Fünftes Kapitel

Geplagt von Kummer und Sorgen warf Keely sich im Bett herum, bis sie in der Dämmerung aus dem unruhigen Schlaf erwachte, der sie schließlich doch noch übermannt hatte. Die herbstliche Kühle war in ihrem Zimmer bereits zu spüren, aber Keely kümmerte sich nicht darum. Sie zog es vor, in ihrer weißen Zeremonienrobe barfuß im Zimmer auf und ab zu gehen, statt das Feuer anzuschüren.

Die Regentropfen trommelten gegen das Fenster. Keelys Kopf pochte bald im selben Rhythmus. Die Sorge um Odo und Hew machte sie buchstäblich krank. Sie konnte nicht ständig mit dieser Gefahr leben, in der ihre Cousins schwebten.

Der Graf erinnerte sich, sie gesehen zu haben. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis ihm die Umstände einfielen.

Ehrlichkeit währt am längsten, dachte Keely. Der Graf hatte ihr erklärt, er wolle sie nie absichtlich verletzen. Odo und Hew in Tyburn hängen zu lassen, würde ihr zweifelsohne großen Kummer bereiten. Sollte sie dem Grafen alles gestehen und ihn bitten, Gnade vor Recht ergehen zu lassen? Doch wenn er ihre Cousins einsperren ließ? Wie sollte sie damit leben können? Es war alles ihre Schuld. Wären Odo und Hew nicht so um ihr Wohl besorgt gewesen, wären sie nicht darauf verfallen, einen Straßenraub zu begehen, und sie wären auch nicht nach England gereist.

Keely beschloß, die Große Mutter um Rat zu bitten. Sollte sie voraussehen, daß ein Geständnis zu einem guten Ausgang führte, würde sie augenblicklich mit dem Grafen sprechen.

Mit Hilfe ihre magischen Steine legte Keely einen Kreis im Zimmer, der jedoch nach Westen offen blieb. Anschließend betrat sie den Kreis durch die westliche Öffnung und verschloß sie mit dem letzten Stein, wobei sie die Worte sprach: »Störende Gedanken bleiben draußen.« Keely schloß den unsichtbaren Kreis mit ihrer goldenen Sichel und drehte sich dreimal im Uhrzeigersinn, bis sie wieder nach Westen blickte. Dann sank sie auf die Knie, schloß die Augen und konzentrierte sich, die Hand auf dem Drachenanhänger, auf ihren Atem.

»Die Alten sind hier, sie warten ab und sehen zu«, flüsterte sie. »Die Sterne sprechen durch die Steine, und das Licht scheint durch die dickste Eiche. Himmel und Erde sind ein Reich.«

Nach einer kurzen Pause, in der sie sich sammelte, hob Keely die Arme und flehte: »Geist, der mich auf meiner Reise geleitet, hilf mir, die Sprache der Bäume zu verstehen. Geist meiner Ahnen, hilf mir, die Sprache des Windes zu verstehen. Geist meines Stammes, hilf mir, die Sprache der Wolken zu verstehen. Schenkt meinem Ruf Gehör, ihr Geister. Öffnet mein Herz, damit ich über den Horizont hinaussehe.«

Und dann geschah es. Vor ihrem geistigen Auge tauchten Bilder auf ...

Ein warmes Zimmer, gefüllt mit Büchern. Ein noch wärmeres Lächeln auf dem Gesicht des Grafen. Das allerwärmste Gefühl von Sicherheit ... starke, tröstende Arme. Arme, die sie willkommen hießen. Eine beschützende Umarmung ...

Das Bild verblaßte, und die Wirklichkeit gewann die Oberhand. Sie befand sich wieder in ihrem Schlafzimmer.

Keely öffnete die Augen, berührte ihren Anhänger und betete: »Möge die Liebe meiner Mutter, die in diesem Drachen lebt, mich und die meinen mit aller Macht beschützen. Ich danke der Göttin, daß sie mich an ihrer Weisheit teilhaben ließ.«

Nun schritt Keely zum westlichen Kreisrund, hob den magischen Stein und brach damit den Zauberkreis. Sie zog ihre weiße Robe aus, legte sie ordentlich zusammen und kroch zurück ins Bett, wo sie die Decke bis ans Kinn zog.

