Neunzehntes Kapitel
Wo, im Namen der Muttergöttin, ist Richard? fragte sich Keely, während sie aus dem Fenster im ersten Stock der Smythe Priorei blickte. Die untergehende Sonne hatte den westlichen Horizont in ein Flammenmeer getaucht, doch Keely schenkte diesem herrlichen Schauspiel keine Beachtung.
Ihr Ehemann war verschwunden.
So schnell, wie man auf dem Fluß vorankam, hätte Richard schon längst hier sein und auf sie warten müssen. War er vom Cradle-Turm in den Tod gestürzt? Nein – sie hätte es gespürt, wenn er zum Großen Abenteuer angetreten wäre. Oder war er gefangen und wieder in den Tower gesperrt worden? Nur die große Muttergöttin kannte die Antwort.
Keely holte aus ihrer Tasche den Stoffbeutel und leerte die Steine aus. Sie wählte einen weißen Achat, um ihr spirituell den Weg zu weisen, und acht violette Berylle, um Unglück zu verhindern. Dann zog sie ihre goldene Sichel aus der Tasche.
Damit ging sie in die Mitte des Raums und legte einen Kreis. Nur einen Achat, einen Beryll und die goldene Sichel behielt sie in der Hand. Sie betrat den Kreis von Westen, schloß ihn mit dem letzten Beryll und sprach die Worte: »Störende Gedanken bleiben draußen.«
Daraufhin umrundete sie den Kreis im Uhrzeigersinn und schloß ihn mit der goldenen Sichel. Dann ging sie in die Mitte des Kreises und sank auf die Knie, die Augen nach Westen gerichtet.
»Die Alten sind hier, sie warten ab und sehen zu«, flüsterte Keely, die Hand am Drachenanhänger, der die Liebe ihrer Mutter barg. »Geist, der mich auf meiner Reise geleitet, hilf mir, die Sprache der Bäume zu verstehen. Geist meiner Ahnen, hilf mir, die Sprache des Windes zu verstehen. Geist meines Stammes, hilf mir, die Sprache der Wolken zu verstehen. Öffnet mein Herz, damit ich über den Horizont hinaussehe.«
Lange Zeit geschah nichts, doch plötzlich tauchten Bilder vor ihrem geistigen Auge auf ...
Brodelnde Nebelschwaden, die den Blick auf einen Zauberkreis freigaben ... Ein rothaariger Kesselflicker, das Symbol eines Weißmagiers, der in einen tödlichen Kampf mit einen schwarzen Drachen, das Symbol des Bösen, verstrickt war ... Und plötzlich hob der Kesselflicker sein Schwert und tötete – gegen alle Wahrscheinlichkeit – den Drachen und damit das Böse ... Langsam drehte sich der Kesselflicker um und rief: »Keely, wo bist du?«
Das Bild löste sich auf und machte der Wirklichkeit Platz. Tatsächlich war eine Stimme zu hören, die rief: »Keely? Seid Ihr krank?«
Keely blickte über die Schulter und war einen kurzen Augenblick lang verwirrt, den Baron dort zu sehen. »Bleibt, wo Ihr seid«, befahl sie und hob warnend die Hand. »Es ist verboten, den Bannkreis zu brechen.«
Willis Smythe sah sie fragend an und stellte ein Tablett mit dem Abendessen auf einen Tisch nahe am Kamin. Mit vor der Brust verschränkten Armen beobachtete er sie.
Keely flüsterte der Göttin ihren Dank und hob den Bannkreis auf. Sie versuchte es möglichst lange hinauszuschieben, den Baron anzusehen, deshalb ließ sie sich Zeit mit dem Einsammeln der Steine.
Schließlich ließ es sich nicht länger vermeiden. Nervös lächelnd wandte sich Keely dem Baron zu. Die schwarze Wolke über seinem Haupt schien unheilvoller als je zuvor. In der Priorei lauerte der Tod und wartete auf den Augenblick, da er hervortreten und einfordern konnte, was ihm zustand.
»Was tatet Ihr da?« fragte Willis.
»Ich betete für die sichere Ankunft meines Gatten«, antwortete Keely.
»In einem Steinkreis? Seid Ihr eine Hexe?«
»So etwas Ähnliches«, entgegnete Keely mit einem zweideutigen Lächeln. Noch so ein Einfaltspinsel, dachte sie, der oberflächlich vor sich hin lebt, ohne die geringste Ahnung von der Welt der Spiritualität. Bei den heiligen Steinen, England war voll von diesen Hohlköpfen!
Willis erwiderte ihr Lächeln. Sie ist genauso dumm wie ihre Schwester, dachte er. Es würde ein leichtes sein, ihr seinen Willen aufzuzwingen.
