohnmächtige Wut packte ihn. Er erwartete keine Gnade von seinem schlimmsten Rivalen, aber die Mißhandlung seiner sanftmütigen Mutter erzürnte ihn über alle Maßen.

Ungeachtet der Folgen schob Richard einen der Soldaten beiseite und sprang Dudley an den Hals. Er drückte zu, und zwei Soldaten mußten Richard mit aller Kraft von ihrem Herrn wiegzerren. Doch Richard ergab sich nicht, und daher mußten sie den wild um sich schlagenden Grafen festhalten.

Herzog Robert tat es seinem Schwiegersohn nach und hechtete auf Dudley zu. Seine Faust traf den Grafen von Leicester am Kinn.

Zwei weitere Soldaten eilten herbei, um ihren Herren zu verteidigen. Sie versuchten mit aller Kraft, den wütenden Herzog von Ludlow ruhigzustellen.

»Feiger Hundesohn!« schrie Roger Leicester an und riß sich von seinem Vater los.

Der Junge traf Dudley am Schienbein. Der letzte Soldat des Grafen packte schließlich den Jungen.

»Kümmert Euch um Euren Flegel, Eden!« fauchte Dudley.

Debrett trat auf den Jungen zu, aber Hal Bagenal hielt ihn zurück. »Ihr wollt Euren eigenen Sohn schlagen, weil er sich einem Freund gegenüber loyal erweist?«

»Basildon, ich habe lange auf Euren Sturz gewartet«, erklärte Dudley und holte aus, um zuzuschlagen.

»Es reicht, Leicester«, rief Onkel Hal und zog das Schwert. Die Spitze auf Leicester gerichtet, fuhr er fort: »Wenn Ihr meinen Stiefsohn schlagt, werde ich Euch dafür zur Verantwortung ziehen.«

»Debrett, entwaffnet den Verräter«, befahl Dudley.

Der Graf von Eden blickte von Robert Dudley zu Hal Bagenal. Er teilte Leicesters Groll nicht, doch wollte er auch nicht Schwierigkeiten bekommen, weil er gemeinsame Sache mit einem Feind der Krone machte. Debrett überlegte lange, bevor er handelte. Offensichtlich kam er zu dem Schluß, daß Dudley aus der Sache als Sieger hervorgehen würde. Er griff nach Bagenals Schwert.

»Keiner von euch hochwohlgeborenen Lords macht auch nur einen Finger krumm«, befahl eine Stimme.

»Wer sich bewegt, ist tot«, fügte eine zweite Stimme hinzu.

Den Bruchteil einer Sekunde lang erstarrten alle, bevor sie hochblickten zu den zwei walisischen Hünen, die auf sie zukamen. Richard hörte auf, gegen seine Widersacher anzukämpfen, und sah erleichtert, wie Odo zum Grafen von Leicester trat und ihm seine Schwertspitze ans Genick hielt.

»Seid gegrüßt, Cousins.« Richard war ungemein froh, die Verwandten seiner Frau zu sehen, er hätte sie küssen können – auf die Lippen.

»Sag deinen Männern, sie sollen sie loslassen«, befahl Odo an Dudley gewandt.

»Und laßt eure Waffen fallen«, fügte Hew hinzu, das Schwert im Rücken des Grafen von Eden.

»Auf die Behinderung der königlichen Soldaten steht eine schwere Strafe«, warnte Dudley sie. »Ich verspreche Euch, Ihr werdet in Tyburn am Galgen baumeln.«

»Was meinst du, Bruder?« fragte Odo.

»Bringen wir doch den Haufen um«, antwortete Hew. »Dann kann der Hundesohn der Königin nicht vorjammern, wie wir ihre Soldaten behinderten.«

»Wenn Euch etwas an Eurer Gesundheit liegt, befolgt ihre Anweisungen«, riet Richard, während sein Stiefvater seine Klinge an Leicesters Wange hielt. »Onkel Hals Hand zittert immer so, wenn er sich aufregt. Eine Schwertwunde würde Eure Schönheit beeinträchtigen.«

»Sehr komisch«, schnaubte Dudley, doch er gab nach. »Legt Eure Waffen nieder, Männer. Debrett, Ihr auch.«

Die fünf Soldaten ließen ihre Gefangenen los und gaben ihre Schwerter ab. Dudley und Debrett taten es ihnen gleich.

