Viertes Kapitel
»Guten Morgen, meine Liebe.«
Bei dem Klang der weit entfernt scheinenden Stimme tauchte Keely aus den Tiefen ihres Unterbewußtseins langsam nach oben und schlug die Augen auf. »Träume ich?« fragte sie sich und blickte sich in dem fremden Zimmer um.
»Es ist Zeit aufzuwachen.«
Keely wandte sich um. Neben dem Bett stand Lady Dawn und lächelte sie an.
»Guten Morgen, Mylady.« Keely strich sich das ebenholzschwarze Haar aus dem Gesicht, rieb sich die Augen und reckte sich. »Wie spät ist es?«
»Zwölf Uhr.«
Keelys Blick wanderte hinüber zu den Fenstern, durch die graues Licht in das Zimmer drang. »Für zwölf Uhr ist es zu hell«, meinte sie.
»Zwölf Uhr mittag an einem düsteren Tag.«
Ungläubig sah Keely die Gräfin an. »Das ist unmöglich. Ich wache immer zur Dämmerung auf.«
»Überzeugt Euch doch selbst«, entgegnete Lady Dawn, »heute gab es keine Dämmerung.«
»Auf jede Nacht folgt eine Dämmerung«, widersprach Keely.
»So wird es wohl sein«, stimmte ihr die Gräfin zu und lachte ihr kehliges Lachen. »Aber ganz sicher kann ich das nicht sagen, weil ich nämlich die Dämmerung meistens verschlafe.«
»Die Dämmerung ist die beflügelndste Zeit des ganzen Tages«, erklärte Keely ihr und setzte sich auf. »Möchtet Ihr, daß ich Euch morgen aufwecke, damit Ihr Euch selbst davon überzeugen könnt? Wo ist Euer Schlafzimmer?«
»Ich nächtige im Schlafzimmer des Herzogs«, antwortete Lady Dawn, neugierig, wie Keely dies aufnehmen würde.
»Und Seine Gnaden, wo ...?« Keely wurde puterrot. »Oh!«
Lady Dawn unterdrückte ein Schmunzeln. »Stört es Euch, daß ich das Bett Eures Vaters teile?« fragte sie forsch.
Falls dies möglich war, errötete Keely noch mehr. »Liebt Ihr ihn?«
»Sehr.«
»In diesem Fall stört es mich überhaupt nicht, wenn Ihr das Bett mit ihm teilt.«
»Ich denke, wir werden sehr gute Freunde werden«, rief Lady Dawn voller Freude, eine Verbündete im Hause der Talbots zu haben. »Auf dem Tisch steht ein Tablett, und der Nachttopf befindet sich hinter dem Wandschirm dort. Wie Ihr seht, ist das Badewasser im Zuber vor dem Kamin dampfend heiß. Ich bin gleich wieder da und bringe Euch ein Kleid.«
»Bitte macht Euch meinetwegen keine Umstände«, rief Keely.
»Unsinn«, winkte die Gräfin ab und ging zur Tür, »ich bin entzückt, daß Ihr hier seid.«
Wieder allein, beschloß Keely, die Götter anzurufen und um ihren Schutz zu bitten. Schließlich war sie fremd in diesem Haushalt. Wer wußte schon, welche unsichtbaren Mächte hier am Werk waren?
Sie zog ihr Hemd aus und trat ans Fenster. Sie wünschte sich, sie wäre den Naturkräften draußen näher, schloß die Augen und legte die rechte Hand gegen die Glasscheibe.
»Große Muttergöttin, du mächtige Behüterin deiner Kinder, ich flehe dich an, beschütze mich«, betete Keely leise. »Steh mir bei und schenke mir Mut. Gesegnet seien die Geister, die mir Beistand leisten. So sei es.«
Nachdem sie gebadet und ihr Hemd übergestreift hatte, hüllte Keely sich in ihr zeremonielles Kleid und zog einen Sessel zum Fenster. Sie setzte sich und sah zu, wie die Wolken aufrissen. Das Sonnenlicht küßte die Erde. Ein gutes Omen?
Keely beschloß, sich über Odo und Hew Gedanken zu machen. Ihre Cousins brauchten jemand, der sie vor den Folgen ihres mangelnden Urteilsvermögens bewahrte, aber jedesmal, wenn sie versuchte, sich die beiden vorzustellen, konnte sie sich nicht konzentrieren. Statt dessen tauchte stets das hübsche Gesicht des Grafen von Basildon vor ihrem geistigen Auge auf.
Trotz der Gefahr, die er für sie darstellte, fühlte Keely sich merkwürdig sicher. Ihr Druideninstinkt sagte ihr, daß er ihr niemals weh tun würde. Sie sah es an seinem entwaffnenden Lächeln und dem Strahlen seiner Augen. Wollte er ihre Cousins am Galgen von Tyburn baumeln sehen, hätte er sie schon längst gefangennehmen lassen. Es sei denn ... Sie wagte es nicht zu hoffen. Hatte ihr Vergessenszauber gewirkt?
Keelys Gedanken schweiften ab. Der Graf sah zu gut aus. Sein kupferrotes feuriges Haar erinnerte sie an einen flammenden Sonnenuntergang und seine smaragdgrünen Augen an die Wälder zur Frühlingszeit. Er hatte die Gestalt und den vollkommenen Körperbau eines heidnischen Gottes, der wunderbarerweise lebendig geworden war. So lange sie lebte, da war Keely sich sicher, würde sie nicht den Augenblick vergessen, als sie ihn zum ersten Mal sah, damals in der Gaststube, als er an ihren Tisch trat.
Ohne es zu bemerken, strich Keely sich über die Lippen. Wie sich wohl sein sinnlicher Mund auf ...
Bei den heiligen Steinen! Entsetzt darüber, wo ihre Gedanken sie hinführten, fuhr Keely hoch. Der Graf war ein gefährlicher, verabscheuungswürdiger Engländer. Ein Fluch für sie. Oder etwa nicht? Keely war klar, daß sie sich dessen nicht mehr so sicher war wie noch vor ein paar Tagen. Diese neue Unsicherheit machte ihr zu schaffen, und sie schaute aus dem Fenster.
Ein paar Minuten später kehrte Lady Dawn zurück. In ihren Händen trug sie ein mit violettem und goldenem Brokat geschmücktes Kleid und passende Schuhe.