Der Baron trat ans Fenster und schaute hinauf zum Nachthimmel. Sein Blick blieb an den altmodischen Fensterläden hängen. Er wandte sich um und meinte: »Ich sollte die Priorei modernisieren lassen. Eine meiner Töchter kann sie als Mitgift haben.«
»Gedenkt Ihr zu heiraten?« fragte Keely überrascht.
»In allernächster Zukunft«, grinste Willis. »Ich gedenke, ein Dutzend kleiner, dunkelhaariger Smythes zu zeugen.«
Dunkelhaarige Smythes.
Keely runzelte die Stirn. Irgendwie kamen ihr diese Worte vertraut vor. Dunkelhaarige Smythes ... dunkle Smythes ... dunkler Schmied!
»Hüte dich vor dem dunklen Schmied.« Megans warnende Prophezeiung fiel ihr schlagartig wieder ein.
»Was habt Ihr Richard angetan?« fragte ihn Keely, ohne an die Folgen dieser Frage zu denken.
»Vielleicht seid Ihr doch nicht so dumm, wie ich dachte«, entgegnete Willis. »Ich erwarte jeden Augenblick die Nachricht von Richards Tod durch die Hand der königlichen Wachen. Gleich darauf wird uns der Dorfgeistliche vermählen.«
Keely hatte das Gefühl, die Erde bewege sich unter ihren Füßen. Sie faßte sich an ihren Bauch und versuchte gleichzeitig, sich am Tisch festzuhalten.
»Seid Ihr krank?« fragte Willis erschrocken und eilte an ihre Seite. Wenn ihr oder dem Baby etwas zustieß, starb sein Plan mit ihnen.
Er versuchte, sie aufzufangen. Angewidert zuckte Keely von dem Bösen zurück, das sie zu berühren trachtete. Sein besorgter Gesichtsausdruck verdüsterte sich.
»Ich gedenke, meine Erben von Euch zu bekommen«, erklärte ihr Willis. »Ihr gewöhnt Euch besser an meine Berührung.«
»Warum tut Ihr das?« fragte Keely ihn, während ihr die Angst den Hals abzuschnüren begann. »Ihr seid doch Richards Freund.«
»Es schmerzt mich, meinen besten Freund betrügen zu müssen, doch ich werde diese Schuldgefühle überleben. Das Gewicht zweier Vermögen lastet auf Euren zarten Schultern. Wer immer Euch besitzt, ist Herr über einen unglaublichen Schatz, größer als der unserer Königin.«
»Ich verstehe Euch nicht.«
»Als Stiefvater von Richards Erben werde ich Herr über das Vermögen der Devereux‘«, erklärte ihr Willis. »Und sobald Euer Vater tot ist, gehört Euch der gesamte Besitz der Talbots.«
»Ihr könnt unmöglich durch mich an das Vermögen der Talbots kommen«, entgegnete Keely. »Henry ist der Erbe des Herzogs.«
»Pech für Henry, aber Bastarde können nicht erben.«
»Was meint Ihr damit?« fragte ihn Keely verwirrt.
Willis lächelte. »Morgana und Henry sind die wahren Bastarde.«
Diese Enthüllung verblüffte Keely. »Wollt Ihr damit sagen, ich sei ehelich geboren?«
»Genau.«
Keely schüttelte ungläubig den Kopf. »Meine Mutter hätte mir das gesagt«, entgegnete sie.
»Hat sie etwas anderes gesagt?«
Keely sah zur Seite. Megan hatte nie gesagt, daß sie unehelich geboren worden war. Im Gegenteil, ihre Mutter riet ihr stets, Madocs bitteren Worten kein Gehör zu schenken. Baron Lloyd, meinte sie, würde die Wahrheit nicht sehen, und wenn er drüber stolperte.
»Nun, was sagte sie?« beharrte Willis.
Obwohl es ihr schwerfiel, blickte Keely ihm direkt in die Augen. »Seine Gnaden hätte es erwähnt.«
Willis lachte, daß Keely ein eiskalter Schauder den Rücken hinunter lief. »Glaubt Ihr tatsächlich, der Herzog von Ludlow würde seinen einzigen Sohn einen Bastard heißen? Das denke ich nicht, Schatz.«
»Worte beweisen nichts«, sagte Keely. »Eure Lügen weise ich von mir.«
»Weist von Euch, was Ihr wollt«, antwortete Willis und faßte in sein Wams. Er zog ein vergilbtes Pergament hervor und hob es hoch. »Hier halte ich den Beweis für Eure eheliche Geburt in der Hand.«
Keely starrte das Pergament an und nagte an ihrer Unterlippe. Konnte es stimmen? Hatten ihre Eltern sie im falschen Glauben gelassen?
»Kann ich es sehen?« fragte sie.
Willis reichte es ihr.