»Setzt euch an die Wand der Priorei und haltet die Hände nach oben«, befahl Hew.

Als die sieben Männer diesem Befehl nachgekommen waren, hielt Hew neben ihnen Wache. »Wenn ihr auch nur den kleinen Finger bewegt«, warnte er sie, »mache ich Hackfleisch aus euch.«

»Wo ist Keely?« fragte Richard nun Odo.

»Sie ist in Sicherheit, bei Rhys in Wales.«

Gott sei Dank, dachte Richard. Erleichtert legte er Odo die Hand auf die Schulter. »Danke, Cousin.«

»Nichts zu danken«, rief Hew, bevor sein Bruder etwas sagen konnte. »Der junge Marquis ist bei ihr.«

»Keely schickte uns zurück, um Euren Namen reinzuwaschen«, erklärte Odo. »Wir beschlossen, zuvor hier haltzumachen und den Baron zu töten, da er sie geschlagen hat.« An den Herzog gewandt, fügte der Hüne hinzu: »Scheint, als hat Henry das Zeug zum Helden. Er setzte sein Leben aufs Spiel, um unser kleines Mädchen in Sicherheit zu bringen.«

»Danke, daß Ihr mir dies mitteilt«, erwiderte Herzog Robert lächelnd mit vor Stolz geschwellter Brust. »Ich war stets davon überzeugt, daß er nach mir kommt.«

»Wir können Dudley ein paar Tage gefangenhalten, bis du Keely geholt hast«, schlug Onkel Hal Richard vor.

»Und was ist mit mir?« fragte Roger mit einem ängstlichen Seitenblick auf seinen Vater.

Richard blickte von Roger zu dem offensichtlich wütenden Grafen von Eden. Er lächelte dem Jungen zu und meinte: »Kleiner, Seine Gnaden und ich würden niemals erwägen, ohne dich zu reisen.«

»Nehmen wir doch ihre Pferde«, schlug Herzog Robert vor. »Dann brauchen wir die unseren nicht zu satteln.«

»Nein, wir reiten auf unseren eigenen«, entgegnete Richard.

»Einen Augenblick, Mylords«, unterbrach Odo sie. »Rhys hält Keely und Henry als Geiseln.«

Der Graf von Leicester und der Graf von Eden blickten einander an und lachten schadenfroh.

»Mein Schwager hält meine Frau als Geisel?« wiederholte Richard, außer sich vor Entrüstung.

Odo nickte.

»Wieviel will er?«

»Rhys will nicht Euer Geld«, antwortete Odo. An den Herzog gewandt, fügte er hinzu: »Baron Lloyd wünscht die schöne und liebreizende – ich denke, das war das Wort, das er gebrauchte – die liebreizende Lady Morgana als Braut.«

Herzog Robert lächelte. »Baron Lloyd kann die Hand meiner Tochter und eine ansehnliche Mitgift haben.«

Richard und sein Schwiegervater machten sich auf den Weg zu den Stallungen. Als er merkte, daß der Junge nicht an ihrer Seite war, rief Richard zurück: »Kommst du, Kleiner?«

Roger grinste und setzte ihnen nach.

»Komm sofort zurück, Sohn!« brüllte der Graf von Eden, auch wenn er sich angesichts des Schwerts, das der Hüne auf ihn richtete, nicht zu bewegen wagte. »Gehorche mir, oder ich schlag dich so gut wie tot. Ich enterbe dich!«

Richard hielt inne und drehte sich langsam um. »Roger besitzt mehr Anstand im kleinen Finger als zehn Edelleute zusammen. Wenn Ihr ihm auch nur ein Haar krümmt, werde ich dafür sorgen, daß Ihr noch vor der Mittsommernacht am Bettelstab geht.«

»Soll das eine Drohung sein?« begehrte der Graf von Eden auf.

»Betrachtet es als Versprechen.«

Der Graf von Basildon, der Herzog von Ludlow und der Page der Königin wandten sich um und machten sich auf zu den Stallungen. Als sie um die Ecke bogen, waren sie zwar nicht mehr zu sehen, aber noch immer zu hören.

