Fünfzehntes Kapitel
Keely schlüpfte aus den Armen ihres Mannes und kletterte aus dem Bett. Sie betrachtete ihn, wie er so dalag. Durch den Schlaf waren seine Gesichtszüge entspannt, was ihm ein jungenhaftes Aussehen verlieh. Daß sein Ärger so schnell verflogen war, hatte Keely überrascht und ihr Hoffnung gegeben. Sie war stets davon ausgegangen, alle Männer würden ihren Groll pflegen, wie es ihr Stiefvater getan hatte. Doch als Richard letzte Nacht in ihr Schlafzimmer zurückgekehrt war, hatte er sich benommen, als wäre kein böses Wort zwischen ihnen gefallen.
Keely deckte ihn bis über beide Schultern zu und ging barfuß zum Fenster. Der Tag hatte grau und trüb begonnen, der Himmel war bedeckt, als stünde Schnee ins Haus – nicht ungewöhnlich für den einundzwanzigsten Dezember.
Keelys Herz hallte wider von dem Lied ihrer Druidenahnen. Heute war die Wintersonnwende, Alban Arthuan, das Fest des Lichts, wenn die Sonne die Dunkelheit der Welt überwand und die Tage wieder länger wurden.
Keely wünschte sich, sie könnte diesen Feiertag draußen begehen und nach den heiligen Mistelzweigen suchen, aber der Graf hatte recht. Wenn diese Engländer, die von nichts eine Ahnung hatten, sie dabei erwischten, würden sie sie als Hexe auf dem Scheiterhaufen verbrennen.
Als ihr Blick noch einmal auf ihren schlafenden Ehemann fiel, überlegte sie kurz, ob sie ihn aufwecken sollte, entschied sich dann jedoch dagegen. An einer heidnischen Zeremonie teilzunehmen, würde für ihn wohl nie an erster Stelle stehen.
Keely zog sich ihre Zeremonienrobe über das Nachtgewand und wählte einen schwarzen Obsidian, um die schwarze Magie fernzuhalten. Mit den Achaten legte sie einen Kreis in der Mitte des Zimmers. Dabei ließ sie nur im Westen einen Eingang offen.
Durch diesen Eingang betrat sie den Kreis und schloß ihn mit dem letzten weißen Achat, wobei sie flüsterte: »Störende Gedanken bleiben draußen.«
Sie stellte die Kerze in die Mitte des Kreises und legte den schwarzen Obsidian daneben. Dann schloß sie den Kreis, indem sie ihn mit ihrer goldenen Sichel nachzog. Wieder in der Mitte des Kreises, drehte sie sich dreimal im Uhrzeigersinn und kam, den Blick nach Osten gerichtet, zum Stehen.
Sie kniete sich nieder, schloß die Augen und sang: »Die Alten sind hier, sie warten ab und sehen zu. Die Sterne sprechen durch die Steine, und das Licht scheint durch die dickste Eiche. Himmel und Erde sind ein Reich.«
Daraufhin nahm sie die Kerze und hob sie gen Osten. »Heil dir, Große Muttergöttin, die du das Licht aus der Dunkelheit bringst und die Wiedergeburt aus dem Tod. Ich bitte dich um eine Gnade: Beschütze mein ungeborenes Kind, sorge für seine Sicherheit. Und obwohl er kein Gläubiger ist, befreie meinen Ehemann von dem Bösen, das in seiner Nähe lauert.«
Nachdem sie die Kerze ausgeblasen hatte, erhob sich Keely, trat an den westlichen Rand des Kreises und hob einen Achat auf, womit der Bann gebrochen war. Sie warf kurz einen Blick auf das Bett und erstarrte.
Richard lag auf der Seite und beobachtete sie. »Wie geht es dir?« fragte er sie schlaftrunken.
»Gut.« Keely machte sich auf eine Standpauke gefaßt.
»Es ist doch äußerst merkwürdig, daß die Morgenübelkeit dir nur am Sonntag zu schaffen macht, wenn wir uns für den Kirchgang zurechtmachen«, bemerkte Richard schmunzelnd.
Keely überging diese scharfsinnige Beobachtung. Sie sammelte ihre magischen Steine ein und räumte sie auf, bevor sie die Zeremonienrobe auszog und zurück ins Bett kletterte.
Richard hob einladend die Decke hoch, und Keely kuschelte sich an ihn. Er zog sie in seine Arme, und sie legte den Kopf auf seine Brust.
»Du hast gebetet, Schatz«, flüsterte Richard, während er mit dem Daumen ihre seidene Wange liebkoste. »Danke, daß du mich in deine Gebete eingeschlossen hast.«
»Gern geschehen.« Dann jammerte sie: »Den Kreis hier im Zimmer zu legen, behindert meine Andacht.«
Richard grinste und gähnte. »Es ist noch so früh, schlafen wir noch ein wenig.«
Keely schloß die Augen und kuschelte sich wieder an Richard. In seinen Armen fühlte sie sich sicher. Eine Zeitlang lagen sie zufrieden da und schwiegen.
»Richard?«
»Ja, Schatz?«
»Wann ziehst du die Zeremonienrobe an, die ich für dich gemacht habe?«
»Vielleicht wenn du Das Leben der Heiligen fertig gelesen hast.«
»Aber ich habe noch gar nicht damit angefangen.«
»Ich weiß ...«
Bei schlechtem Wetter vertrieben sich die Höflinge mit Kartenspielen, Glücksspiel, Wahrsagen und Tennis die Zeit. Vor dem Abendessen verließ Richard das gemeinsame Schlafzimmer, um Herzog Robert aufzusuchen, der ihn zu einem riskanten Glücksspiel eingeladen hatte.
Keely war an diesem Tag nach keiner der üblichen Vergnügungen zumute. Sie hatte es sich statt dessen vor dem Kaminfeuer bequem gemacht und nähte Babykleider. Zwischendurch lehnte sie sich in ihrem Sessel zurück, schaute dem Spiel der Flammen zu und versuchte dabei, sich ihre Tochter vorzustellen. Ob sie wohl rote Haare und grüne Augen haben würde wie ihr Vater? Oder die ebenholzschwarzen Flechten und veilchenblauen Augen ihrer Mutter? Vielleicht bekam sie auch schwarze Haare und grüne Augen?
»Bist du da, kleines Mädchen?« Ein Klopfen an der Tür und Odos Stimme riß Keely aus ihren Tagträumen.
»Komm herein, Cousin«, rief Keely.