Mit zitternden Händen faltete Keely das Pergament auseinander und trat näher an das Kaminfeuer, um es besser lesen zu können. Die Augen wurden ihr feucht, als sie entzifferte, was sie in Händen hielt.
Sie war ehelich geboren. Sie hatte ein Zuhause.
Und dann sah sie Henrys hübsches Gesicht vor sich. Ihr geliebter Bruder würde nun diese Last schultern müssen. Sie hatte ihr ganzes Leben mit dem Stigma ihrer unehelichen Geburt gelebt, aber niemals würde sie ihre Bürde erleichtern können, indem sie diese auf die Schultern ihres Bruders lud.
Keely wußte, was sie zu tun hatte. Blitzschnell hielt sie den Beweis ihrer legitimen Abstammung in die Flammen des Kaminfeuers, wobei nicht nur das Pergament verbrannte, sondern auch ihre Fingerspitzen.
»Nein!« schrie Willis und sprang auf sie zu, um ihre Hand zurückzuhalten.
Zu spät. Sein Traum vom Reichtum ging in Rauch auf.
Keely hielt ihre verbrannte Hand an die Brust und rannte zum offenen Fenster. Mit aller Kraft rief sie: »Hilfe, helft mir!«
Willis war nur einen Schritt hinter ihr und schlug sie hart. Er packte sie an den Armen und schüttelte sie heftig.
»Mein Baby«, rief Keely.
Einen wütenden Fluch auf den Lippen, stieß Willis sie von sich. Keely sank auf die Knie. Während sie mit der verbrannten Hand ihren Bauch umklammerte, hielt sie sich mit der anderen Hand am Fenstersims fest.
»Das ändert nichts«, knurrte Willis und starrte sie finster an. »Richard ist tot oder wird es bald sein. Ihr werdet Eure legitime Abstammung einklagen, sobald wir verheiratet sind, und Euer Vater wird Euch keinen Stein in den Weg legen.«
Willis kniete sich neben sie. Er packte sie am Hals und zog ihr Gesicht an seines. »Ihr tut, was ich sage, oder dieser Fratz, den Ihr unter dem Herzen tragt, dient den Würmern als Nahrung. Habe ich mich klar genug ausgedrückt? Habe ich das?«
Keely brachte kein Wort über die Lippen, sie konnte nur nicken.
Willis ließ sie los und stand auf. Er musterte sie eindringlich. Schließlich verließ er das Zimmer und verschloß die Tür hinter sich.
»Mutter, hilf mir!« stöhnte Keely und berührte ihren Drachenanhänger.
Sie blickte auf ihre verletzte Hand, und beim Anblick ihres verbrannten Fleisches mußte sie würgen. Langsam fand sie ihre Fassung wieder und setzte sich in den Sessel vor dem offenen Kamin.
Ihre vor Schmerz pochenden Fingerspitzen taten ihr weniger weh als das Herz, das ihr vor Kummer zu zerspringen drohte. Würde ihr Mann den Tod finden? Würde das Leben ihres Bruders zerstört werden? Ohne ihre Mithilfe würde der Plan des Barons sich ebenso in Rauch auflösen, wie es der Beweis ihrer ehelichen Geburt getan hatte. Wenn sie sich umbrachte, hatte ihr Bruder eine Zukunft, und ihr Mann – falls er noch lebte – würde ein Frau finden, die besser zu ihm paßte.
Doch Keely konnte es nicht tun. Vom Fenster in den Tod zu springen würde auch bedeuten, ihr unschuldiges Baby zu töten.
Und dann fiel Keely wieder das Versprechen der Göttin ein: Eines Tages, wenn der blaue Mond am Himmel steht. Für immer, wenn Liebende über das Feuer springen.
Der rothaarige Kesselflicker aus ihrer Vision würde den schwarzen Drachen töten ...
Westlich der Smythe Priorei wuchs eine dichte Hecke zwischen dem Haus und den Wäldern ringsum. Hinter diesen Sträuchern hielten sich drei Gestalten verborgen und starrten hinauf zum Fenster im ersten Stock, wo der Baron Keely gefangenhielt.
»Er hat sie geschlagen!« flüsterte Henry und sprang hoch.
Zwei Paar kräftige Hände zogen ihn links und rechts wieder auf den Boden.
»Willst du sterben?« zischelte ihn Odo wütend an.
»Niemand schlägt meine Schwester und überlebt es«, verkündete Henry mit der Entschiedenheit, wie sie nur einem heranwachsenden Marquis zu Gebote steht.
»Der Baron hat sie geschlagen, und dafür soll er sterben«, stimmte Hew dem Jungen zu. »Ich hab es auch gesehen.«
»Bin ich denn blind?« fuhr Odo ihn an und langte um den jungen Marquis herum, um seinem Bruder einen Klaps zu versetzen. »Smythe wird dafür büßen, daß er Hand an unser kleines Mädchen gelegt hat, aber wir dürfen nichts übereilen. Sie muß zuerst in Sicherheit sein.«
»Wie bekommen wir sie da raus?« fragte Henry.