Der Weg war nun klar. Sie würde den Grafen noch heute besuchen und um Gnade für ihre Cousins und sich selbst bitten. Irgendwie würde sie ihn schon besänftigen können.

Um elf Uhr, eine Stunde vor Mittag, saß Richard am Schreibtisch in seinem verschwenderisch ausgestatteten Arbeitszimmer in Devereux House und zerbrach sich den Kopf über Willis Smythe. Sein Schädel dröhnte, die durchzechte Nacht und ein Vormittag, den er mit der Durchsicht unerfreulicher Finanzunterlagen verbracht hatte, waren zuviel gewesen. Der Gedanke an die Unterlagen, die er der Königin am nächsten Tag vorlegen sollte, machte ihn vollkommen verrückt.

»Warum verschwendest du dein Geld?« fragte Richard gereizt. »Mit Huren und Spielen verdient man nichts. Ich gebe dir einen Anteil von zwei Prozent an meiner Levantinischen Handelsgesellschaft, aber du bekommst nur den Gewinn von einem Prozent ausbezahlt. Den anderen Teil investiere ich für dich, damit er nutzbringend angelegt ist.«

Wie großzügig, dachte Smythe höhnisch, während er es sich in seinem Sessel bequem machte und die Beine ausstreckte. Er nahm einen kräftigen Schluck von seinem Bier und bemerkte: »Mein Vater und mein Bruder sparten ständig. Beide starben, bevor sie die Früchte ihrer Arbeit genießen konnten.«

Richard fiel Burghleys Warnung in Schloß Kenilworth ein: »Nicht vertrauenswürdig ... in den Tod seines Vaters und Bruders verwickelt ... das Erbe durchgebracht.« Richard schüttelte den Kopf. Willis und er waren zusammen aufgewachsen, sie standen sich so nahe wie Brüder. Solange ihm nicht das Gegenteil bewiesen wurde, weigerte er sich, diesen Verleumdungen Glauben zu schenken.

»Soll ich mich von früh bis spät abplagen, ohne mir das geringste Vergnügen zu gönnen?« fragte Willis.

Richard zog eine Augenbraue hoch. »Das Vergnügen ist deine Leidenschaft, Will. Bist du so entschlossen, deinem Sohn nichts zu hinterlassen?«

»Ich habe keinen Sohn.«

»Worauf ich hinauswill: eines Tages wirst du einen Sohn haben.«

»Kümmere dich lieber darum, deinen eigenen Sohn zu bekommen«, schoß Willis zurück. »Ohne einen Erben kommst du nie nach Irland. Übrigens, wie steht es mit deiner Werbung um Morgana Talbot?«

»Nachdem ich eine Woche in ihrer Gesellschaft in Ludlow verbracht habe, ist mir klargeworden, daß es ein zu großes Opfer bedeuten würde, Morgana zu heiraten«, erwiderte Richard. »Außer natürlich, ich fände Freude daran, ständig Kummer zu haben.«

»Eine reiche Erbin, das brächte mich weiter«, warf Willis ein. »Hättest du etwas dagegen, wenn ich mein Glück bei ihr versuchte?«

»Lege dir keine Zurückhaltung auf«, antwortete Richard. »Die andere Tochter des Herzogs interessiert mich mehr.«

»Talbot hat nur eine Tochter.«

»Seit ein paar Tagen nennt Seine Gnaden zwei Töchter sein eigen.«

»Wie kann das sein?«

»Erinnerst du dich an die zwei räuberischen Waliser im Gasthof Zum Hahn?« Das Nicken seines Gegenübers nahm Richard als Aufforderung fortzufahren. »Das Mädchen ist in Wirklichkeit eine Dame, nämlich die uneheliche Tochter, die einer Verbindung des Herzogs mit einer walisischen Lady entsprang. Er hat sie anerkannt und ich gedenke, ihr den Hof zu machen.«

»Einem Bastard?« rief Willis und wieherte höhnisch. »Man stelle sich vor, der reichste Graf Englands macht einem Bastard den Hof! Elisabeth wird dieser Heirat niemals zustimmen. Warum machst du sie nicht zu deiner Geliebten? Besser noch, machen wir sie doch beide zu unserer Geliebten! Denk nur an die netten Stunden ...«

Jählings sprang Richard auf, worauf Willis unwillkürlich innehielt. »Mit Elisabeth komme ich zurecht«, erklärte Richard. »Wenn du nichts dagegen einzuwenden hast, Willis, ich habe bis morgen früh einen ganzen Berg Unterlagen für die Königin durchzuarbeiten. Ich kann keine Frauen mehr vernaschen, wenn ich meinen Kopf verliere – wenn du verstehst, was ich meine.«

Ohne sich weiter um die Verärgerung seines Freundes zu kümmern, erhob Willis sich aus dem Sessel. In dem Moment, als er Richard die Hand schütteln wollte, klopfte es an die Tür.