Ein so herrliches Kleid hatte Keely in ihrem ganzen Leben noch nicht, gesehen. »Das gehört mir nicht«, sagte sie.
Lady Dawn lächelte. »Das Kleid und die Schuhe gehören Morgana, Eurer jüngeren Halbschwester.«
»Ich kann nicht die Kleider einer anderen tragen«, schlug Keely das Ansinnen aus, auch wenn sie das Verlangen in ihren Augen nicht verbergen konnte, als sie gebannt das herrliche Kleid anstarrte.
»Dein Vater bat mich, etwas Hübsches für Euch auszuwählen«, erklärte ihr die Gräfin.
»Wird Lady Morgana nicht verärgert sein, wenn ich mir ihr Kleid ausleihe?« fragte Keely.
»Natürlich. Das ist ja gerade das Schöne an der Sache.«
»Dann kann ich es nicht.«
»Euer Vater gibt sich die größte Mühe, Euch jeden Wunsch zu erfüllen«, erklärte ihr Lady Dawn und warf ihr einen mißbilligenden Blick zu. »Möchtet Ihr ihm seine Güte mit Ruppigkeiten vergelten?«
Keely seufzte. Seine Gnaden hatte sie eingeladen, in seinem Heim zu wohnen. Sie konnte seine Freundlichkeit nicht guten Gewissens ausschlagen.
»Der violette Brokat trifft beinahe den Ton Eurer hübschen Augen«, bot die Gräfin ihre ganze Überredungskunst auf. »Außerdem möchte der Graf von Basildon Euch heute nachmittag besuchen.«
»Warum sollte er das?« Keely schnappte überrascht nach Luft.
»Offensichtlich ist Devereux ganz hingerissen von Eurer Schönheit«, gab ihr Lady Dawn zur Antwort. »Euer Vater erteilte ihm seine Erlaubnis.«
»Wenn Ihr wirklich denkt«, wand Keely sich und blickte sehnsüchtig auf das Kleid und die Schuhe, die Lady Dawn ihr anbot, »ich sollte ...«
»Das denke ich«, schnitt Lady Dawn ihr das Wort ab. »Ich helfe Euch auch mit der Frisur.«
»Eine Gräfin sollte nicht solch eine niedere Aufgabe übernehmen.«
»Betrachtet mich als Tante«, bot Lady Dawn großzügig an, runzelte dann jedoch die Stirn. »Nein, das paßt nicht. Ich bin viel zu jugendlich, um eine achtzehnjährige Nichte zu haben. Betrachtet mich als Eure ältere und erfahrenere Schwester.«
Keely verkniff sich ein Lächeln, zog das Kleid an und schlüpfte in die dazu passenden Schuhe. Freudestrahlend sah sie zu der Gräfin auf. »Ich kann es nicht glauben, sie passen perfekt.«
»Wie schön Ihr seid«, meinte Lady Dawn anerkennend. »Möchtet Ihr Euch im Spiegel betrachten?«
Keely nickte begierig wie ein kleines Mädchen.
Lady Dawn öffnete die Tür und winkte Keely, ihr zu folgen. Zwei Türen weiter schlüpften sie in ein Zimmer, das, wie die Gräfin ihrem Schützling erklärte, das Zimmer des Herzogs war.
Der riesige Raum war reich geschmückt. Perserteppiche bedeckten den Boden, und an den Wänden hingen farbenprächtige Gobelins. Durch die Fenster fiel das von den Vorhängen gedämpfte Sonnenlicht. Hinter einem Wandschirm befand sich ein Spiegel.
Als Keely davor trat, fiel ihr vor Überraschung die Kinnlade nach unten. War diese wunderschöne junge Frau tatsächlich sie?
Das brokatverzierte Kleid war oben schmal geschnitten und hatte einen geraden, tiefen Ausschnitt. Die langen, enganliegenden Ärmel waren am Handgelenk mit wunderbaren Spitzen verziert.
Keely sah aus wie eine Prinzessin – und sie fühlte sich auch so. Sie strahlte vor Freude, bis ihr Blick auf das gewagteste Dekolleté fiel, das sie je getragen hatte. Der Drachenanhänger funkelte auf dem makellosen Teint und zog die Blicke geradezu auf den Ansatz ihrer Brüste. Unsicher biß sich Keely auf die Unterlippe.
Lady Dawn konnte sich ein Lachen nicht verkneifen, als sie Keelys Gesichtsausdruck sah. »Ich bin sicher, Morgana sah niemals so hübsch aus wie Ihr.«
»Vielleicht paßten meine eigenen Kleider besser zu mir«, warf Keely ein. »Das Mieder ist zu gewagt, findet Ihr nicht?«
»Verglichen mit dem, was man bei Hofe sieht, ist es die verkörperte Unschuld«, widersprach die Gräfin. »Nun kommt, meine Liebe. Euer Vater wünscht Euch zu sehen.«
Keely war froh, daß sie nicht ihr eigenes langweiliges Kleid tragen mußte, und folgte der Gräfin den Gang entlang und die Treppe hinunter.
»Vielen Dank, Mylady«, flüsterte Keely ihrer Begleiterin zu, bevor sie den Saal betraten, wo ihr Vater sie schon erwartete.
Die Gräfin nahm sie liebevoll in die Arme und ließ die beiden alleine.
Herzog Robert war vor dem Kamin gesessen, stand jedoch auf, als Keely den Saal betrat. Er musterte sie vom Scheitel bis zur Sohle. Dann ging er auf sie zu, um sie zu begrüßen.
Sein Blick hatte Keely etwas aus der Fassung gebracht. Mit ihrem gesenkten Blick bot sie ihrem Vater nun das vollkommene Bild weiblicher Demut. Als er schließlich vor ihr stand, hob sie scheu die Augen.
»Du bist so entzückend wie deine Mutter«, begrüßte der Herzog sie mit belegter Stimme – die Erinnerung war zu überwältigend. »Setz dich zu mir ans Feuer.«
»Vielen Dank, daß ich dieses Kleid tragen darf, Euer Gnaden«, faßte Keely sich ein Herz und legte ihre Hand in die des Herzogs.
Herzog Robert entging der förmliche Ton nicht, aber er ging nicht weiter darauf ein. Statt dessen führte er sie zu einem der beiden Sessel, die vor dem Kamin standen. Er selbst setzte sich ebenfalls.