»Mylord, Ihr werdet bald ein Held sein«, erklärte ihm Odo. »Hew steigt auf meine Schultern, und Ihr klettert dann auf ihn und zieht Euch hoch aufs Dach und ...«
»Das ist unmöglich«, warf Henry ein. »Ich kann nicht so hoch langen.«
»Dann wird Hew dir einen Schubs geben. Wir fangen dich auf, wenn du das Gleichgewicht verlierst, nicht wahr, Bruder?«
Hew nickte.
»Binde das Seil um den Kamin, der dem Zimmer am nächsten ist. Mache den Knoten so fest es geht, bevor du dich zu ihrem Fenster abseilst«, wies Odo den Jungen an. »Wir holen sie aus dem Fenster. Und ohne daß der Baron auch nur das Geringste merkt, sind wir auf und davon.«
Henry blickte hinüber zu der Priorei und lächelte. »Ich bin dabei.«
»Wenn du drinnen bist, darfst du sie auf keinen Fall erschrecken«, fügte Odo hinzu.
»Sonst schreit sie«, warnte Hew ihn.
Inzwischen saß Keely in dem Sessel vor dem offenen Kamin. Die verbrannten Finger und ihr Kummer waren zuviel; Tränen flossen ihr über die Wangen, und ihr Magen revoltierte. Um sich wieder zu beruhigen, schloß Keely die Augen und versuchte, an etwas Schönes zu denken. An ihre geliebten Wälder im Frühlingskleid, die Geburt ihrer Tochter, das umwerfende Lächeln ihres Mannes.
Plötzlich packte sie jemand von hinten und hielt ihr den Mund zu. »Ich bin‘s, Henry«, flüsterte eine bekannte Stimme. Als sie sich entspannte, ließ Henry sie los.
Keely sprang hoch und wandte sich ihm zu. »Der Göttin sei Dank«, rief sie. »Aber wie bist du hierhergekommen?«
»Auf den Schwingen brüderlicher Liebe«, lachte er verschmitzt.
Keely hob eine Augenbraue.
»Odo und Hew warten unten«, erklärte ihr Henry und deutete auf das offene Fenster.
Keely folgte seinem Blick und sah das Seil, das vor dem Fenster baumelte. »Ist es sicher?«
»Sicherheit ist so eine Sache«, antwortete Henry. »Wäre es dir lieber, in Gesellschaft des Barons zu bleiben?«
»Nein.« Keely hob ihren Beutel auf und eilte ans Fenster.
Henry faßte nach dem Seil.
»Warte.« Keely legte den Kopf zu Seite wie ein Reh, das eine Gefahr wittert.
Draußen auf dem Gang näherten sich laute Schritte.
»Unters Bett«, flüsterte Keely und schloß die Läden, um das Seil zu verbergen.
Während ihr Bruder unter das Bett kroch, schlich Keely auf Zehenspitzen zu dem Sessel vor dem Feuer. Ihr Herz schlug wie wild, aber sie zwang sich, gelassen dreinzublikken. Als die Schlüssel klirrten und die Tür aufgesperrt wurde, mußte Keely an sich halten, daß sie sich nicht umdrehte und sich vergewisserte, ob Henry gut versteckt war. Sie gewann diese Schlacht, allerdings um den Preis ihrer mühsam aufgesetzten Gelassenheit. Sie zitterte, und ihr Magen revoltierte erneut.
Langsam ging die Tür auf. Der Baron kam zu ihr, eine Schüssel Wasser in Händen.
Willis setzte die Schüssel auf dem Tisch ab und befahl ihr: »Halte die Finger hinein.«
Keely tauchte ihre Hand in das Wasser. Allmählich ließ der pochende Schmerz nach. Unter langen Wimpern hervor warf sie einen Blick auf ihren Gefängniswärter.
Willis legte eine dicke Scheibe Käse auf ein Stück Brot und reichte es ihr. »Eßt dies, oder ich zwinge Euch dazu.«
Keely tat wie geheißen.
Der Baron nahm ihre Hand und untersuchte die Finger. »Haltet die Hand hoch«, befahl er ihr und begann, ihre Brandwunden mit den Leinenstreifen zu verbinden, die über seinem Unterarm hingen.
»Warum tut Ihr das?« fragte ihn Keely, als hoffe sie, seine Reue könne ihn retten. Schließlich stand der Mann an der Schwelle des Todes, und wenn er nicht bereute, würde er für seine Missetaten ewig in der Hölle schmoren.
»Ihr seid nichts wert, wenn Ihr krank werdet und sterbt«, erklärte ihr Willis kalt, bevor er das Zimmer verließ und die Tür hinter sich zusperrte.