Die Tür ging auf, und Odo, Hew, May und June traten durch die Tür. Alle vier grinsten über das ganze Gesicht.
»Es ist Julfest«, sagte Odo.
»Wir haben dir ein Geschenk mitgebracht«, fügte Hew hinzu.
Keely blickte auf ihre leeren Hände und sah sie fragend an.
»Schließ die Augen«, forderte Odo sie auf.
»Ich hol es«, sagte Hew.
Odo versetzte seinem Bruder einen Klaps auf den Hinterkopf. »Ich bin älter, also hole ich es.«
May fuhr Odo an: »Wag es ja nicht, ihn zu schlagen.«
»Rede nicht so mit Odo«, mischte June sich ein.
»Kümmere dich um deinen eigenen Kram«, keifte May und kniff ihre Schwester in den Arm.
»Laß sie in Ruhe«, fuhr Odo sie an.
»Brüll nicht so, wenn du mit May sprichst«, mischte Hew sich in den Schlagabtausch ein.
Ohne länger auf seine Ankündigung zu warten, marschierte Keelys Geschenk in den Raum. Es lächelte und breitete einladend die Arme aus.
»Rhys!« Keely sprang aus dem Sessel hoch und lief zu ihrem Bruder, um sich in seine Arme zu werfen.
Rhys legte die Arme schützend um sie und erlaubte ihr, sich an seiner Brust auszuweinen. »Warum bist du nicht draußen, um nach den ach so schwer zugänglichen Mistelzweigen zu suchen?« neckte er sie.
»Diese verfluchten englischen Ungläubigen würden sich an die Stirn fassen und tot umfallen«, antwortete sie mit einem tränenfeuchten Lächeln.
»Das wäre keine schlechter Weg, um das Ungeziefer loszuwerden.« Rhys sah sie an und wischte ihr mit den Fingerspitzen die Tränen von den Wangen. »Ach, Schwester, neben deiner Schönheit verblaßt die hübscheste Wildblume auf der Wiese.«
»Und du bist einer der schönsten Männer, die ich kenne«, erwiderte Keely das Kompliment. »Du hast mir schrecklich gefehlt.«
Rhys war schlank und hochgewachsen und hatte nachtschwarzes Haar und warme, graue Augen. Mit diesen grauen Augen musterte er sie nun aufmerksam.
»Einer der schönsten Männer?« wiederholte er. »Früher sagtest du, ich sei der schönste Mann. Hat mich dein Ehemann vom ersten Platz verdrängt?«
Ohne auf diese Bemerkung einzugehen, führte Keely ihn zum offenen Kamin. »Komm, Bruder, wärme dich vor dem Feuer.«
»Alle raus«, befahl May und trieb die anderen Gäste zur Tür. »Laßt die beiden allein.« Niemand widersprach ihr.
»Liebe Cousins, das ist das schönste Geschenk, das ich je bekommen habe«, rief Keely. »Ich habe euch alle beide sehr, sehr gern.«
Odo und Hew wurden rot bis unter die Haarwurzeln und folgten den Zwillingen auf den Gang hinaus.
»Erzähl mir, Bruder, wie hast du mich gefunden?« fragte sie.
»Ludlows Diener brachten mich her«, antwortete Rhys. »Madoc ist tot und liegt unter der Erde.«
»Tot?« wiederholte Keely fassungslos. »Wie kam das?«
Nun war es an Rhys, rot zu werden. »Madoc starb unter angenehmen Umständen, wenn du verstehst, was ich meine.«
Keely schüttelte den Kopf.
»Die Begierde der Magd war zuviel für ihn«, erklärte Rhys.
»Oh.« Keely fiel die Prophezeiung ihrer Mutter ein. »Was Madoc am meisten begehrt, wird ihm zuletzt das Leben kosten ...«
»Du kannst nun nach Wales zurückkehren, wenn du es wünschst«, schloß Rhys.
»Dazu ist es sechs Wochen zu spät!« Tränen stiegen Keely in die Augen. Sie hob das Hemdchen hoch, an dem sie nähte. »Ich trage das Kind meines Mannes unter dem Herzen.«
»Ich werde Onkel?« Rhys lächelte und drückte sie an sich. »Ich hätte dich früher geholt, aber Madoc sagte mir nicht, wohin du dich aufgemacht hast. Deinen Brief erhielt ich erst nach seinem Tod.«
Keely nickte verständnisvoll.
»Wenn du nicht glücklich bist mit deinem Mann, verlaß ihn«, fuhr Rhys fort. »Das Kleine und du, ihr werdet bei mir in Wales immer ein Zuhause finden.«
Keely legte den Kopf an seine Schulter. »Ich danke dir. Richard macht mich glücklich, aber ich wünsche mir so sehr, daß er mich liebt.«
»Die Liebe kommt in vielerlei Gestalt daher, Liebling«, erklärte ihr Rhys. »Vielleicht ...«
»Und um welche Gestalt handelt es sich hier?« ertönte eine Stimme von der Tür.
Keely fuhr herum und sah Richard mit ihrem Vater in der Tür stehen. Ihr Ehemann wirkte nicht gerade glücklich. Ganz im Gegenteil, er machte einen unangebracht feindseligen Eindruck. Was hatte sie nun schon wieder falsch gemacht?
Rhys erhob sich und blickte den beiden Männern ins Gesicht. Seine Schwester war zu unerfahren, um es zu erkennen, doch er sah sofort die Eifersucht in Richards Augen und hörte sie aus seinem Ton heraus. Himmel, in den Gefühlen dieses Engländers konnte man so leicht lesen wie in einem offenen Buch. Augenscheinlich liebte dieser englische Graf seine Schwester, und das reichte Rhys, um ihn ins Herz zu schließen.
»Ich warte auf eine Antwort«, hakte Richard schroff nach.
»Brüderliche Liebe«, meinte Rhys trocken.
»Das ist Rhys«, erklärte Keely und erhob sich, bereit, den Bruder gegen ihren wütenden Ehemann zu verteidigen. »Er ist von Wales bis hierher geritten.«
Richard entspannte sich offensichtlich. Er blickte nicht mehr so finster drein, sondern lächelte breit und ging auf seinen Schwager zu, um ihm die Hand zur Begrüßung zu reichen.
Herzog Robert grinste. »Ich stehe in Eurer Schuld, weil Ihr über all diese Jahre hinweg meine Tochter beschützt habt.«
»Sowohl Seine Gnaden wie ich stehen in Eurer Schuld«, fügte Richard hinzu.