Jennings, der Majordomus des Grafen, trat ein. »Mylord, Lady Glendower wünscht Euch zu sprechen. Wollt Ihr sie sehen?«

Ein überraschtes Lächeln huschte über das Gesicht des Grafen. »Bittet Lady Glendower herein.«

»Du hast mehr Glück als der Teufel«, bemerkte Willis.

»Glück und Erfolg haben nichts miteinander zu tun«, entgegnete ihm Richard.

In diesem Augenblick betrat Keely das Arbeitszimmer. Sie trug ein Kleid aus rosa Kaschmir, das den frischen Farbton ihrer Wangen unterstrich. Ein passender Schal bedeckte ihre wesentlich aufregenderen Reize. Verführerisch, und doch einfach.

»Willkommen, Mylady«, begrüßte Richard sie. Die beiden Männer gingen ihr entgegen.

Keely lächelte so freundlich sie konnte und warf einen Seitenblick auf Willis Smythe. »Es tut mir leid, Euch zu stören«, entschuldigte sie sich nervös. »Ich kann an einem anderen Tag wiederkommen.«

»Lady Glendower, darf ich Euch Baron Willis Smythe vorstellen«, fiel Richard ihr ins Wort. »Will wollte gerade gehen.«

Der Baron lächelte ihr zu, doch bei diesem Lächeln lief Keely ein kalter Schauder den Rücken hinunter. Als er sich über ihre Hand beugte, wäre sie beinahe unwillkürlich zurückgezuckt. Ach, warum hatte sie diese düstere Gefahr nicht vorausgesehen?

Smythe wandte sich Richard zu. »Wir sehen uns bei Hofe.« Mit diesen Worten verließ er Richards Arbeitszimmer.

Keely hörte, wie die Tür hinter ihr ins Schloß fiel. Sie blickte sich um und bewunderte das Interieur.

Es hatte eine ungemein männliche Ausstrahlung. An einer Seite stand, nahe beim Fenster, ein wunderbar gearbeiteter Schreibtisch aus schwerem Eichenholz. Zwei ganze Wände waren bis zur Decke von Bücherreihen bedeckt, und an der vierten Wand befand sich ein großer Kamin, in dem ein gemütliches Feuer prasselte. Vor dem offenen Feuer standen zwei bequem aussehende Sessel.

Unschlüssig blickte Keely zu Richard. Der in elegantes Schwarz gekleidete Graf war die verkörperte lässige Eleganz, wie er sie mit seinen entwaffnend smaragdgrünen Augen musterte. Zusammen mit dem schwarzen Seidenhemd verliehen die enganliegenden Reithosen und Stiefel ihm ein recht gefährliches Aussehen. Nur die feuerroten Haare und die smaragdgrünen Augen hoben sich farbig ab.

Bei den heiligen Steinen! dachte Keely und senkte den Blick. Noch nie hatte sie einen so großartigen Mann gesehen. War es ein Fehler gewesen, hierherzukommen? Nur schade, daß sie auf seine Gnade angewiesen war und seine Arroganz nicht ertragen konnte. Davon schien er mehr als genug zu haben.

Guter Gott! dachte Richard, als er sie mit seinen Augen verschlang. Noch nie hatte er ein so anbetungswürdiges Wesen gesehen. Obwohl sie mittellos war, besaß sie das Auftreten einer Gräfin. Ob Seine Gnaden wußte, daß sie hier war? Richard bezweifelte es.

Keiner von ihnen sagte etwas. Seine Ausstrahlung verwirrte Keely so sehr, daß sie es kaum wagte, den Blick zu heben. Sie wünschte sich sehnlichst, er möge endlich das Schweigen durchbrechen.