»Warum nehmen wir nicht einfach ihre Pferde?« fragte Roger.

»Kleiner, du mußt stets den nächsten Zug deines Gegners in Erwägung ziehen«, erklärte Richard dem Jungen. »Wenn wir ihre Pferde nehmen, wird Dudley versuchen, Elisabeth dazu zu bewegen, uns wegen Pferdediebstahls zu hängen ...«

Fünfundzwanzig Meilen nordwestlich der Smythe Priorei lag der Sitz der Lloyds, eingebettet in ein abgelegenes Bergtal südlich des Sees von Vyrnwy. In den Waliser Bergen ließ sich der Frühling stets Zeit, aber dieser Tag war besonders grau und kühl, obwohl es nur noch ein paar Stunden bis zum ersten Mai waren. Es schien, als wolle der Winter die Menschen daran erinnern, daß er noch nicht besiegt war.

Keely betrat den Saal der Lloyds kurz vor dem Mittagessen. Sie trug einen schweren Wollmantel über dem Arm und einen alten Beltanekorb ihrer Mutter. Nachdem sie beides am Haupttisch abgelegt hatte, setzte sie sich neben ihren Bruder.

»Allmählich siehst du aus, als ob du etwas Größeres verschluckt hast«, neckte Rhys sie augenzwinkernd. »Wie geht es deiner Hand?«

»Bereits viel besser.« Keely blickte hinunter auf ihren dicken Bauch und errötete. Doch dann verdüsterte sich ihr Gesicht. Besorgt fragte sie ihren Bruder: »Denkst du, Odo und Hew sind sicher in London angekommen?«

»Wenn du ein Straßenräuber wärst, würdest du zwei Riesen angreifen?«

Keely schüttelte den Kopf. »Aber wie lange, glaubst du, dauert es, bis mein Mann freikommt?«

»Das hängt ganz von der englischen Königin ab«, meinte Rhys. »Wales ist deine Heimat, Schwester. Bleibe hier, solange du willst. Ich wäre froh, wenn du immer hier bliebest.«

»Danke«, antwortete Keely lächelnd. Seit Madoc tot war, fühlte sie sich in der Burg der Lloyd zu Hause. Niemand schimpfte sie mehr einen Bastard. Ganz im Gegenteil, die Clans- und Gefolgsleute der Lloyd schienen freundlicher zu sein als je zuvor. Vielleicht hatten sie Keely die ganze Zeit gut leiden können und nur Madocs Zorn gefürchtet.

»Ich kann aber nicht für immer hier bleiben«, antwortete sie. »Mein Mann und mein Baby brauchen mich, und sie brauchen einander. Trotz seiner vielen Fehler liebe ich Richard.«

Rhys warf ihr einen langen Blick zu und erkundigte sich, in welcher Hinsicht der Graf denn Fehler habe.

»Er ist so sehr englisch, daß er nicht über den Horizont hinausblicken kann.«

Rhys biß sich auf die Unterlippe, um ihr nicht ins Gesicht lachen zu müssen. Seine Schwester war so herrlich unlogisch. Schließlich gab es hier niemanden, der über den Horizont hinausblicken konnte. Nur Megan und Keely waren dazu in der Lage gewesen. Nicht wenige glaubten, seine verstorbene Stiefmutter wäre übersinnlich begabt gewesen. Rhys selbst war von Natur aus pragmatisch.

Keely ließ den Blick über den Saal schweifen. »Wo ist Henry?«

Rhys zwinkerte ihr zu. »Unterhält sich mit seiner neuesten Freundin, Elen von den großen Brüsten.«

Keely rollte die Augen. Sie hätte ihren jüngeren Bruder wirklich besser beaufsichtigen sollen. Doch angesichts der Tatsache, daß er ihr das Leben gerettet hatte, brachte sie es nicht übers Herz, ihn von seiner eigenen Art zu feiern abzuhalten.

»Ich muß Beltanezweige sammeln«, wechselte Keely das Thema und streckte die Hand nach dem Mantel und dem Korb aus. »Danach möchte ich Megan besuchen.«

»Es ist kalt heute«, wandte Rhys ein. »Bleibe nicht zu lange draußen, es könnte meinem Neffen schaden.«

»Du willst sagen, deiner Nichte«, berichtigte sie ihn und verließ den Saal.