Keely legte die Hände gefaltet in den Schoß und blickte zu Boden. Ihr war merkwürdig zumute. Da hatte sie sich achtzehn lange Jahre nach einem Vater gesehnt, und nun, da sie einen hatte, wußte sie nicht, was sie sagen sollte. Ihr Vater war ein Fremder für sie.
Verstohlen blickte sie zu ihm hoch und begegnete seinem Blick. Er schien sie die ganze Zeit über aufmerksam gemustert zu haben. Sie brach das Schweigen. »Vielen Dank dafür, daß Ihr mich eingeladen habt, die Nacht hier zu verbringen.«
»Das ist dein Zuhause«, entgegnete der Herzog.
»Ein Haus ist noch kein Zuhause«, erwiderte Keely, den Blick in des prasselnde Feuer gerichtet. »Zuhause bedeutet für mich Menschen, die mich lieben und die ich lieben kann.«
»Ich liebe dich«, erklärte er ihr.
»Ihr könnt mich unmöglich lieben«, wandte sie ein und wagte, ihm einen Seitenblick zuzuwerfen. »Ihr kennt mich nicht einmal.«
»Du bist der Samen, der meinen Lenden entsprang«, hielt Herzog Robert dagegen. Bei diesen Worten trieb es Keely die Röte ins Gesicht. Lieber Gott, wie viele Jahre lag es zurück, daß er eine Frau aufrichtig hatte erröten sehen? »Wenn du einmal selbst Mutter bist, wirst du verstehen, warum ich mir meiner Liebe so sicher bin.«
»Wenn Ihr es sagt, Euer Gnaden«, murmelte Keely, den Blick unverwandt auf die Hände in ihrem Schoß gerichtet.
Ein peinliches Schweigen entstand. Es schmerzte sie zwar, aber ihr Stolz verbot es ihr, auf die offen gezeigte Zuneigung des Herzogs einzugehen. Er hatte ihre Mutter und sie verlassen. Es war nicht möglich, mit einem Handstreich die Schmerzen auszulöschen, die sie ihr Leben lang erduldet hatte.
»Ich verstehe deine Zurückhaltung, Kind«, brach der Herzog das Schweigen. »Ich bitte dich als dein Vater, mir die Gelegenheit zu gewähren, mir deine Liebe zu verdienen.«
»Ihr habt mich gezeugt«, berichtigte Keely ihn, ohne daß ihr der anklagende Ton bewußt geworden wäre. »Ihr wart mir nie ein Vater.«
Vergiß nie, daß er Megan verletzt hat, rief sie sich ins Gedächtnis. Vergiß nie, daß man den Engländern, vor allem den englischen Lords, niemals trauen darf.
Herzog Robert hatte sich erhoben und ging vor dem Kamin auf und ab, während er verzweifelt versuchte, Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Ihm war klar, daß seine Tochter tief verletzt war und daß er sich jedes Wort genau überlegen mußte.
Um nicht ihren Vater ansehen zu müssen, versuchte Keely, einen Blick auf den großen Saal zu erhaschen. Gestern war sie viel zu aufgeregt gewesen, als daß sie ihrer Umgebung große Aufmerksamkeit gezollt hätte.
Dieser Saal war weitaus eindrucksvoller als der von Schloß Ludlow. Es gab zwei Kamine, an jedem Ende einen. An der Decke waren schwere Balken, von denen unzählige Talbot-Fahnen hingen. An den Wänden gab es bronzene Kerzenhalter und farbenprächtige Gobelins zu bestaunen. Auf den meisten davon waren Jagdszenen zu sehen, ein Wandteppich jedoch hob sich von den anderen ab, auf ihm waren eine Jungfrau und ein Einhorn abgebildet, die einander gegenübersaßen.
Keely stand auf und ging hinüber zu diesem merkwürdigen Gobelin. Irgend etwas sprach sie an, zog sie auf beinahe magische Weise hin zu diesem Wandteppich. Sie hatte ein starkes Bedürfnis, ihn zu berühren, schloß die Augen und legte die rechte Hand an den Wandbehang. Sie konnte den Geist ihrer Mutter fühlen, ein leises Lächeln umspielte ihre Lippen.
Dicht hinter ihr stand Herzog Robert. Mit gefühlsbewegter Stimme erklärte er ihr: »Megan hat ihn für mich gemacht. Achtzehn Jahre lang habe ich nur diesen Gobelin und den Drachenanhänger von ihr gehabt. Nun habe ich dich.«
Keely drehte sich langsam um und lehnte sich mit dem Rücken gegen den Gobelin. Sie fühlte sich sicherer, wenn sie den Geist ihrer Mutter spürte. Sie blickte ihm unverwandt in die veilchenblauen Augen, die den ihren so sehr ähnelten, und erklärte ihm: »Ihr habt sie geliebt. Es tut mir leid für Euch, daß Ihr sie verloren habt.«
»Ich habe mehr als Megan verloren. Ich verlor das unermeßliche Vergnügen, dir dabei zuzusehen, wie du von einem kleinen Kind zur Frau heranwuchsest«, entgegnete ihr Herzog Robert. »Was immer du von mir denken magst, ich bin dein Vater, und dein Wohl liegt mir am Herzen.«
Keely fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, die von all der Anspannung ganz trocken geworden waren. Falls zwischen dem Herzog und ihr eine vertrauliche Beziehung entstehen sollte, konnte dies nur auf dem Fundament von Wahrheit und Aufrichtigkeit geschehen.
»Ich habe Euch etwas zu gestehen«, hub Keely an, bevor sie für einen langen Moment zögerte, um dann doch fortzufahren. »Ich bin Heidin.«
Sie war überrascht, als Herzog Robert nur lächelte, als er ihr Geständnis hörte. »Am Hofe benehmen sich alle wie Heiden«, antwortete er. »Elisabeth und Burghley natürlich ausgenommen. Ach, du kannst dir nicht vorstellen, wie es dort zugeht.«
»Ich meine damit, daß ich an das alte Wissen glaube«, versuchte Keely ihm zu erklären. »Wie Megan bin ich eine Druidin.«
»Was immer du bist, ändert nichts daran, daß ich dein Vater bin«, überraschte der Herzog sie erneut. »Ich möchte die Möglichkeit haben, dich kennenzulernen.«
Verdutzt fragte sich Keely, wo die Predigt über die Gefahren ihrer unglaublichen Anschauungen blieb. Wie konnte dieser offensichtlich warmherzige, gütige Mann die Frau, die er liebte, geschwängert und anschließend im Stich gelassen haben? Warum lud er sie, im Grunde genommen eine vollkommene Fremde, in sein Haus ein und schloß sie so ins Herz? War er ein Narr? Oder war sie die Närrin?