»Keely war meine kleine Schwester, lange bevor sie nach England aufbrach«, entgegnete Rhys. »Sie zu beschützen war ebenso ein Vergnügen wie eine selbstverständliche Pflicht.«
»Das Julfest steht bevor«, warf Keely ein, die noch immer die Hand ihres Bruders festhielt. Es fiel ihr schwer, ihn loszulassen, nachdem sie ihn so lange vermißt hatte. »Versprich mir, daß du bis über Neujahr bei uns bleibst.«
»Corgy vertritt mich zu Hause, und wie du weißt, ist er nicht viel schlauer als Odo und Hew«, erklärte ihr Rhys. »Bist du einverstanden, wenn ich bis Weihnachten bleibe?«
»Ja.« Strahlend wandte sich Keely an ihren Vater. »Rhys hat Neuigkeiten zu berichten, Papa. Madoc ist tot.«
Herzog Robert hätte Rhys sein Beileid ausgesprochen, doch es tat ihm nicht im geringsten leid um Madoc. Statt dessen nickte er seiner Tochter zu und sagte zu Rhys: »Kommt, Baron Lloyd. Wir verschaffen euch ein Zimmer und alles, war Ihr sonst noch braucht.«
Bevor er sich mit dem Herzog auf Zimmersuche begab, umarmte Rhys seine Schwester und küßte sie auf die Wange. »Bis später, und vergiß nicht, was ich dir gesagt habe.«
Richard setzte sich in den Sessel vor dem Kamin und zog seine Frau auf seinen Schoß. »Was hat Rhys gesagt, was du nicht vergessen sollst?«
»Daß ich bei ihm in Wales immer ein Zuhause finden werde«, antwortete Keely und starrte auf seine Brust.
»Dein Zuhause ist bei mir.«
Keely blickte langsam hoch und sah im direkt in die Augen. »In England kann ich mich nie zu Hause fühlen, Mylord.«
»Du gewöhnst dich daran.«
»Aber ich werde nie dazugehören.«
»Mach dich nicht lächerlich«, spottete Richard. »Die Gräfin von Basildon gehört nach England.«
»Der ganze Hof verachtet mich«, beharrte Keely. »Ich bin der trottelhafte walisische Bastard, der es mit ein paar Tricks geschafft hat, sich Englands beliebtesten Junggesellen zu angeln.«
»Das ist doch alles nur Schauspielerei auf höchstem Niveau«, versuchte Richard ihr klarzumachen. »Das liegt alles an ihrer eigenen Unsicherheit. Sobald sich die Gräfin von Basildon herabläßt, sich unter das Volk am Hofe zu mischen, werden sich diese hochnäsigen Hohlköpfe geehrt fühlen und dich in ihre Mitte aufnehmen.«
»Vielleicht finde ich sie meiner Gesellschaft nicht würdig.«
»Verflucht noch mal, Keely. Du stehst unten im Saal mit hängendem Kopf und gesenktem Blick. Wofür schämst du dich eigentlich?«
»Ich schäme mich nicht«, rief Keely und hüpfte von seinem Schoß. »Ich bin eine echte walisische Prinzessin, ich stamme von Llewelyn dem Großen und von Owen Glendower ab. Mein Stammbaum ist älter und würdiger als der der Königin!«
»Beweis es«, forderte Richard sie heraus und stand ebenfalls auf. »Führe Rhys heute abend herum und stelle ihn den anderen Höflingen vor.«
Sofort kaute Keely wieder unsicher an ihrer Unterlippe. Sie hätte es zwar nie zugegeben, aber insgeheim fürchtete sie, ihr fehle der Mut dazu. »Ich überlege es mir«, zog sie sich schließlich aus der Affäre.
Richard sah die Bangigkeit in ihren Augen und setzte etwas milder hinzu: »Ich werde dabei nicht von deiner Seite weichen, Schatz.«
»Ich werde dabei nicht von deiner Seite weichen, Schatz ...«
Ein weiteres gebrochenes Versprechen eines englischen Lords, dachte Keely verletzt und verwirrt. Sie hätte es sich denken können. Ihr charmanter Mann hatte sie weit genug eingelullt, daß sie beinahe vergessen hätte, was man ihrer Mutter angetan hatte. Sie durfte nie mehr so nachlässig in ihrem gesunden Mißtrauen werden, andernfalls könnte sie ihren Seelenfrieden gefährden.
Sobald Graf Burghley ihn rief, ließ Richard Keely mit Herzog Robert und Lady Dawn zurück und eilte zu ihm. Seither war eine Stunde verstrichen.
Keely ließ den Saaleingang nicht aus den Augen. Die Gespräche der Höflinge waren nur ein Geräuschteppich, während sie begierig auf Rhys wartete. Ob Richard mit seiner Sichtweise vielleicht recht hatte? Würden diese englischen Edelleute sie als eine der ihren anerkennen, wenn sie sich unter sie mischte? Oder würden sie sie links liegenlassen und sie spüren lassen, daß sie ein Bastard war?
Außer Frage jedoch stand, daß Rhys von ihrem Außenseiterdasein erfuhr. Rhys ging so in seiner Beschützerrolle auf, daß er wahrscheinlich jeden Höfling herausfordern würde, der sie geringschätzig behandelte. Ihr Bruder war als kampflustig bekannt, doch es würde sicherlich seine Kräfte übersteigen, sich mit jedem englischen Edelmann zu duellieren.
Als Keely den Blick über den Saal schweifen ließ, hatte sie das Gefühl, es herrsche eine andere Stimmung vor. Die Hofgesellschaft erschien ihr an diesem Abend ausgelassener und wilder, weil die Königin sich von dem Fest zurückgezogen hatte.
Keelys veilchenblauer Blick streifte gerade in dem Moment den Saaleingang, als Rhys auftauchte. Sie bewegte sich durch die Menge auf ihn zu.
Nie hatte ihr Bruder schöner und männlicher ausgesehen als in diesem Augenblick – jeder Zoll so umwerfend wie ihr Ehemann. Rhys hatte sich die Kleidung für diese Gelegenheit von Richard ausgeliehen und sah aus wie ein schwarzer Raubvogel im Anflug auf einen Haufen ahnungsloser Kanarienvögel.
»Wie geht‘s, Bruder?« begrüßte ihn Keely lächelnd.