Draußen im Hof holte Keely tief Luft; hier in Wales war die Luft so rein. Die grauen Wolken hingen bedrückend tief, doch ab und an riß die Wolkendecke auf, und ein paar Sonnenstrahlen erreichten die Erde. In ihren Druidenknochen spürte Keely, daß der Winter vergebens darum kämpfte, das Land und die Menschen in seinen Klauen zu halten. Sie sah über den Horizont hinaus – hinter diesen dunkel dräuenden Wolken wartete der Frühling.

Keely zog den Mantel enger um die Schultern und ging in die Wälder, welche die Burg der Lloyds umgaben. Den Beltanekorb am Arm, suchte sie nach den neun verschiedenen Baumarten, von denen die Zweige für das heilige Beltanefeuer stammen mußten.

Zuerst suchte sie die Eichen- und Birkenzweige, die den Gott und die Göttin symbolisierten und damit die Fruchtbarkeit. Darauf folgten Ebereschenzweige zum Schutz gegen das Böse. Als nächstes kamen Weißdornzweige, die für Reinheit standen, und Haselnußzweige, die die Weisheit symbolisierten. Zum Schluß suchte sie noch wilden Wein zur Förderung der Freude und Tannenzweige als Symbol der Wiedergeburt. Am wichtigsten waren jedoch die Apfelbaumzweige, die sie obenauf legte und die für den Zauber der Liebe standen. Beim Beltanefest wurde die körperliche Vereinigung der jungen Liebenden gefeiert, und die Zweige vom Apfelbaum waren bei diesem Fest das wichtigste Zubehör.

Als sie mit dem Sammeln der Zweige fertig war, kehrte Keely zu der Lichtung im Tal zurück und suchte das Grab ihrer Mutter auf. Sie ging an dem Friedhof der Lloyds vorbei, bis sie zu dem grasbewachsenen Hügel kam, auf dem die drei mächtigen Eichen wie alte Freunde zusammenstanden. Das einsame Grab in ihrer Mitte war gen Osten ausgerichtet, der heiligen Richtung, in der die Sonne aufging.

»Guten Tag«, grüßte Keely die majestätischen Eichen, die Säulen gleich den Ort bewachten, an dem ihre Mutter zur ewigen Ruhe gebettet war.

Keely kniete sich vor das Grab und dachte an glücklichere Zeiten. Ob Sommer oder Winter, ob Regen oder Sonnenschein, hier waren Megan und sie zusammengesessen, hier hatte ihre Mutter sie das alte Wissen gelehrt, den Goldenen Faden der Kenntnis an sie weitergereicht.

Keely spürte, daß jemand gekommen war, und sah hoch. »Papa!« rief sie überrascht.

»Gott sei Dank, du bist in Sicherheit«, sagte Herzog Robert und kniete sich neben sie. Er zog sie an sich und küßte sie auf die Stirn.

»Ist das Megans Grab?« fragte er sie mit einem Blick auf das Grabmal.

»Hier liegt ihre sterbliche Hülle begraben«, antwortete Keely. »Aber ihre Seele ist aufgebrochen zum Großen Abenteuer.«

»Ein hochnäsiger englischer Junge, noch grün hinter den Ohren, aber überzeugt, alles zu wissen, reiste vor achtzehn Jahren nach Wales«, erzählte ihr Herzog Robert, den Blick versonnen in die Ferne gerichtet. »Er verliebte sich hoffnungslos in eine schöne, zauberhafte Frau, die einem uralten, walisischen Königsgeschlecht entstammte, und heiratete sie. Das Leben verschonte ihre Liebe nicht und trennte sie einige Zeit. Der Junge erwies sich als einfältiger Narr, der den Lügen seines Vaters Glauben schenkte ... Du bist meine legitime Erbin, Keely, und ich habe vor, dich als solche anzuerkennen.«

»Ich habe mein ganzes Leben als Bastard gelebt«, entgegnete Keely. »Welchem Zweck würde es dienen, meinen Bruder zu einem Schicksal zu verurteilen, unter dem ich mein Leben lang gelitten habe. Außerdem bin ich nun kein Bastard mehr – ich bin die Frau des Grafen.«