»Wirst du mir dein Vertrauen schenken, Kind?« fragte der Herzog sie.
Das Kinn leicht erhoben, meinte Keely: »Was das angeht, ist Euer Ruf nicht der beste.«
Herzog Roberts Mund zuckte. Verflucht, das Mädchen hatte mit seinen veilchenblauen Augen und dem ebenholzschwarzen Haar wohl auch seinen Mut und seinen Stolz geerbt! »Wirst du mir dann eine Möglichkeit geben, mir dein Vertrauen zu verdienen?« fragte er sie.
Keely zögerte. Sie war nach England gereist, weil sie sich unter seinen Schutz stellen wollte. Ihre Mutter hatte es so gewollt. Schließlich nickte sie. »Ja, Euer Gnaden.«
»Das ist zu formell für Vater und Tochter«, erklärte der Herzog erleichtert. »Meine anderen Kinder nennen mich Papa.«
Dieses Wort auszusprechen, danach hatte Keely sich immer gesehnt. Aber sie konnte die langen Leidensjahre nicht so einfach vom Tisch wischen. So sehr es auch all ihren Grundsätzen zuwiderlief, einen anderen zu verletzen, konnte Keely nicht anders. Der Herzog hatte ihre schwangere Mutter verlassen und damit das Kind – sie – zu einer leidvollen Kindheit verurteilt. Der Drang, ihn genauso zu verletzen, wie er sie verletzt hatte, erwies sich als unwiderstehlich.
Sie wappnete sich gegen die Hoffnung, die ihr aus seinen veilchenblauen Augen entgegen schien, und antwortete: »Das bringe ich nicht über die Lippen, Euer Gnaden.«
Ihre Worte verletzten sie genauso wie ihn. Als sie seinen unglücklichen Gesichtsausdruck sah, brach Keely beinahe das Herz. Aber ließ sich sein Schmerz mit dem Leid messen, das sie achtzehn Jahre lang erfahren hatte?
Herzog Robert fing sich schnell wieder. Er legte ihr den Arm um die Schulter und küßte sie auf die Schläfe. »Wann immer du dazu in der Lage bist, mich Papa zu nennen, werde ich sehr stolz sein.«
Ein Kloß bildete sich in Keelys Hals. Ihre Unterlippe bebte. Zwei dicke Tränen kullerten ihr über die Wangen.
»Das lassen wir bleiben.« Sanft wischte ihr Herzog Robert die Tränen aus dem Gesicht. »Eine herrliche Zukunft liegt hier in England vor dir, und das Elend der letzten achtzehn Jahre wird bald verblassen.«
»Ich bin anders«, flüsterte Keely. »Ich bin Waliserin und gehöre nicht hierher.«
»Du bist beinahe so englisch wie ich«, widersprach ihr der Herzog und hob ihr Kinn, um besser in die veilchenblauen Augen sehen zu können, die so sehr den seinen glichen. »Ich habe deine Mutter geliebt und wollte sie heiraten, aber mein Vater spiegelte mir vor, sie sei tot.«
»Wenn Ihr sie wirklich geliebt habt«, warf Keely ein, »warum seid Ihr dann nicht nach Wales zurückgekehrt, um Euch selbst von ihrem Tod zu überzeugen?«
»Ich hatte damals keinen Grund, das Wort meines Vaters anzuzweifeln.« Herzog Robert richtete den Blick in die Ferne. »Würdest du nicht auch meinen Worten glauben?«
»Nein.« Das Wort fiel wie ein Axt. Keely spürte es in ihrem Innersten und sah es in seinen Augen.
Megan hatte seinen Liebesschwüren geglaubt – aber konnte sie es?
»Kind meines Herzens«, fuhr der Herzog fort und zog sie noch näher an sich, »ich liebe dich so sehr wie meine anderen Kinder. Das Schicksal hat mir eine zweite Chance gewährt, denn wenn ich dich ansehe, spüre ich Megan.«
Keely blickte ihm ins Gesicht. Daß diese Worte aus seinem Herzen kamen, war offensichtlich. Wenn er Megan wirklich geliebt und sie für tot gehalten hatte, welches Elend hatte er dann all die Jahre erduldet?
»Megan hat dich mir geschickt«, fuhr der Herzog fort. »Betrachte das hier als dein Zuhause.«
»Odo und Hew ...«, hub Keely an.
»Deine Cousins sind hier willkommen, so lange sie hierzubleiben wünschen«, unterbrach Herzog Robert sie. »Im Augenblick halten sie sich in den Stallgebäuden auf. Möchtest du sie sprechen?«
»O ja, ist das möglich?«
»Das hier ist dein Zuhause, Kind. Du kannst hingehen, wohin du wünschst. Übrigens, Merlin ist ein ausgezeichnetes Pferd, aber«, lachte Herzog Robert, »eine Stute.«
Keely schenkte ihm ein bezauberndes Lächeln. »Ich weiß.«
»Wie sehr du mich an Megan erinnerst«, seufzte Herzog Robert wehmütig und küßte sie erneut auf die Schläfe. »Noch eine Frage.«
Keely nickte.
»Unter welchen Umständen hast du den jungen Devereux getroffen?«
»Der Graf stellte sich mir in dem Gasthof vor, in dem wir übernachteten.«
»Und sonst gibt es nichts zu berichten?«
Keely sah ihn verwundert an. »Was sollte es sonst noch geben?«
Bei ihrem unschuldigen Blick atmete Herzog Robert beruhigt auf. Der verrufenste Frauenheld am Hofe der Tudors hatte sie nicht angerührt. Noch nicht. Mit etwas Glück waren die beiden verheiratet, bevor dies geschah.
»Nun lauf und such deine Cousins«, erklärte Herzog Robert und ließ sie los.