Keely saß mucksmäuschenstill und lauschte den Schritten des Barons, der den Gang entlang ging. Als es sicher schien, sprang sie aus ihrem Sessel und lief zum Fenster.
Henry kroch unter dem Bett hervor. »Was ist mit deiner Hand los?« fragte er, den Blick auf ihren Verband geheftet.
»Ich habe mir die Finger verbrannt.«
»Wie ist das passiert?«
»Ich habe sie ins Feuer gehalten.«
»Aber warum?« Henry starrte sie entsetzt an.
Keely schwor sich, ihrem ritterlichen jungen Bruder niemals die Wahrheit zu verraten. Da ihr kein einleuchtender Grund einfiel, den sie hätte anführen können, nahm sie zu einer Gegenfrage Zuflucht.
»Ist das hier eine Plauderstunde?« schoß sie zurück. »Oder hattest du die Absicht, mich zu retten? Falls dies der Fall ist, sollten wir uns besser beeilen, denn der Baron kann jeden Augenblick zurückkommen.«
Henry warf ihr einen abschätzenden Blick zu, bevor er die Fensterläden öffnete. »Gib mir die Tasche«, bot er ihr an. »Ich trage sie.«
Keely reichte ihm die Tasche. Dann zögerte sie. Offensichtlich hatte sie entsetzliche Angst.
»Es ist genauso wie damals, als du von der Eibe des Grafen gesprungen bist«, versuchte Henry ihr Mut zu machen und gab ihr das Seil. »Halte das Seil fest und bleib mit den Füßen an der Mauer, damit du die Balance nicht verlierst. Schrei nicht, wenn du ausrutschst. Odo und Hew fangen dich auf.«
»Das ist leichter gesagt als getan«, entgegnete Keely.
Henry half ihr auf das Sims und hielt sie fest, bis sie in der richtigen Position war, um sich abzuseilen. Beinahe hätte er über das entsetzte Gesicht laut losgelacht, das sie machte, während sie sich langsam nach unten zu ihren mit offenen Armen wartenden Cousins tastete. Dann folgte er ihr.
»Ist alles in Ordnung, kleines Mädchen?« flüsterte Odo und nahm sie in die Arme.
Keely nickte und umarmte dann Hew und Henry.
So lautlos wie möglich verschwanden die vier in den Wald, der hinter der Priorei begann und ihnen Schutz vor neugierigen Blicken bot. Unter den Bäumen warteten drei Pferde auf sie.
»Keely kann bei mir mitreiten«, erklärte Hew.
»Nein, ich nehme das Mädchen mit«, ließ Odo seinen Bruder wissen.
»Keely ist meine Schwester«, erinnerte Henry sie.
»Sie ist nur deine Halbschwester«, wandte Hew ein, »doch unsere Vollcousine.«
Henry fiel die Kinnlade nach unten. Dieser walisische Riese war wirklich unglaublich dumm. Odo versetzte seinem Bruder einen Klaps auf den Hinterkopf.
Zu diesem Zeitpunkt konnte Keely nirgendwo mehr hinreiten. Ihre Schwangerschaft und die schmerzenden Finger machten eine schnelle Flucht unmöglich. Ihr Kopf drehte sich. Sie fiel auf die Knie, es würgte sie, während ihre Retter sich neben sie knieten, sie hielten und sie trösteten.
»Der Ritt nach London wird mein Baby umbringen«, erklärte Keely mit tränenfeuchten Augen. »Versteckt mich irgendwo, während ihr zurückreitet und den Namen meines Mannes von aller Schuld reinwascht.«
»Wir bringen dich nach Hause zu Rhys«, verkündete Odo.
»Mein Mann ...«
»... wird uns die Schuld geben, wenn dir auch nur das Geringste geschieht«, unterbrach sie Hew.
»Der Hohlkopf und ich reiten nach London, sobald du sicher in Wales bist«, versprach Odo.
»Wenn ich mit dir in Wales bleibe«, bot Henry an, »kann mich dein Bruder als Geisel nehmen, bis Königin Elisabeth Richard entläßt.« Das war das aufregendste Abenteuer in seinem jungen Leben. Zu seinen langweiligen Lehrern in Schloß Ludlow zurückzukehren, schreckte ihn mehr als Willis Smythe.
Keely nickte und wollte aufstehen, aber ihre Knie gaben unter ihr nach. Mit einem leisen Aufschrei wurde sie ohnmächtig.
Odo fing Keely auf, bevor sie zu Boden fiel, und hielt sie wie ein Baby in den Armen. »Sie reitet mit mir«, erklärte er.
»Werden sie und das Baby die Reise überleben?« fragte Henry.