»Schwester, neben deiner strahlenden Schönheit verblassen diese fahlen Engländerinnen«, sagte Rhys bewundernd. »Dreh dich um und laß dich bestaunen.«
Kichernd drehte Keely sich im Kreis. Das junge Mädchen, das durch die walisischen Wälder gezogen war, war verschwunden, obwohl ihr Wesenskern nach wie vor derselbe war. Doch statt dieses Mädchens stand nun eine begehrenswerte Frau vor ihm, die ein gewagt dekolletiertes Kleid trug, das ihre verführerische Schönheit noch betonte.
Für Rhys‘ Gefühl war dieses Kleid viel zu offenherzig, aber er behielt seine Meinung für sich. Doch Keely gehörte nun zu dem englischen Grafen, und er wollte sich nicht in die Angelegenheiten seines Schwagers mischen.
»Du mußt die Frau meines Vaters kennenlernen«, erklärte Keely und nahm ihn bei der Hand. »Sie war ausgesprochen freundlich zu mir.«
Zusammen tauchten Keely und Rhys in die Menge. An der Hand ihres Bruders fühlte Keely sich ungewöhnlich selbstsicher. Die erstaunten Blicke und das Geraune, wer denn der gutaussehende Mann sei, erfüllten sie mit Stolz.
»Lady Dawn, darf ich Euch meinen Bruder Baron Rhys Lloyd vorstellen?« machte Keely die beiden miteinander bekannt.
Rhys verbeugte sich über der Hand der Herzogin und begrüßte sie mit den Worten: »Vielen Dank für die Güte, die Ihr meiner Schwester erwiesen habt.«
»Wäre ich nicht so verrückt nach meinem Tally«, gurrte Lady Dawn und schenkte ihm ihr Katzenlächeln, »würde ich mich Euretwegen vollkommen zum Narren machen, Baron, so wie es diese jungen Damen dort drüben tun werden, die sich die Augen nach Euch herausgucken.«
»Komm, Rhys«, sagte Keely, die nun entschlossen war, sich der Herausforderung ihres Mannes zu stellen, »ich möchte dich ein paar Höflingen vorstellen.«
Sie hakte sich bei ihrem Bruder unter und führte ihn durch den Saal. Als sie die schwangeren Freundinnen ihrer Stiefmutter entdeckte, die sie am Tag vorher kennengelernt hatte, steuerte sie auf diese zu.
»Lady Tessie und Lady Blair«, erklärte Keely freundlich lächelnd. »Ich möchte Euch meinen Bruder, Baron Lloyd, vorstellen.«
Rhys verbeugte sich über Tessies Hand und sagte schmeichelnd: »Ihr seht bezaubernd aus in diesem himmelblauen Kleid.«
Tessie seufzte. »Ich wünschte, Pines machte mir so freundliche Komplimente wie Ihr.«
Anschließend wandte sich Rhys Lady Blair zu, verbeugte sich höflich und wollte auch ihr ein Kompliment machen, aber seine Schwester kam ihm zuvor.
»Wie geht es dem lieben Horatio heute?« erkundigte sie sich und mußte sehr an sich halten, um nicht lauthals zu lachen.
»Gott sei gedankt, Horatio frißt wie das sprichwörtliche Schwein.«
Kichernd führte Keely ihren Bruder weiter und flüsterte ihm zu: »Horatio ist ein Schwein, das sie sich als Haustier hält.«
Rhys warf ihr einen Seitenblick zu. »Du machst Witze?«
Keely schüttelte den Kopf. »Lady Dawn hält sich eine Gans namens Anthony.«
»Stell mich ein paar unverheirateten Frauen vor«, forderte Rhys sie auf, »zum Beispiel diesen drei Schönheiten dort drüben, die uns nicht aus den Augen lassen.«
Keely folgte seinem Blick. Die Ladies Morgana, Sarah und Jane standen an der Seite und starrten sie an. Zweifelsohne fragten sie sich, wer wohl der gutaussehende Edelmann war.
Keely hatte nicht die geringste Absicht, auch nur in ihre Nähe zu gehen. Sollten sie ihn doch aus der Ferne anhimmeln. Wenn sie sie ihn Gegenwart ihres Bruders beleidigten, begaben sie sich in Lebensgefahr.
»Du solltest wirklich Lady Mary kennenlernen«, versuchte Keely ihn in die andere Richtung zu lotsen, weit weg von den drei bekannten Hexen. »Sie ist die üppige Blondine, die neben dem Italiener, Signor Fagioli, steht. Siehst du den langhaarigen Riesen, welcher der hübschen Blonden in den Ausschnitt linst?«
Keely wollte ihn zu den beiden führen, doch Rhys folgte ihr nur widerstrebend. »Ich würde viel lieber diese drei Grazien kennenlernen«, beharrte er.
»Glaub mir, Bruder, du willst sie nicht kennenlernen.«
Rhys grinste. »Dann sag mir doch, warum nicht.«
»Weil sie uns Waliser aus ganzem Herzen verachten«, erklärte sie ihm. »Besonders mich.«
»Warum?«
Keely blickte zu Boden und zuckte die Achseln.
»Sie sind eifersüchtig«, erwiderte Rhys und hob ihr Kinn. »Komm schon Schwester, ich möchte diesen italienischen Signor kennenlernen.«
»Keely!« rief eine vertraute weibliche Stimme.
Nur widerwillig drehte Keely sich um. Die Stimme gehörte ihrer Schwester.
»Bringe doch deinen gutaussehenden Freund herüber zu uns«, lud Morgana sie mit einem langen Seitenblick auf Rhys ein. »Weichst du mir aus, liebe Schwester?«
Keely blieb der Mund offenstehen, als sie als »liebe Schwester« bezeichnet wurde. Ein Eichenblatt hätte genügt, um sie umzuwerfen.
»Ich bin Keelys Halbschwester, Lady Morgana Talbot«, stellte sich die kecke Blonde selbst vor.
Rhys verschlang Morgana mit den Augen. Er musterte sie von Kopf bis Fuß, nichts entging ihm, doch am längsten blieb sein Blick an ihrem aufreizenden Dekolleté hängen.
»Wir haben ein gemeinsames Interesse«, bemerkte Rhys. »Ich bin Keelys Stiefbruder.«
Der feurige walisische Baron und die verwöhnte englische Schönheit hatten keine Augen für ihre gemeinsame Schwester. Seine warmen grauen Augen tauchten in ihre leidenschaftlichen blauen Augen, und für ein paar lange Sekunden versank die Welt um sie herum und es gab nur sie beide.