Keely überraschte ihn vollends, als sie ihm auf Zehenspitzen einen Kuß auf die Wange drückte und »Danke, Euer Gnaden« flüsterte.
Mit diesen Worten lief sie aus dem Saal in das Hauptfoyer, wo sie auf Meade stieß, den Majordomo des Herzogs. Der unglückliche Dienstbote hinkte noch immer.
»Einen guten Tag wünsche ich Euch, Mylady«, begrüßte er sie und hielt ihr die Tür auf.
»Euch ebenfalls«, erwiderte Keely den Gruß. »Könnt Ihr mir erklären, Sir, wie ich zu den Ställen komme?«
»Am Ende dieses Weges nach links.«
Keely nickte, ging jedoch nicht sogleich weiter, sondern nahm sich ein Herz und sagte: »Meade, ich hoffe, ich trete Euch nicht zu nahe, aber es wird Euch bald besser gehen, wenn Ihr Euer Fußgelenk mit Nachtkerzenöl einreibt und Apfelmost mit Mutterkraut trinkt. Das nimmt die Schmerzen und Ihr könnt bald wieder laufen.«
»Vielen Dank, Mylady.« Auf Meades sonst so ernsten Zügen war ein Lächeln zu sehen. »Ich werde es versuchen.« Odo und Hew saßen vor den Ställen des Herzogs. Als sie Keely sahen, lachten beide erleichtert und erhoben sich, um sie zu begrüßen.
»Geht es dir besser?« fragte Odo.
»Ja, danke. Viel besser«, lächelte Keely. »Und euch?«
»Dein Vater hat einen hervorragenden Koch in seinen Diensten«, antwortete Hew ihre Frage nach seinem Wohlbefinden und tätschelte seinen Bauch. »Wir haben uns den Magen so vollgeschlagen, daß wir uns kaum noch bewegen können.«
»Der Herzog hat mich gezeugt«, verbesserte Keely ihn, »aber er war mir nie ein Vater.«
»Also weißt du, Kleines …«, wollte Odo einwenden, schwieg aber sofort wieder, als er sah, wie Keely in Erwartung seines Vortrags die Stirn runzelte.
Hew, der von all dem nichts mitbekommen hatte, kratzte sich am Kopf und meinte verwundert: »Ist denn Erzeuger und Vater nicht dasselbe?«
»Hohlkopf«, brummte Odo und versetzte seinem Bruder einen Klaps auf den Hinterkopf, bevor er sich Keely zuwandte. »Was machen wir mit dem Grafen? Er wohnt nebenan.«
»Da besteht keine Gefahr«, erklärte Keely zuversichtlicher, als sie sich fühlte. »Ich werfe einen Vergessenszauber über ihn, und dann seid ihr so lange sicher, wie ihr hier auf dem Besitz des Herzogs weilt. Wo ist Merlin? Ich würde sie gerne sehen.«
Odo und Hew führten Keely in den Stall. In einer der Boxen stand Merlin, die ihre Herrin zur Begrüßung anstupste.
»Warst du ein braves Mädchen?« flüsterte Keely, als sie die Stute am Nacken kraulte. Beim Anblick des herrlichen Pferdes, das Rhys ihr geschenkt hatte, wurde Keely ganz wehmütig ums Herz. Sie sehnte sich nach Hause. Zu ihren Cousins gewandt, sagte sie: »Ich möchte von hier weg und zurück nach Wales.«
»Dort ist Madoc«, erinnerte Hew sie.
»Rhys wird mich vor ihm schützen«, entgegnete sie.
»Aber, aber, kleines Mädchen«, warf Odo ein, »du kannst doch jetzt noch nicht verschwinden, du hast doch gerade erst deinen Vater gefunden.«
»Der Herzog ist ein Fremder für mich.« Die Tränen stiegen Keely in die Augen. »Ich gehöre nicht hierher.«
Und nirgendwohin sonst, dachte Keely insgeheim.
»Gib ihm und dir selbst eine Chance«, hielt Odo dagegen. »Du wirst dich hier eingewöhnen.«
»Und bleibt ihr bei mir?«
»Solange du uns bei dir haben willst«, willigte Odo ein.
»Immer«, fügte Hew hinzu und wischte sich eine Träne aus den Augen. »Der Herzog hat ein paar großartige Eichen in seinem Park.«
»Die muß ich sehen«, rief Keely. Schon wirkte sie sichtlich fröhlicher. Sie umarmte Merlin und küßte ihre Cousins auf die Wange, bevor sie aus dem Stall lief.
Der Herbst hatte den vollkommen erscheinenden Park des Herzogs in lebhafte Farben getaucht. Neben den orange-, gold- und rotfarbenen Blättern war das Gelände von einer Armee von Gärtnern in einen Regenbogen herbstlicher Farben verwandelt worden. Chrysanthemen in vielfältigen Schattierungen verliehen zusammen mit weißem Schleierkraut, violett blühender Zentifolie, rosa Steinkraut, Ringelblumen, Löwenmaul und Primeln dem gepflegten Park zusätzlichen Glanz.
Angesichts all dieser Pracht seufzte Keely. Den Herbst fand sie besonders aufregend, schon wegen Samhuinn, dem Beginn des Lebenskreises der Druiden, wenn sich die Tore der Vergangenheit und der Zukunft auftaten. Der dünne Schleier zwischen der Erdenwelt und dem Jenseits blieb genau drei Tage lang gelüftet. Und dieses Samhuinn war besonders wichtig, weil Megan versprochen hatte, zu diesem Zeitpunkt zu ihr zurückzukehren.
Nach dem Spaziergang durch den Park, bei dem sie jede Eiche berührt hatte, um sich vertraut zu machen, setzte Keely sich auf eine Steinbank. Der Herzog hatte sie sofort akzeptiert als das, was sie war. Warum brachte sie es nicht über sich, ihm mit derselben Achtung zu begegnen? Es war so gar nicht ihre Art, einen Groll zu hegen.
Seit jenem schrecklichen, lange verstrichenen Tag, als sie erst fünf Jahre alt war, hatte Keely sich nach ihrem richtigen Vater gesehnt. Es schien ihr, als sei es erst gestern gewesen ...
Nachdem sie endlich ihren ersten Eichenblätterkranz gewunden hatte, sauste Keely über den Schloßhof zu ihrem Vater. Wie stolz er auf sie sein würde, wenn sie ihm den Kranz zeigte!