Odo nickte. »Auf meinem Schoß sitzt sie weich gepolstert.«
»Die viele Aufregung kostete sie Kraft«, meinte Hew. »Wenn sie sich ausruht, geht es ihr schnell wieder besser.«
Die drei stiegen auf ihre Pferde und ritten nach Westen, nach Wales. Hew und Henry ritten links und rechts von Odo. Falls Straßenräuber sie überfielen, mußten sie es zuerst mit ihnen aufnehmen, bevor sie Keely etwas antun konnten.
»Sobald wir das Mädchen in Sicherheit wissen, machen wir hier halt auf unserem Weg nach London und töten den Baron dafür, daß er Hand an sie gelegt hat«, erklärte Odo seinem Bruder.
»Klingt vernünftig«, antwortete Hew.
»Bruder, du würdest nicht erkennen, was vernünftig ist, und wenn es dich in deinen Hintern bisse.«
»Natürlich nicht«, gab Hew zurück. »Da habe ich ja keine Augen.«
Henry biß sich auf die Unterlippe, um nicht laut loszuprusten. »Ich war noch nie in Wales.«
»Das ist, als kommst du in den Himmel«, erklärte ihm Hew.
Odo musterte den nicht sonderlich beeindruckten Marquis aus den Augenwinkeln. »Die hübschesten Mädchen diesseits des Paradieses leben in Wales«, führte er aus.
»Aye«, meinte Hew und zwinkerte seinem Bruder über den Kopf des Jungen hinweg zu. »Und diese Damen lieben nichts mehr als einen Helden.«
Im Geiste rieb Henry sich bereits die Hände und setzte sich in seinem Sattel zurecht. Die Vorfreude machte sich bereits bemerkbar.
»Wisch dir besser dein edles Kinn«, neckte Odo ihn.
»Aye, du sabberst bereits«, fügte Hew hinzu.
»Nicht nur am Kinn«, gestand Henry grinsend.
Worauf die zwei Lloyd-Hünen vor Lachen schier brüllten.
»Hier ist es.« Richard brachte sein Pferd zum Stehen und deutete auf den zweistöckigen Steinbau in der Ferne.
Der Graf, der Herzog und der Page der Königin hielten im Schutz der Wälder inne und sahen hinüber zur Smythe Priorei. Das Gebäude wirkte idyllisch, ein Sinnbild verarmten Adels. Die bereits tiefer stehende Sonne warf ihre Strahlen über die Fassade der Priorei, als zupften himmlische Engel an einer Harfe aus Licht. Eine heitere Frühlingsstimmung umgab sie, doch die drei auf dem Pferderücken spürten die unsichtbare Bedrohung, die in der Luft lag.
»Welch ein unschuldiges Bild«, bemerkte Herzog Robert.
»Aye, niemand käme auf den Gedanken, daß da drinnen der Teufel selbst haust«, fügte Roger hinzu.
Statt auf die Priorei zuzugaloppieren, wie es ihn drängte, bewegte Richard sein Pferd langsam vorwärts. Der Herzog von Ludlow und der Page der Königin folgten dicht hinter ihm. Sie hielten ihre Pferde an der Ostseite der Priorei neben der Hecke an, und stiegen ab.
Richard zog sein Rapier und führte sie um die Priorei herum zur Vorderseite.
»Warte draußen«, befahl er dem Jungen.
Roger wollte protestieren, aber angesichts des grimmig entschlossenen Ausdrucks in Richards Gesicht überlegte er es sich anders.
»Ich rufe, wenn ich deine Hilfe brauche«, fügte Richard hinzu, und um den Stolz des Jungen nicht zu sehr zu knicken: »Zieh deinen Degen und halte dich bereit.«
Roger nickte ernst. Das Vertrauen des Grafen war Balsam für seine Jungenseele.
Mit dem Rapier in der Hand trat Richard auf die Tür zu. Er hätte sie einfach öffnen können, doch da er wußte, daß der Junge ihn beobachtete, entschied er sich für eine aufsehenerregendere Vorgehensweise. Er hob den Fuß und trat die Tür ein.
»Wer ist da?« rief jemand.
Richard ging in die Richtung, aus der die Stimme des Barons gekommen war, Herzog Robert folgte ihm auf den Fersen. Beide Männer blieben vor dem Eingang zum Saal der Priorei stehen, der nicht allzu groß war.
Willis saß in einem Sessel vor dem Kamin. Er erhob sich überrascht, als die beiden eintraten.
»Richard, bist du es wirklich?« begrüßte Willis ihn und versuchte zu lächeln. »Wie gelang es dir, aus dem Tower zu fliehen?«
Seine Verachtung stand ihm ins Gesicht geschrieben, als Richard ihm tief in die Augen blickte und dann, so laut er konnte, schrie: »Keely!«
Kein Ton war zu hören.
»Ich bin alleine hier«, erklärte ihm Willis und blickte ihn halb verwirrt, halb belustigt an.