»Wir sollten uns um unserer Schwester willen besser kennenlernen«, sagte Morgana schließlich und senkte in gespielter Schüchternheit die Augen. »Möchtet Ihr gerne tanzen?«
»Leider blieb meine Erziehung in dieser Hinsicht mangelhaft, in der Tanzkunst wurde ich nicht unterrichtet«, gestand Rhys ohne die geringste Befangenheit. Lächelnd fügte er hinzu: »Vielleicht wäre ein einsamer Alkoven ohnehin besser geeignet, uns näher kennenzulernen?«
Morgana lächelte engelsgleich und verführerisch zugleich. »Ich denke, ich kenne einen geeigneten Ort.«
»Da bin ich mir sicher«, antwortete Rhys mit einem tiefen Augenaufschlag. An seine fassungslose Schwester gerichtet, meinte er: »Du entschuldigst uns bitte?«
Bevor Keely etwas darauf antworten konnte, war das ungleiche Paar bereits verschwunden. Verdutzt blickte Keely ihnen hinterher.
Woher nahm Rhys den Mut, einfach zuzugeben, daß er nicht tanzen konnte? fragte Keely sich. Sie wäre tausend Tode gestorben. Dann wurde es ihr klar: Rhys war kein Bastard wie sie, und er war ein Baron. Sie dagegen ...
»Guten Abend, Gräfin.«
Keely wandte sich um. Willis Smythe stand neben ihr. Er starrte ihr so ungehemmt in den Ausschnitt, daß sie sich splitterfasernackt fühlte.
»Guten Abend, Mylord«, erwiderte sie seinen Gruß und zwang sich zu einem Lächeln. Bei den heiligen Steinen, sie kam sich so unaufrichtig wie die anderen Höflinge vor. Doch wenn sie sich dazu zwingen konnte, mit einem Mann Umgang zu pflegen, den sie aus tiefstem Herzen verabscheute, dann konnte es nicht mehr schwer sein, mit den anderen zu verkehren.«
»Hat Euch Euer Gatte schon wieder im Stich gelassen?« fragte Smythe sie.
Mit gekonntem Augenaufschlag erklärte Keely: »Ich fürchte, ja.«
»Ich glaube, die Pavane ist Euer Lieblingstanz«, bemerkte Willis. »Wollen wir es wagen?«
»Die Pavane ist mein einziger Tanz«, entgegnete Keely keck und reichte ihm die Hand.
Keely mußte dagegen ankämpfen, nicht vor ihm zurückzuschrecken, als sie die Tanzfläche betraten. Willis verbeugte sich höflich vor ihr und sie knickste.
»Ihr seht heute abend besonders liebreizend aus«, schmeichelte Smythe ihr, als die Pavane begann, ohne dabei den Blick von ihren schwellenden Brüsten zu nehmen.
»Es freut mich, daß Ihr den Schnitt meines Kleides so bewundert«, bemerkte Keely trocken.
Smythe schenkte ihr ein schmelzendes Lächeln, das sie wohl für ihn einnehmen sollte. »Ich habe gehört, man darf gratulieren. Wie fühlt man sich als werdende Mutter?«
»Wunderbar im Augenblick. Nur die Morgenübelkeit verleidet mir das Frühstück.«
»Schadet es dem Baby nicht, wenn man das Frühstück ausfallen läßt?« versuchte Smythe Konversation zu machen. »Ich dachte, eine werdende Mutter würde sich mit Eiern, Käse, Milch und Schinken nur so vollstopfen.«
»Mit Schinken?« wiederholte Keely und rümpfte die Nase, um ihre Abscheu kundzutun. »Mir ist Schweinefleisch in jeder Form zuwider. Auch wenn es eines von Richards Lieblingsgerichten ist.«
Keely schwebte nach links, um ihre linke Hand in die seine zu legen, und hielt inne. Neben dem Baron stand ihr Mann. Ihr wütender Mann.
»Ich habe dich gewarnt, Smythe«, zischte Richard, dessen Smaragdaugen Funken sprühten.
»Laß doch, Devereux«, entgegnete Willis. »Es ist doch nur ein Tanz.«
»Du hast mich allein zurückgelassen«, erinnerte Keely ihren Mann, während die Tänzer ringsum die Ohren spitzten, um nichts zu verpassen.
»Ich verbiete dir, mit diesem Mann zu tanzen«, erklärte Richard. »Wähle dir einen anderen Partner.«
Was für eine bodenlose Unverschämtheit, dachte Keely. Ihr Mann konnte tanzen und flirten, mit wem es ihm beliebte, aber sie konnte allein herumstehen und auf ihn warten.
»Du blamierst uns vor aller Öffentlichkeit«, sagte Keely mit einer Ruhe, die sie nicht im geringsten empfand.
»Provoziere mich nicht«, knurrte Richard und versuchte sie am Armgelenk zu packen. Die Eifersucht hatte ihn übermannt.
Keely trat einen Schritt zurück, hob die Hand und zeigte ihm die Zwetschge. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und marschierte hocherhobenen Hauptes aus dem Saal. Draußen auf dem Gang raffte sie ihre Röcke und lief so schnell sie konnte zu ihrem Zimmer.
Wie konnte ihr Mann es wagen, ihr aufzutragen, sie solle sich unter die Leute mischen, um sie dann in aller Öffentlichkeit zurechtzuweisen! Keely kochte vor Wut, während sie vor dem Kamin auf und ab lief. Wie konnte er es wagen ... Da flog die Tür auf.
»Geh Smythe aus dem Weg«, rief Richard und trat auf sie zu. »Höre auf, andere Männer zu ermutigen.«
Keely wollte antworten, aber Richard war schneller.
»Leugne es nicht«, warnte er sie. »Ich habe selbst Augen im Kopf und sehe, wie dich diese Männer ansehen.«
»Ich bin nicht der Devereux, dessen intimes Muttermal allgemein bekannt ist und von jeder Frau am Hofe bewundert wird«, schoß Keely zurück.
Daraufhin behielt der Graf seine Tirade lieber für sich.
»Mir reicht es. Den Rest des Abends verbringst du in diesem Zimmer, da kannst du in aller Ruhe über deine Fehler nachdenken.« Mit diesen Worten stürmte er aus dem Schlafzimmer und knallte die Tür hinter sich zu.
Keely starrte die Tür an. »Den großen Zeh sollst du dir brechen«, verwünschte sie ihn.