»Papa!« rief Keely und drängte sich durch die Clans- und Gefolgsleute. »Ich habe ein Geschenk für dich gemacht!« Sie hielt ihm den Kranz entgegen.
»Nenn mich niemals Papa«, fauchte Madoc und stieß sie zur Seite. »Du bist sein Bastard.«
Verletzt und verwirrt ließ Keely den Kopf hängen. Die Tränen strömten ihr übers Gesicht. Was hatte sie diesmal verkehrt gemacht? Warum hatte ihr Papa sie nicht gem?
Ein langer Schatten fiel über ihren Weg. Keely sah hoch, und da stand der zwölfjährige Rhys vor ihr. »Bist du noch mein Stiefbruder?« fragte sie ihn schluchzend.
»Denk dir nichts wegen dem.« Rhys ging in die Knie, um mit ihr auf gleicher Höhe zu sein. »Ich bin dein Bruder, und ich werde immer dein Bruder sein. Darf ich deinen hübschen Kranz tragen?«
Keely schaffte es, ein wenig zu lächeln, aber ihre Unterlippe zitterte vor Anstrengung. Keely hob den Kranz hoch, als kröne sie einen König, und legte ihn Rhys um den Hals.
»Rhys«, flüsterte sie, »was ist ein Bastard?«
Bevor er antworten konnte, meldete sich eine andere Stimme zu Wort. »Und ich bin ein für allemal dein Cousin.«
Keely blickte sich um, und da hockte der zwölfjährige Odo neben ihr am Boden.
»Ich auch«, fügte der zehnjährige Hew hinzu.
»Du Hohlkopf“, versetzte Odo seinem Bruder einen Klaps auf den Hinterkopf. »Wenn ich ihr Cousin bin, dann bist du auch ihr Cousin.«
»Deswegen brauchst du mich noch lange nicht schlagen.«
»Wie kann ich dir sonst ein bißchen Verstand eintrichtern?«
»Aber du rüttelst mein Him ganz durcheinander«, protestierte Hew.
»Du hast keins«, schoß Odo zurück.
Keely kicherte, beinahe war sie wieder so fröhlich wie zuvor. Ihre beiden riesigen Cousins verhielten sich albern, aber sie mochte sie deshalb nur um so lieber.
»Winde mir auch einen Kranz«, bat Odo sie.
»Mir auch«, fügte Hew hinzu.
»Ich habe es zuerst gesagt.« Odo streckte die Hand aus, um seinem Bruder wieder einen Klaps zu versetzen. »Ich bin älter.«
Hew wehrte den Schlag ab und hielt dagegen: »Aber ich bin schöner. «
Keely blickte ihrem Bruder in die Augen, wo sie die Wahrheit zu entdecken hoffte. »Hast du mich lieb?« fragte sie ihn.
»Ja, sehr.« Rhys drückte sie an seine Brust und nahm sie fest in die Arme.
Den Kopf an seine Schulter gelehnt sah Keely, wie Madoc sie vom anderen Ende des Schloßhofes aus stirnrunzelnd beobachtete. Ihr klang noch immer in den Ohren, wie er sie genannt hatte. Bastard ...
»Tränen, Schönste?«
Erschrocken blickte Keely auf und sah in zwei smaragdgrüne Augen.
»Was macht Ihr hier?« fragte sie.
Ob dieser Schroffheit hob Richard die Augenbrauen. »Ich wohne hier. Habt Ihr das vergessen?«
»Nein, Ihr lebt ...« Keely wand sich innerlich vor Scham über ihr unmögliches Betragen.
»Da drüben.« Er zeigte auf ein etwas hinter Bäumen verborgenes Herrenhaus.
»Seine Gnaden befindet sich im Hause«, erklärte sie.
»Seine Gnaden?« Richard zog eine Braue hoch. »So förmlich sprecht Ihr Euren Vater an?«
Um das Gespräch zu beenden, wandte Keely sich ab, als interessiere sie das nicht weiter. Doch ihr Herz raste. Der Graf stellte eine Gefahr dar für ihre Cousins, doch im Augenblick war Keely weitaus mehr um ihren eigenen Seelenfrieden besorgt. Seine männliche Schönheit raubte ihr beinahe den Atem. In dem unergründlichen Grün dieser Augen konnte ein Frau sich ohne weiteres verlieren.
»Als wir uns damals in dem Gasthof kennenlernten«, fragte Richard sie, »warum habt Ihr mir da nicht erzählt, daß Ludlow Euer Vater ist?«
»Ich dachte, es gehe Euch nichts an, wer mein Vater ist«, antwortete Keely, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen. Wenn sie Glück hatte, würde er bald gehen.
»Mylord«, erklärte Richard und stellte seinen bestiefeiten Fuß neben sie auf die Bank.
»Was?« Keely drehte den Kopf und wurde beinahe ohnmächtig beim überraschenden Anblick dieses unglaublich muskulösen Schenkels, der so beunruhigend nah neben ihr emporragte.
»Es hätte heißen müssen: ›Es gehe Euch nichts an, Mylords«
»Ihr mögt vielleicht ein Lord sein«, erklärte ihm Keely, »aber Ihr seid nicht mein Lord.«
Wäre sie nicht ganz so dreist gewesen, hätte Richard ihrer spitzen Zunge Beifall gezollt. Schließlich gab es am Hofe der Tudors nicht viele, die es wagten, dem Favoriten der Königin derart rüde zu begegnen.
Statt wütend zu werden, was sie, wie er wußte, von ihm erwartete, lächelte Richard freundlich. »Ich habe Euch ein Willkommensgeschenk mitgebracht.« Mit diesen Worten reichte er ihr eine vollkommene Orchidee.
Verwirrt lächelte Keely ihn an und nahm die Orchidee. Als ihre Finger sich berührten, durchflutete Keely ein unbekanntes, aber nicht unangenehmes Gefühl. Im nächsten Augenblick war es schon wieder vorbei.