»Ich dachte mir, daß du das sagen würdest.« Herzog Robert hob ihre verbundene Hand und küßte sie sanft. »Du bist Megan, von deinem Äußeren her wie von deinem Inneren.«

»Danke, Papa.« Keely lächelte den englischen Herzog an, der ihr Vater geworden war, und in diesem Lächeln lag ihre ganze Liebe zu ihm. »Bitte versuche mit aller Kraft, Elisabeth davon zu überzeugen, daß sie Richard freiläßt. Ich weiß, daß er mich nicht wirklich liebt, aber ich kann nicht zulassen, daß meine Tochter vaterlos aufwächst. Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie schrecklich das ist.«

»Elisabeth änderte die Haft deines Mannes in Hausarrest um, nur wenige Stunden, bevor Smythe dich überredete, Devereux House zu verlassen«, berichtete ihr Herzog Robert. Er nahm den Drachenanhänger von seinem Hals und legte ihn in ihre Hand. »Richard liebt dich mehr als sein Leben und verdient es, das hier zu tragen als Symbol eurer Liebe.«

»Wenn das stimmt, warum hat er dich geschickt, um mich zu holen?« fragte ihn Keely, unfähig, das Unglück zu verbergen, das sie zu überwältigen drohte. Natürlich war sie unsäglich erleichtert, daß ihr Ehemann sich in Sicherheit befand, doch ...

»Wenn du über die Schulter blickst«, erwiderte Herzog Robert, »siehst du einen Mann, der den Zorn der Königin riskierte, als er aus Liebe zu dir dem Hausarrest entfloh.«

Keely fuhr herum. Unten am Hang stand ihr Mann und ließ sie nicht aus den Augen.

Richard war zu ihr gekommen.

»Ich wäre gerne einen Augenblick mit Megan allein«, flüsterte Herzog Robert ihr ins Ohr. »Geh zu deinem Mann, mein Kind.«

Ihr Vater reichte ihr die Hand, und sie stand auf und ging den Hang hinunter zu ihrem Mann. Mit einemmal war sie wieder schüchtern, ihre Schritte wurden langsamer, doch dann sah sie die Liebe in seinen Smaragdaugen.

Richard breitete die Arme aus. Mit einem lauten Freudenjuchzer hob Keely ihre Röcke und flog ihm entgegen.

Richard preßte Keely an sich, als wolle er sie nie mehr loslassen. Sein Mund suchte den ihren. Er küßte sie, und in diesen einen Kuß legte er seine ganze Liebe zu ihr.

»Ich liebe dich«, schwor er ihr. »Pour tous jours.«

»Und ich liebe dich, für immer«, flüsterte Keely. Sie sah den Drachenanhänger in ihrer Hand an und hängte ihn Richard um den Hals. »Das gehört dir.«

»Danke, Schatz.« Beinahe ehrfürchtig berührte Richard den funkelnden Drachenanhänger. »Ich werde ihn und deine Liebe immer in Ehren halten.«

»Können wir zur Beltanefeier hierbleiben?« fragte sie, und ihre veilchenblauen Augen funkelten aufgeregt. »Heute ist der Tag, an dem die jungen Liebenden über das Feuer springen.«

»Aye, und wir werden uns dieser Feier anschließen«, antwortete er und zog sie an sich. »Für dich würde ich über tausend Feuer springen, Geliebte.«

Keely blickte nach oben, zu ihrem Vater. Er saß an Megans Grab, eine einsame und traurige Gestalt.

»Mutter, er liebte dich so«, flüsterte Keely. »Schicke ihm ein Zeichen.«

Ferne grollte der Donner. Die Wolkendecke riß auf, und Sonnenstrahlen fanden den Weg auf die Welt. Riesige, grazile Schneeflocken schwebten herunter von den Wolkengebirgen und legten sich wie feine Spitzen über die Erde.

Überrascht sah Herzog Robert hoch zum Himmel. Ein heiteres Lächeln huschte über seine Lippen, der traurige Ausdruck war verflogen.