»Er könnte sie eingesperrt haben«, gab Herzog Robert zu bedenken. »Ich sehe in den Schlafzimmern nach.« Mit diesen Worten rannte der Herzog die Treppe hoch, wobei er jeweils zwei Stufen auf einmal nahm.
»Was soll das?« fragte Willis und ging auf den Grafen zu.
Richard hob warnend sein Rapier. »Bleib, wo du bist.«
Willis‘ Lächeln erstarb. Er blieb stehen und hob beschwichtigend die Hände.
»Sie ist nicht da«, rief Herzog Robert, als er wieder die Treppe herunterkam.
Richard musterte seinen ehemaligen Freund mit zusammengekniffenen Augen, aus denen kalte Mordlust sprach.
»Hat dich deine Frau verlassen?« fragte Willis ihn, als habe er von nichts eine Ahnung. »Du glaubst doch nicht etwa, sie und ich ...«
»Das Spiel ist aus«, unterbrach Richard ihn, und seine Stimme verriet, wie wütend er war. »Roger!«
Mit gezogenem Degen rannte der Page der Königin in die Priorei. Der Junge schien bereit, es mit dem Teufel selbst aufzunehmen.
»Erkennst du ihn?« fragte Richard, ohne den Baron auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen.
Willis starrte Roger mit unbewegter Miene an.
»Du hast Jane getötet und meinen Dolch neben ihrer Leiche liegen lassen«, erklärte Richard.
»Dann versuchtet Ihr, Morgana zu erwürgen«, fügte Herzog Robert hinzu.
»Doch sowohl die Lady als auch ich haben überlebt«, ließ Roger den Baron wissen. »Es ist Zeit, daß Ihr für Eure Verbrechen bezahlt.«
Wenn Blicke töten könnten, wäre Roger wohl auf der Stelle tot umgefallen. »Ich hätte mir die Zeit nehmen sollen, dich für immer zum Schweigen zu bringen«, fauchte Willis ihn an. »Du Bengel glaubst wohl, dich überall einmischen zu müssen.«
»Wo ist meine Frau?« beharrte Richard.
»Der verfluchte Waliser Trottel ist geflohen«, antwortete Willis verbittert. »Wenn ich verhaftet bin, dann gib mir noch fünf Minuten, um zu packen.«
Richard hob eine Augenbraue. »Ich bin nicht gekommen, um dich zu verhaften, Willis.«
Willis sah ihn verdutzt an und begann zu lächeln.
»Ich habe vor, dich zu töten«, erklärte ihm Richard.
Das Lächeln erstarb.
Richard warf dem Jungen ein Blick zu. »Roger, geh hinaus!«
»Damit ich den aufregenden Teil versäume?«
»Ich sagte, geh!«
Widerstrebend wandte Roger sich um und verließ den Saal. Damit die zwei mehr Platz für ihren Kampf hatten, wartete Herzog Robert vor dem Eingang zum Saal.
»Warum hast du das getan?« fragte Richard.
»Des Geldes wegen, natürlich.«
»Du gemeiner Hundesohn.«
»Für jemanden wie dich, dem es nie an etwas fehlte, ist es einfach«, entgegnete Willis in anklagendem Ton.
»Dir hat es auch nie an etwas gefehlt«, schoß Richard zurück. »Wo befindet sich Ludlows Heiratsurkunde?«
»Zerstört.«
»Lügner.«
»Dieses hinterhältige Biest, das du geheiratet hast, hielt die Urkunde mit der Hand ins Feuer, nur damit ich sie nicht retten konnte«, erklärte ihm Willis.
»Du meinst tatsächlich, ich nehme dir das ab? Daß meine Frau den Beweis für ihre eheliche Geburt vernichtet hat?«
»Es ist die Wahrheit. Und da dieses Dokument vernichtet ist, brauchen wir beide nicht gegenseitig unser Blut zu vergießen.«
»Da wären noch ein paar Kleinigkeiten, Entführung und Mord, die der Klärung bedürfen«, wandte Richard sarkastisch ein. »Habe ich dich nicht gewarnt, die Finger von meiner Frau zu lassen? Deine letzte Stunde hat geschlagen, Baron. Bete für deinen Seelenfrieden.«
»Willst du einen unbewaffneten Mann niederstechen?«
»Zieh dein Schwert, Baron.«
Richard und Willis standen einander ebenbürtig gegenüber. Sie griffen einander an und parierten die Angriffe, aber keinem gelang es, einen Vorteil zu erringen. Der Baron war kräftiger und schwerer, doch Richard besaß die Behendigkeit eines Raubtiers. Innerhalb weniger Minuten war der Saal in ein Trümmerfeld aus umgeworfenen Tischen und zerlegten Stühlen verwandelt.