Seine Freundlichkeit überraschte sie, und Keely sah sich die Orchidee an. So eine vollkommene Blume hatte ihr noch kein Mann geschenkt. Mit Ausnahme ihres Bruders und ihrer beiden Cousins hatte überhaupt noch kein Mann ihr ein Geschenk gemacht. Nicht einmal einen Verehrer hatte sie gehabt. Madocs Haß hatte alle abgeschreckt, die sonst vielleicht Interesse gezeigt hätten. Außerdem heiratete sie kein Mann ohne Mitgift, und jedermann wußte, daß ihr Stiefvater nicht die Absicht hatte, sie damit auszustatten.
»Sie ist wunderschön. Bitte verzeiht meine schlechten Manieren«, entschuldigte Keely sich, die sich plötzlich wie ein ungehobelter Klotz vorkam. »Ihr tauchtet so unvermittelt auf, das erschreckte mich.«
»Dann müßt Ihr mir vergeben«, erwiderte Richard zärtlich. »Ich würde Euch nie absichtlich in irgendeiner Weise erschrecken oder verletzen.«
Mit diesen Worten beruhigte er sie nicht im geringsten. Keely konnte den Blick nicht von ihm wenden. Tausend Schmetterlinge schienen sich in ihrem Bauch zu tummeln, die Hände in ihrem Schoß zitterten.
»Ich dachte immer, nur Engländer und Madoc benähmen sich schlecht«, bemerkte Keely, ohne sich darüber im klaren zu sein, daß sie ihn schon wieder beleidigte. »Nun ist mir klargeworden, daß ich selbst zu diesem Fehler neige.«
»Wer ist Madoc?« fragte Richard mit hochgezogener Augenbraue.
»Mein Stiefvater.« Keely biß sich auf die Unterlippe. »Möchtet Ihr Euch zu mir setzen?« lud sie ihn schließlich ein.
Richard lächelte und nahm neben ihr Platz. Dabei berührten sich ihre Schenkel. Das Mädchen fühlte sich hingezogen zu ihm, schloß Richard, daran bestand kein Zweifel. Aber sie war unruhig wegen ihrer Cousins. Irgendwie mußte er sich darüber hinwegsetzen, daß ihn diese beiden Hohlköpfe in Shropshire ausgeraubt hatten.
Was, zum Teufel, zerbrach er sich da den Kopf? ärgerte Richard sich über sich selbst. Er war schließlich das unschuldige Opfer und nicht der Täter gewesen!
»Stimmt etwas ... nicht?« fragte Keely leise.
Richard schüttelte den Gedanken ab, nahm ihre Hand in seine und küßte sie auf ihre zarte Handinnenfläche. »Ihr seht heute besonders entzückend aus«, erklärte er ihr.
Keely errötete und lächelte vieldeutig.
War sie schüchtern? fragte Richard sich. Oder raffiniert?
Sein Blick fiel auf die sanfte Rundung ihrer Brüste über dem tiefausgeschnittenen Mieder. Als er die Augen wieder hob, sah er ihren verärgerten Gesichtsausdruck. Nur einem Blinden konnte das Mißfallen entgehen, das sich auf ihren feinen Gesichtszügen abzeichnete.
Richard hatte den Anstand, über und über rot zu werden, obwohl seine Augen gleichzeitig amüsiert funkelten. Noch nie hatte er eine so sittsame Frau getroffen. Nicht einmal die Kammerjungfern der Königin waren so zurückhaltend wie diese Schönheit.
»Ich bewunderte Euren Drachenanhänger«, log er. »Ein sehr ungewöhnliches Schmuckstück.«
Keelys Gesichtszüge entspannten sich. Sie berührte den Anhänger. »Das ist das Erbstück meiner Mutter.«
Richard blickte ihr tief in die Augen und setzte eine leicht schmollende Miene auf. Er wußte, welche Wirkung dieser Ausdruck bei den Damen zeigte.
Keely spürte ein warmes Gefühl in der Magengrube, das sich schnell zu einem Brennen und schließlich zu einer schier unerträglichen Hitze auswuchs. Ihr Überlebenswille jedoch war stärker. Sie riß ihren Blick von ihm und bemerkte: »Wie schön die Bäume sich im Herbst färben, vor allem die Eichen. Sie haben viel Kraft, müßt Ihr wissen.«
»Wie bitte?« Richard traute seinen Ohren nicht.
»Ich ... ich bewunderte soeben den Park«, erklärte Keely, der zu spät klargeworden war, was sie beinahe über sich verraten hätte.
»Ihr habt den hübschesten Akzent«, meinte Richard.
»Den Akzent habt doch Ihr«, widersprach Keely und warf ihm einen Seitenblick zu, als flirte sie unbewußt mit ihm.
»Wir Engländer haben einen Ausdruck, der euch Waliser sehr gut beschreibt«, erwiderte Richard ihr Lächeln. »Taffy – Trottel.«
Keelys Lächeln erstarb. Eine makellose ebenholzschwarze Augenbraue schoß nach oben – eine vollkommene Imitation seiner eigenen irritierenden Angewohnheit. »Wir Waliser haben ein Ausdruck, der am besten solch englische Hohlköpfe wie Euch beschreibt – erfinderisch.«
Richard brüllte vor Lachen – nicht nur darüber, was sie soeben gesagt hatte, sondern auch über ihre Respektlosigkeit seinem hohen Rang gegenüber. Man stelle sich nur vor, den Favoriten der Königin so zu beleidigen!
Was Keely anging, stand ihr die Verblüffung ins Gesicht geschrieben. Seine gute Laune anbetrachts dessen, was sie für eine niederschmetternde Beleidigung hielt, überraschte sie.
»Ich bin getroffen«, erklärte Richard mit vor Vergnügen funkelnden Augen. »Eure scharfe Zunge ist eine höchst gefährliche Waffe.«
»Was für ein glückliches Wesen Ihr seid«, entgegnete Keely, »Ihr findet an den unmöglichsten Stellen Grund, fröhlich zu sein.«
»Dudley sollte das hören.«
»Wer?«
»Robert Dudley, der Graf von Leicester«, antwortete Richard, als erkläre dies alles.