Gleich darauf hörte sie einen lauten Schrei und einen gewaltigen Krach. Sie riß die Tür auf und ein erstaunlicher Anblick bot sich ihr: auf dem Steinboden draußen im Gang lag Richard.
Langsam blickte Richard hoch und meinte etwas belämmert: »Ich war wohl zu schnell und bin hingefallen.«
Keely warf die Tür ins Schloß. Sie hielt sich die Hand vor den Mund und prustete los. Doch dann mußte sie wieder daran denken, daß ihre Ehe zum Scheitern verurteilt war, und ihre gute Laune war beim Teufel.
Seufzend sank Keely in den Sessel vor dem Kamin. Ihr ganzes Leben hatte sie sich nach zwei Dingen gesehnt: nach einem Vater und einem Zuhause. Die Anerkennung und Liebe ihres Vaters hatte sie wider Erwarten so schnell gewonnen, daß sie ihr Glück kaum fassen konnte. Doch der zweite Traum würde bestimmt nicht Wirklichkeit werden. Für Keely war es keine Frage, ein richtiges Zuhause würde sie nie haben.
Sie war in Wales geboren und aufgewachsen, sie würde nie in diese merkwürdige englische Gesellschaft passen. Aber sie wollte ihrem Kind zuliebe in England bleiben. Keely konnte ohne die Liebe ihres Mannes leben, wenn er ihren Kindern ein liebevoller Vater war. Die Welt war nicht vollkommen, manchmal waren Herz und Seele zu einem Kompromiß gezwungen, mußten vorliebnehmen mit dem, was zu haben war.
Das Leben am Tudorhof dagegen war etwas anderes. Noch einen Tag länger diese Oberflächlichkeit ertragen zu müssen, schien ihr unmöglich.
Keely brauchte die wärmenden Sonnenstrahlen auf ihren Schultern; sie brauchte den Wind, der ihr Gesicht streichelte. Am nötigsten aber brauchte sie jenen heiligen Ort im Park des Grafen, an dem Eibe, Birke und Eiche zusammenstanden.
Die Kraft, zuversichtlich zu Denken, half Keely über ihre Niedergeschlagenheit hinweg. Sie packte ein paar ihrer Habseligkeiten in ihren Lederbeutel und legte sich ins Bett, um zu schlafen. Es ging ihr bereits viel besser als heute morgen, nachdem sie aufgewacht war.
Da er einen weiteren Streit mit seiner Frau vermeiden wollte, war Richard später als gewöhnlich in ihr Schlafgemach zurückgekehrt. Er zog sich in dem dunklen Zimmer aus, ließ seine Kleidung wie üblich auf dem Boden liegen und kletterte ins Bett. An seine Frau gekuschelt, schlief er schnell ein.
Es kam ihm vor, als seien nur ein paar Augenblicke verstrichen, als er aus den Tiefen des Schlafs wieder auftauchte. Ein Hammer, nein, ein Rammbock! wütete in seinem Kopf, seine Augenlider waren so schwer, er konnte sie kaum aufschlagen. Gott im Himmel, warum hatte er nur soviel Wein getrunken?
In seiner Not wollte Richard Trost bei seiner Frau suchen und rutschte in die Bettmitte. Doch Keely war nicht da. Dann hörte er sie leise summen, sie ging im Zimmer umher.
»Wie spät ist es?« stöhnte er, ohne die Augen aufzumachen.
»Es ist noch früh.«
Er spürte sie ganz nah und schlug die Augen auf. Sie wollte gerade ein Blatt Pergament auf das Kissen legen. Durch das Fenster hinter ihr fiel so helles Licht, daß es ihn blendete. Er mußte gegen diese schmerzhafte Helligkeit anblinzeln.
»Was ist das?« fragte Richard, als sein Blick auf das Blatt Pergament fiel.
»Eine Nachricht für dich«, antwortete Keely.
»Von wem ist die Nachricht?«
»Von mir.«
Richard zog eine Augenbraue hoch. »Was steht drin?«
Keely hob ihren Lederbeutel vom Fußboden auf und wandte sich um: »Ich gehe nach Hause.«
Richard stöhnte. Das fehlte ihm noch an diesem Morgen, daß ihm seine Frau durchbrannte. Warum konnte die Hexe damit nicht warten, bis er wieder einen klaren Kopf hatte?
»Ich verbiete dir, dieses Zimmer zu verlassen«, befahl er ihr in seinem herrischsten Tonfall.
»Schatz, gieß dir etwas Mutterkraut mit warmem Apfelmost auf, das ist gut gegen deine Kopfschmerzen«, meinte Keely nur und schenkte ihm noch ein strahlendes Lächeln, bevor sie das Zimmer verließ.
Richard sprang aus dem Bett und rannte zur Tür. Er riß sie auf, erstarrte jedoch.
Ein Dienstmädchen, das gerade vorbeikam, zwinkerte ihm zu und kicherte. »Es stimmt!« rief sie. »Ihr habt tatsächlich eine Sommersprosse auf der Spitze Eures ...«
Richard knallte die Tür zu und lief zurück zum Bett, um seine verstreuten Kleidungsstücke einzusammeln. Doch seine emsige Frau hatte bereits alles fein säuberlich zusammengelegt und weggeräumt, weshalb Richard fünf Minuten damit vergeudete, nach seiner Hose, dem Hemd und den Stiefeln zu suchen.
Als er die Tür wieder aufmachte, wäre er beinahe über das Frühstückstablett gefallen, das vor der Tür abgestellt worden war, während er sich angezogen hatte. Er überlegte kurz und hob es dann auf.
Das Tablett war vollgeladen mit hartgekochten Eiern, Käse, Brot und einem kleinen Berg aufgeschnittenem Schinken. Der Schinken sah verführerisch aus, aber bei der Vorstellung, jetzt etwas zu essen, wurde ihm übel. Der viele Wein gestern abend hatte ihm seinen ansonsten gesunden Appetit verdorben.
Seine pflichtvergessene Frau dachte überhaupt nicht an das Baby, das sie trug. Entschlossen, nach Wales zurückzukehren, gefährdete sie das Kind, indem sie nicht ausreichend aß. Richard hatte vor, ihr das Frühstück in den Rachen zu stopfen, mit dem Schinken, den sie verabscheute, wollte er beginnen. Dann, so plante er, würde er sie in das Schlafzimmer einsperren.