Willis paßte einen Moment nicht auf und fiel unerwartet über einen am Boden liegenden Stuhl. Dabei entglitt ihm sein Schwert. Richard stieß seine Klinge nach vorne, der Baron rollte nach rechts, sprang auf die Füße und zog seinen Dolch.
Richard zog ebenfalls seinen Dolch und warf das Rapier zu seinem Schwiegervater.
»Interessantes Stück«, bemerkte Willis, als sie einander umkreisten.
»Es ist ein schottischer Dolch, ein Geschenk meines Schwagers«, erwiderte Richard kalt lächelnd.
»Durch einen Dolchstoß zu sterben, ist so intim«, bemerkte Willis. »Ein passendes Ende für eine Freundschaft.«
Im nächsten Augenblick sprang Willis auf Richard zu und zog ihm die Klinge über die Wange. Das erste Blut floß. Willis wich schnell zurück, um keinen Gegenstoß einzufangen.
Wieder und wieder gerieten Richard und Willis aneinander und trennten sich. Nur ihr gelegentliches Aufstöhnen und der metallische Klang der Dolche unterbrach die Stille im Saal.
Willis wollte mehr Blut sehen und begab sich in die Reichweite seines Freundes. Richard versuchte ihn zu treffen, doch er verfehlte ihn, worauf Willis sich rasch zurückzog.
Richard setzte ihm nach. Darauf hatte Willis nur gewartet. Er stellte ihm ein Bein, und Richard ging zu Boden. Einen Augenblick später war der Baron über ihm. Seine todbringende Klinge war nah an seiner Kehle, aber er schaffte es, den Baron am Handgelenk zu fassen und den Dolch in sicherem Abstand zu halten.
Richard kämpfte mit aller Kraft. Er schlug dem Baron mit dem Knie zwischen die Beine.
Willis stöhnte auf und fiel zurück. Richards Dolch blitzte auf, als er ihn in die Brust des Barons trieb. Behende rollte Richard nach links und sprang auf die Beine, um einen Gegenangriff abwehren zu können.
Willis Smythe war zu keinem Gegenangriff mehr fähig.
Richard kniete sich neben seinen toten Freund nieder und schloß ihm sanft die Augen.
»Gott sei deiner Seele gnädig«, flüsterte er mit erstickter Stimme.
Eine kräftige Hand legte sich auf seine Schulter.
Richard blickte mit tränenfeuchten Augen seinen Schwiegervater an und erklärte: »Ich liebte ihn einst wie einen Bruder.«
»Von einem Freund verraten zu werden, bricht einem stets das Herz«, antwortete Herzog Robert. »Nur die Zeit heilt diesen Schmerz.«
»Habt Ihr gehört, was er über diese Heiratsurkunde sagte?« fragte Richard und fuhr sich mit dem Ärmel über die Augen und die blutige Wange.
Herzog Robert nickte.
Langsam und erschöpft stand Richard auf und ließ den Blick durch den Saal schweifen. »Keely!« rief er. »Wo bist du?« Seine Stimme offenbarte seine tiefe Verzweiflung.
»Wir werden sie finden«, versprach der Herzog und legte ihm tröstend die Hand auf die Schulter.
»Mylords, Lady Keely floh nicht allein!« rief Roger, als er in den Saal stürzte. »Jemand half ihr bei der Flucht! Ein Seil baumelt an der Westseite der Priorei.«
»Ihre Cousins?« Richard warf seinem Schwiegervater einen fragenden Blick zu.
Der Herzog nickte. »Henry war wahrscheinlich auch dabei.«
»Dudley wird mich aufs Schafott schicken, wenn ich jetzt nach London zurückkehre«, erklärte Richard.
»Dann bleiben wir hier«, antwortete Herzog Robert. »Chessy wird uns benachrichtigen, sobald Keely nach Devereux House zurückkehrt.«
»Was machen wir nun?« fragte Roger, begierig, noch weitere Abenteuer zu erleben.
»Kannst du nähen?« fragte ihn Herzog Robert.
»Nähen?« rief Roger verwundert. »Nähen ist Frauenarbeit.«
»Ja, aber auf Schlachtfeldern gibt es keine Frauen, um die Männer zusammenzuflicken«, ließ ihn der Herzog wissen.
»Daran habe ich noch nie gedacht.«
Herzog Robert nickte weise. »Als erstes suchst du mir Nadel und Faden, damit ich Devereux‘ Wange zusammennähen kann. Danach beerdigen wir Baron Smythe.«
»Und dann?« fragte Roger in der Erwartung, nun etwas Aufregenderes zu hören.
»Dann kochen wir uns etwas zum Abendessen, Junge, und tun, was alle Krieger zwischen den Schlachten tun«, antwortete Richard.
»Was ist das?«
Richard zwinkerte ihm zu. »Wir warten.«