»Es donnert und schneit und die Sonne scheint«, stellte Richard fest. »Und alles zur selben Zeit.«

Keely sah mit ihren veilchenblauen Augen verwundert ihren Mann an und fragte ihn: »War ich das?«

»Nein, Schatz. Das war Megan.«

Sie kam am zehnten August an und sie nannten sie Blythe.

Sechs Wochen später, am einundzwanzigsten September, waren die englischen Hecken und Parks übersät mit purpurfarbenen Astern, die ihren eigenartigen Duft verströmten. Er kündete den Erntevollmond an und das Herbstäquinoktium, die vollkommene Tagundnachtgleiche.

Um Mitternacht hatten die Londoner Christen bereits ihre Festbraten zu Ehren des heiligen Michael verspeist, und die Bauern vor der Stadt hatten ihr Erntefest begangen. Ganz England schlief – bis auf ein großes Herrenhaus am Strand.

»Du bist zufrieden mit einer Tochter statt eines Sohns?« fragte Keely die hochgewachsene Gestalt in der weißen Robe, die neben der Wiege stand.

»Um die Wahrheit zu sagen, ich bin erleichtert«, gestand Richard und lächelte sie an. »Ich liebe Blythe und dich zu sehr, um zu einer Pflichtreise nach Irland aufbrechen zu wollen. Und ich bin zu stolz, um Elisabeth einzugestehen, daß ich meine Meinung geändert habe.« Er blickte hinunter auf seine schlafende Tochter und beklagte sich: »Zum Teufel, ich halte es nicht aus, sie anzusehen.«

»Ja, Blythe ist ungewöhnlich hübsch.« Keely trat an seine Seite. »Sie ist die Frucht unserer Liebe.«

»Aye, das ist die Rache Gottes. Weil ich so viele Frauen verführt habe. Es wäre mir lieber, sie wäre nicht ganz so hübsch.«

»Warum?« fragte ihn Keely überrascht.

»Es gibt in England zu viele glattzüngige Schurken, die es nur darauf abgesehen haben, jungen Mädchen die Unschuld zu rauben«, antwortete Richard.

Keely mußte über seine Besorgtheit schmunzeln. »Ist das der Mann, dem keine Frau widerstehen konnte?« neckte sie ihn.

»Eine konnte widerstehen, und in diese habe ich mich verliebt«, entgegnete Richard und zog sie an seine Brust. »Was uns nicht weiterhilft bei dem augenblicklichen Problem, wie wir uns der gutaussehenden Verehrer erwehren, die hinter Blythe her sind.«

»Augenblickliches Problem? Sie ist erst sechs Wochen alt.«

»Es ist immer gut, auf alles vorbereitet zu sein.«

»Liebling, du kannst die Bienen nicht davon abhalten, den Nektar der Blumen zu kosten.«

»Sie sollen woanders ihren Nektar kosten – aber nicht den meinen.«

»Hast du vor, dir darüber die nächsten fünfzehn Jahre den Kopf zu zerbrechen?«

»Wahrscheinlich.«

Unten, im großen Saal, warteten die Familie und die Freunde darauf, daß Richard und Keely mit der kleinen Blythe erschienen. Es waren zwölf Personen, die an dieser Nachtzeremonie teilnehmen wollten, in der die Göttin die kleine Blythe segnen würde. Herzog Robert und Lady Dawn unterhielten sich vor dem Kamin leise mit Richards Eltern. Auf der anderen Seite des Saals standen Henry und Roger und tauschten süße Erinnerungen an ihren Aufenthalt in Wales und an Elen aus. Odo und Hew schäkerten mit ihren Frauen, June und May. Jennings, der Majordomus des Grafen, hatte darauf bestanden, in dieser für seine kleine Blythe so besonderen Nacht dabeizusein. Bei ihm stand Mrs. Ashemole, die Keely vor kurzem angestellt hatte, um ihr bei Blythe und allen Kindern, die noch folgen sollten, zur Hand zu gehen.

Bis auf Richards drei Schwestern, die im Ausland lebten, und Keelys Stiefbruder und Halbschwester waren alle Familienmitglieder anwesend. Morgana Lloyd hatte die lange Reise von Wales nicht antreten können, ihre Schwangerschaft bereitete ihr Beschwerden, und ihr Ehemann, Rhys, der sie anbetete, weigerte sich, sie allein zu lassen.