Keely starrte ihn verständnislos an. »Ich habe noch nie von dem Mann gehört.«
Richard verzog den Mund zu einem Lächeln. »Ich fange an, Euch mehr und mehr zu mögen.«
»Ich mag Euch ebenfalls«, antwortete Keely. Ihre Treuherzigkeit schien Richard eine angenehme Abwechslung nach all den Frauen am Hofe. »Könnten wir vielleicht Freunde sein?«
Richard nickte. Er wünschte sich mehr als nur die Freundschaft dieser Schönheit, aber er war klug genug, das im Augenblick für sich zu behalten. Mit dem Instinkt des Raubtiers wußte Richard, daß Keely im Gegensatz zu den übrigen ihm bekannten Damen die Flucht ergreifen würde, bewegte er sich zu schnell. Außerdem brauchte er noch etwas Zeit, um herauszufinden, welche Rolle sie bei dem Überfall ihrer Cousins gespielt hatte.
Mit vorgetäuschter Beiläufigkeit streckte Richard die Beine aus und zog einen braunroten Stein aus der Tasche, um mit ihm zu spielen, wobei er Keely aus den Augenwinkeln beobachtete.
»Einzigartiger Stein, nicht wahr?« bemerkte er. Ihre weit aufgerissenen Augen entgingen ihm nicht.
Sie nickte und blickte zur Seite. »Der Karneol schützt seinen Besitzer vor jeglichem Schaden. Woher habt Ihr diesen Stein?«
»Ich habe ihn in Shropshire gefunden und ihn als Glücksbringer behalten.« Schlau fügte Richard hinzu: »Eure Cousins ...«
Keely zuckte zusammen. Da war Richard klar, daß sie von dem Überfall wußte. Ob sie vor der Tat oder danach davon erfahren hatte, fragte er sich.
»Eure Cousins kommen mir irgendwie bekannt vor, aber ich kann mich nicht erinnern, woher ich sie kenne.«
»Meine Cousins haben mich aus Wales hierher begleitet. Ich bin sicher, daß Ihr sie im Gasthof zum erstenmal gesehen habt.«
Richard lächelte, nickte und ließ das Thema fallen. Er wollte nicht, daß sie Verdacht schöpfte, er hätte ihre Cousins erkannt. »Nachdem Ihr erst in England angekommen seid und es noch gar nicht kennt, laßt mich Euch doch bitte die größten Sehenswürdigkeiten Londons zeigen.«
»Ohne Anstandsperson wäre das unziemlich«, wandte sie ein.
Richard hob ihre Hand an seine Lippen. Mit einem tiefen Blick in ihre veilchenblauen Augen erklärte er ihr mit belegter Stimme: »Eure Schönheit verleitet mich zu unziemlichen Gedanken.«
Seine Lippen auf ihrer Hand und diese zärtlichen Worte waren zuviel. Keely war überwältigt von seinem entwaffnenden smaragdgrünen Blick.
Ein umwerfend lässiges Lächeln, und Richard rückte näher heran, langsam bewegten sich seine Lippen auf ihren geöffneten Mund zu, um ihn in Besitz zu nehmen. Keely schloß die Augen, und ihre Lippen berührten einander, das wäre ihr erster Kuß gewesen, hätte nicht ... eine fette weiße Gans sie mit ihrem Geschnatter auseinanderfahren lassen. Das Tier mit dem gelben Schnabel watschelte über den Rasen auf sie zu. Um den Hals trug es ein goldenes, mit Smaragden und Diamanten geschmücktes Halsband. Ein paar Schritte hinter der Gans folgte Lady Dawn, die von zwei Jungen begleitet wurde.
»Hallo, Anthony«, rief Richard und flüsterte Keely ins Ohr: »Das ist die Lieblingsgans der Gräfin.«
Keely unterdrückte ein Lachen. »Die Gans wird nicht heute bei Tische serviert?«
»Anthony essen?« empörte sich Lady Dawn. »Schluckt lieber Eure Zunge, Kind!« Zu ihren Pagen umgewandt, erklärte sie: »Bart und Jaspers, bringt Anthony jetzt auf sein Zimmer.«
Die Jungen führten Anthony fort. Richard erhob sich und bot der Gräfin seinen Platz an. Über Keelys Hand gebeugt, verabschiedete er sich. »Ich freue mich auf unsere nächste Begegnung, Mylady.« Seine Augen versprachen ihr, sie würden genau dort fortfahren, wo sie gerade unterbrochen worden waren.
»Eßt mit uns heute zu Abend«, lud Lady Dawn ihn ein.
»Unglücklicherweise habe ich bereits eine Verpflichtung, die Königin erwartet mich«, entzog sich Richard. »Vielleicht morgen?«
»Ihr seid stets willkommen in Talbot House.« Lady Dawn zog Keely hoch und berichtete ihr: »Der Schneider ist hier, um Eure Maße zu nehmen, meine Teuerste. Tally spart weder Mühen noch Kosten, um Euch gefällig zu sein.«
»Einen schönen Tag, meine Damen«, grüßte Richard sie und wandte sich um, um über den Rasen heimzugehen.
»Der Graf hat mir diese Orchidee geschenkt«, erzählte
Keely der Gräfin.
Lady Dawn schmunzelte. »In der Sprache der Blumen heißt es, wenn ein Mann einer Frau eine Orchidee gibt, will er sie verführen.«
Hochrot vor Scham starrte Keely dem sich entfernenden Grafen nach. Genau in diesem Augenblick wandte Richard sich um, verbeugte sich tief und blinzelte Keely zu. Dann verschwand er auf dem Weg, der zu seinem Herrenhaus führte.
»Gut gemacht«, versuchte ihr die Gräfin ein Kompliment zu machen. »Devereux wird Euch bald aus der Hand essen. Oder zumindest um Eure Hand anhalten.«
»Um meine Hand anhalten?« wiederholte Keely entsetzt.
»Ich liebe Hochzeiten«, gurrte Lady Dawn und hakte sich bei Keely unter, als sie sich auf den Rückweg machten. »Dreimal war ich bereits die Braut, aber die Vorbereitung dieser Hochzeit wird mir ein besonderes Vergnügen sein. Die Hochzeit des Jahrzehnts, es sei denn, die Königin entschließt sich, vor den Altar zu treten.«
Bei den heiligen Steinen! dachte Keely entsetzt. Sie war erst einen verwirrenden Tag lang in Talbot House, und schon wollte der Graf sie ins Bett zerren und die Gräfin sie mit ihm verheiraten. Wie sollte sie in diesem Land von Verrückten überleben?
Eine Stunde nach der anderen, hörte sie eine innere Stimme. Oder du verlierst binnen einer Woche den Verstand.