Draußen im Park erspähte Richard seine Frau. Ohne Eile ging Keely zu den Ställen. Ungewöhnlich gelassen für eine durchbrennende Ehefrau. Die Andeutung eines Lächelns umspielte kurz Richards Lippen, als er den sanften Hüftschwung seiner Frau bewunderte. Sein Kopfweh war nur noch ein leichtes Brummen, der Anblick seiner reizenden Gemahlin war Balsam für seine Seele, seine Gesundheit und sein Wohlgefühl.
Vorträge und Befehle hatten bei dieser Hexe kein einziges Mal gefruchtet, dachte Richard. Ob er wohl mit seinem berühmten Charme weiterkam?
Er marschierte in den düsteren Stall und sah seine Frau vor Merlins offener Box stehen. Zumindest war sie vernünftig genug, nicht selbst den schweren Sattel hochhieven zu wollen.
Hew machte Merlin gerade für die Reise fertig, während Odo Keely zu überzeugen versuchte, sie solle doch hierbleiben. Alle drei blickten zum Grafen, als er in den Stall trat.
»Das Frühstück ist bereit«, verkündete Richard und bedachte sie mit seinem umwerfenden Lächeln.
»Ich frühstücke nie«, antwortete Keely, die seinen Verführerungskünsten gegenüber offensichtlich unempfänglich war.
»Vergiß das Baby nicht, es braucht Nahrung.«
»Ich esse später.« Ohne sich weiter um ihn zu kümmern, wandte Keely sich Merlin zu und kraulte sie an der Stirn.
Richard setzte das Tablett ab. Er zählte, um Ruhe zu bewahren, leise bis zehn und dann noch einmal bis zwanzig, um sicherzugehen. Er war zwar nicht jähzornig, aber ständig von seiner Frau vor den Kopf gestoßen zu werden, brachte seine schlechtesten Eigenschaften zum Vorschein. Und seine besten.
»Willst du allein nach Wales reiten?« fragte Richard, um einen leicht neugierigen Ton bemüht.
Überrascht fuhr Keely herum. »Wales ist nicht mein Ziel.«
»Was ist dann dein Ziel?« fragte Richard, der froh war, daß er seinen Impuls, sie anzubrüllen, gerade noch hatte unterdrücken können.
»Devereux House.«
Erleichtert trat Richard auf sie zu. »Könnten wir noch einmal miteinander sprechen, bevor du losreitest?« fragte er sie und führte sie aus dem Stallgebäude.
Keely nickte. »Worüber möchtest du denn reden?«
Richard wollte gerade den Mund aufmachen, als er Odo rufen hörte: »Nein, Merlin! Du ungezogenes Pferd!«
Keely warf einen Blick über die Schulter und sah, wie Merlin soeben ihr Frühstück verzehrte. »Laßt nur«, rief sie. »Sie kann es ruhig fressen.«
»Keely, warum reitest du weg?« wollte Richard wissen.
»Ich habe es dir bereits gesagt. Das Leben am Hof ist nichts für mich.«
»Warum?«
Keely wich seinem Blick aus, als fiele es ihr schwer, ihre innersten Gedanken auszusprechen. »Es zerstört unsere Ehe. Entweder beachtest du mich nicht, oder ich kann dir nichts recht machen. Vielleicht mißfalle ich dir weniger, wenn wir in Devereux House leben.«
»Du mißfällst mir nicht«, widersprach Richard und hob ihr Kinn hoch, um ihr in die Augen zu sehen. »Mich zieht das Leben am Hof genausowenig an. Aber ich habe Elisabeth versprochen, die zwölf Rauhnächte hier zu verbringen. Wir werden nach Devereux House zurückkehren, wenn der Hof nach Richmond weiterzieht.«
»Noch zwei Wochen an diesem Ort bringen mich um«, antwortete Keely.
»Jetzt übertreibe nicht«, neckte Richard sie und fuhr mit dem Finger ihre seidene Wange entlang. Dann scherzte er: »Wenn du bleibst, ziehe ich mein Zeremoniengewand an, sobald wir wieder zu Hause sind.«
Keely blickte ihm nachdenklich in die Smaragdaugen und grübelte nach, wie ernsthaft sein Angebot wohl gemeint war. Daß ihr Mann sie bestechen wollte, war offensichtlich. Aber wenn sie ihm so wichtig war, das auf sich zu nehmen, war ihre Ehe vielleicht doch nicht zum Scheitern verurteilt.
»Nun komm, Geliebte«, forderte Richard sie lächelnd auf und blickte ihr tief in die Augen. »Du darfst mir nun beim Frühstück zusehen.«
Hinter ihnen zerriß ein gellender Schrei die Luft. Richard und Keely fuhren herum und sahen Merlin, wie sie taumelnd gegen die Wand und dann auf die Knie fiel. Schließlich sank sie in sich zusammen und fiel zur Seite. Erschütternde Schmerzensschreie ausstoßend, lag die Stute am Boden.
Richard war besorgt um die Sicherheit seiner Frau, deshalb legte er die Arme um sie und hielt sie fest. Doch die Verzweiflung verlieh ihr Kraft, sie riß sich los und kniete sich neben die Stute.
»Richard, hilf ihr!« schrie sie.
Richard warf einen Blick auf das leere Frühstückstablett und dann auf Odo und Hew, die ihm schweigend zunickten. »Ich kann ihr nur den Todeskampf erleichtern«, erklärte Richard seiner Frau und nahm den Dolch, den Odo ihm entgegenstreckte. »Bitte warte draußen vor dem Stall.«
»Ich bleibe hier«, widersprach Keely. »Mach schnell.«
Richard kniete sich neben sie und durchtrennte der Stute die Halsschlagadern. Ohne das herausschießende Blut zu beachten, nahm Keely den Kopf der sterbenden Stute in den Schoß und tröstete sie leise, um ihr den Übergang in eine andere Welt zu erleichtern. In wenigen Minuten hörte das Pferd auf zu zittern, und eine herzzerreißende Stille machte sich breit.
Erst als das Pferd seinen Frieden gefunden hatte, ließ Keely ihren Tränen freien Lauf. »Ich ... ich verstehe es nicht«, schluchzte sie. »Was war los mit ihr?«
Richard zog sie in seine Arme und antwortete ihr aufrichtig. »Jemand hat das Essen vergiftet.«
»Wer kann ein Interesse daran haben, mein Pferd zu vergiften?« schluchzte Keely ungläubig.