Nachdem sie die Kapuze ihres Zeremoniengewandes aufgesetzt hatte, reichte Keely jedem Gast eine Kerze. Die verschiedenen Farben der Kerzen standen für die Eigenschaften, die sie sich für ihre Tochter wünschte. Von Gesundheit und Mut bis hin zu wahrer Liebe und Glück war alles vertreten.

Während ihr Mann seine Tochter in den Armen hielt und wartete, zündete sie die Kerzen der Anwesenden an. Stumm führte sie die Prozession in den Park hinaus zu dem Ort, wo die Birke, die Eibe und die Eiche zusammenstanden.

Mit ihren heiligen Steinen legte Keely einen Kreis, nur im Westen ließ sie eine Öffnung. Zwischen die Steine legte sie wilde Holunderbeeren, Heidelbeeren, Schlehen und Pflaumen.

Alle betraten den Kreis durch die westliche Öffnung, und Keely schloß ihn mit dem letzten heiligen Stein. Dazu sprach sie die Worte: »Störende Gedanken bleiben draußen.«

Keely führte Richard und Blythe in die Kreismitte. Ihre Freunde hielten die Kerze hoch und bildeten einen Kreis um sie.

Auf ein Nicken seiner Frau hin hob Richard Blythe hoch und Keely rief: »Große Muttergöttin, Beschützerin all deiner Kinder. Behüte Blythe, das Juwel meines Lebens, in Liebe gezeugt und geboren. Schütze und segne sie. Sorge dafür, daß sie mit beiden Beinen fest auf der Erde steht, während ihr Geist sich erhebt und die Weisheit der Sterne sucht.«

Keely nahm Blythe aus Richards Armen und hielt sie an ihre Brust. Mit geschlossenen Augen flüsterte sie: »Öffne mein Herz, damit ich über den Horizont hinaussehe in die Zukunft meines geliebten Kindes.«

Die Zeit verstrich. Ein zufriedenes Lächeln spielte über Keelys Mund und verschwand wieder.

»Ich danke der Göttin, daß sie mich an ihrer Weisheit teilhaben ließ«, sagte Keely und beendete die Zeremonie.

Keely drückte Blythe Herzog Robert in die Arme und trat an den westlichen Rand des Kreises, um den Bann aufzuheben. »Glühwein und gewürzter Most wird im Saal gereicht«, erklärte sie, als die Gäste den Schutz des Kreises verließen.

Alle machten sich auf den Weg zurück ins Haus. Nur die stolzen Eltern blieben noch. Während Keely den Kreis außen umrundete und ihre Steine einsammelte, lief Richard zum nebelverhangenen Ufer der Themse und wartete auf sie.

»Was siehst du?« fragte Keely, als sie sich bei ihm unterhakte.

»Über den Horizont hinaus.«

Keely lächelte. »Du mußt die Augen eines Adlers haben.«

»Ich brauche Adleraugen, um die Schurken von unserer Tochter fernzuhalten.«

Keely kicherte. »Schatz, dein Gespür für das Unsichtbare gleicht dem eines Ziegelsteins.«

»Deshalb habe ich dich geheiratet«, entgegnete Richard augenzwinkernd. »So kannst du mich immer davor beschützen, über Dinge zu stolpern, die ich nicht sehen kann.«

»Du bist sehr komisch.«

Richard zog sie in seine Arme und küßte sie leidenschaftlich. »Ich liebe dich, Schatz«, flüsterte er.

»Und ich liebe dich«, hauchte sie.

Er hob sie hoch, und sie legte ihm die Arme um den Hals. Während er sie über die Rasenflächen zum Haus trug, fragte er sie: »Was hast du in Blythes Zukunft gesehen?«

»Einen Bruder«, antwortete Keely. »Und sechs Schwestern.«

Richard blieb abrupt stehen. »Ich muß auf sieben Mädchen aufpassen?«

»Bei den heiligen Steinen, laß mich nicht fallen!«

»Ich werde dich nie loslassen«, versprach Richard, und die Liebe leuchtete ihm aus den Augen. »Pour tous jours.«

»Für immer«, flüsterte Keely, und dann küßte sie ihn.