»Schatz, wer immer dies getan hat, hatte nicht die geringste Absicht, Merlin zu vergiften ... Ich werde dich jetzt auf unser Zimmer bringen.«
»Rhys hat mir Merlin zum zwölften Geburtstag geschenkt«, erklärte Keely mit einem traurigen Blick auf die Stute. Sie streichelte ihr geliebtes Pferd, nickte ihrem Mann zu und ließ sich von ihm aufhelfen.
Richard hob sie hoch und trug sie aus dem Stall hinaus. Keely legte ihm die Arme um den Hals, verbarg das Gesicht an seiner Schulter und weinte leise.
Auf dem Weg zum Palast hielt Richard inne, als er sah, daß ihm Rhys Lloyd und Morgana Talbot entgegenkamen, beide angezogen für einen Ausritt. Das hatte ihm noch zum schlimmsten Morgen seines Lebens gefehlt.
»Was habt Ihr meiner Schwester angetan?« verlangte Rhys zu wissen, als er die beiden blutverschmierten Gestalten erblickte.
»Jemand hat Merlin vergiftet. Ich mußte ...« Richard sprach den Satz nicht zu Ende, als sein Schwager ihm ernst zunickte.
Morgana öffnete den Mund und kreischte.
»Ein Giftmörder ist ...?«
Rhys hielt ihr den Mund zu und riß sie an sich. Die Blondine versuchte gegen ihn anzukämpfen, aber sie hatte keine Chance.
»Glückwunsch, Baron«, bemerkte Richard trocken. »Das wünschte ich mir schon eine lange, lange Zeit.« Ohne ein weiteres Wort hielt er auf den Palast zu.
»Du verfluchter walisischer Schweinehund!«
Richard blieb stehen und blickte sich gerade noch rechtzeitig um, um zu sehen, wie Morgana dem Waliser eine Ohrfeige versetzte. Rhys drückte Morgana an sich und küßte sie, bis ihr Zorn verraucht war und sie sich zärtlich an ihn schmiegte.
Richard wandte sich wieder dem Palast zu. Sein Blick fiel auf Willis Smythe, der das im Kuß versunkene Paar anstarrte.
»Was ist denn geschehen?« fragte Willis, als er die blutverschmierten Kleider Devereux‘ sah.
»Jemand hat das Pferd meiner Frau vergiftet«, antwortete Richard.
Willis wurde aschfahl und flüsterte: »Ein Giftmörder am Hofe?«
Richard nickte.
Betroffenheit machte sich im Gesicht des Barons breit. »Ist alles in Ordnung? Kann ich irgendwie helfen?« erkundigte er sich besorgt.
Richard bereute, seinem Freund je mißtraut zu haben. »Sende bitte einen Pagen, er soll die Kammerzofen meiner Frau suchen.«
»Ich suche sie selbst«, antwortete Willis und machte sich auf den Weg.
Als er ihr Schlafzimmer erreicht hatte, setzte Richard Keely auf dem Bett ab und nahm neben ihr Platz. Er wischte ihr die Tränen von den blassen Wangen und versuchte ihr zuzulächeln.
Keely drehte den Kopf zu Seite und küßte ihn auf die Innenfläche seiner Hand. »Richard, jemand vergiftete unser Frühstück.«
»Ich weiß.«
»Was hast du jetzt vor?«
»Du brauchst keine Angst zu haben, Schatz«, beruhigte Richard sie. »Ich beabsichtige, mit Burghley und Elisabeth zu sprechen, sobald May und June hier sind, um dir Gesellschaft zu leisten.« Er beugte sich über sie und küßte sie auf die Stirn.
»Du solltest dich umziehen, bevor du die Königin aufsuchst«, bemerkte Keely. »Sonst wird sie noch ohnmächtig, wenn sie dich so blutbeschmiert sieht.«
Richard küßte sie und holte ein frisches Hemd, eine saubere Hose und ein sauberes Wams. Als er den Gürtel zumachte, fragte er sie: »Wo ist mein Dolch, der mit meinen Insignien?«
»Ich habe ihn nicht gesehen«, antwortete Keely. »An diesem Wams fehlt ein Knopf.«
»Stimmt.« Richard zog schnell ein anderes Wams an und kehrte zum Bett zurück.
»Was wird die Königin unternehmen?« fragte Keely.
»Nun, Burghley wird ihr raten, kein Aufhebens um diesen Vorfall zu machen, solange seine Leute Nachforschungen anstellen«, antwortete Richard. »Wenn der ganze Hof in Panik ausbricht, ist niemandem gedient. Allerdings bin ich mir ziemlich sicher, daß Elisabeth die Italiener des Landes verweist.«
»Die Italiener?« wiederholte Keely. »Aber warum?«
»Weil die Italiener dafür bekannt sind, sich sehr gut mit Giften auszukennen«, erklärte ihr Richard. »Das ist eine ihrer liebsten Methoden, unliebsame Gegner loszuwerden.«
»Aber warum sollte uns ein Italiener loswerden wollen?«
»Das weiß ich nicht, und ich werde es wahrscheinlich nie erfahren«, gestand Richard mit einem Achselzucken. Dann lächelte er und fügte in einem beruhigenden Ton hinzu: »Hab Vertrauen, Liebling. Die Gefahr ist vorüber. Wer immer unser Frühstück vergiftet hat, wird keinen zweiten Versuch wagen, weil wir jetzt gewarnt sind. Und die wenigen Höflinge, die erfahren, was geschehen ist, werden nur essen, was ihnen ihre eigenen Diener aus den Küchen geholt haben.«
Die Tür flog auf, und May und June eilten herein.
»Ich bleibe nicht lange weg«, sagte Richard und erhob sich.
Keely griff nach seiner Hand. »Du bist vorsichtig?«
Richard nickte. Er wandte sich zu seinen Cousinen und wies sie an: »Laßt Eure Herrin nicht allein. Nehmt nur Essen an, das ihr selbst aus den Küchen geholt habt.«
Mit diesen Worten verließ Richard das Zimmer. Kaum befand er sich draußen auf dem Gang, mußte er sich kurz an die Wand lehnen. Die schreckliche Bedeutung dieses Vorfalls traf ihn wie ein Schlag ins Gesicht.
Was wäre geschehen, wenn er das Frühstück seiner Frau in den Rachen gestopft hätte, so wie er es vorgehabt hatte? Dann läge nun Keely statt Merlin tot im Stall. Auf wen hatte es der Giftmörder abgesehen? Auf Keely oder auf ihn? Oder auf sie beide?