Schließlich holte Keely tief Luft und lächelte schüchtern die Brust des Grafen an, worauf der Graf sich seinerseits zu einem Lächeln bemüßigt fühlte. Den Kopf leicht zurückgebeugt, sah sie zu ihm auf. Mit seinen sechs Fuß und zwei Zoll war der Graf mehr als zwei Kopf größer als sie.

»Warum seid Ihr hier?« begrüßte Richard sie.

»Ich ... es handelt sich um eine wichtige Angelegenheit, die wir besprechen sollten, Mylord.«

Richard hob eine Augenbraue. »Mein Lord?« neckte er sie. »Ich dachte, ich sei nur irgendein Lord.«

Peinlich berührt senkte Keely den Blick und fixierte wieder seine Brust. »Ihr habt bereits meine Entschuldigung für dieses ungebührliche Verhalten angenommen.«

»Das tat ich«, pflichtete Richard ihr bei. Sein Blick glitt zum Schreibtisch, wo die Arbeit auf ihn wartete. Er mußte die Berichte für die Königin fertigmachen, und wenn er darauf bestand, daß die junge Dame solange wartete, konnte er ihre Gesellschaft noch länger genießen.

»Unglücklicherweise habt Ihr für Euren Besuch einen ungünstigen Zeitpunkt gewählt«, erklärte ihr Richard. »Es ist mir auferlegt, die Berichte dort auf meinem Schreibtisch zu vollenden. Die Königin erwartet sie morgen früh. Würde es Euch etwas ausmachen zu warten und später mit mir das Abendessen einzunehmen?«

»Ganz in Gegenteil«, nahm Keely das Angebot dankend an. Sie war froh über die Gnadenfrist. Ein englischer Graf mit vollem Bauch sollte entgegenkommender sein.

»Lest Ihr?« fragte Richard sie und deutete auf die Bücher an der Wand.

Mit leicht erhobenem Kinn antwortete Keely: »Wir Waliser besitzen so manches Talent.«

Lächelnd lud Richard sie ein, vor dem Feuer Platz zu nehmen. »Ich bringe Euch sofort einige Bücher«, fügte er hinzu.

Während Keely es sich in einem Sessel bequem machte, wählte Richard mehrere Bücher über verschiedene Themen aus. Er stapelte sie auf dem Boden und reichte ihr das oberste. »Das ist eines meiner Lieblingsbücher, es heißt Das Leben der Heiligen.«

»Ihr wollt meine Moral stärken?« meinte Keely schnippisch und griff nach dem Buch.

Keely legte das Buch in ihren Schoß und schlug es auf. Bei den heiligen Steinen! dachte sie bestürzt. Das Leben der Heiligen war in einer Fremdsprache, und sie konnte kaum englisch lesen. War das seine Art von Humor?

Nicht gerade belustigt musterte Keely den Grafen aus den Augenwinkeln. Er schien sie ganz vergessen zu haben. Falls er auf ihre Kosten einen Witz machen wollte, würde sie ihn enttäuschen. Keely beschloß, so zu tun, als lese sie.

Sie versuchte, dem Kauderwelsch auf ihrem Schoß ihre volle Aufmerksamkeit zu widmen, blickte jedoch hin und wieder hinüber zum Grafen. Aus ihren gelegentlichen Blicken wurde bewunderndes Staunen, als mache sie eine unbewußte Bestandsaufnahme seiner Vorzüge – des feuerroten Haars, der Smaragdaugen, der feingemeißelten Gesichtszüge.

Keely seufzte. Der Graf war ein wahrgewordener Mädchentraum und ungleich interessanter als Das Leben der Heiligen.

Sie legte den Kopf gegen die Rückenlehne ihres Sessels und schloß die Augen. Die Angst um ihre Cousins forderte ihren Tribut. Die Wärme und das Gefühl der Sicherheit übermannten sie, und sie schlief ein.

»Verflucht noch mal«, brummte Richard und warf verärgert die Feder weg. Soeben war er dieselbe Zahlenkolonne zum zehnten Mal durchgegangen und hatte zum zehnten Mal ein anderes Ergebnis erhalten. Er blickte hinüber zu seinem Gast. Das Mädchen war schuld; seine Gegenwart lenkte ihn zu sehr ab.

Da ohnehin nur eine Pause helfen konnte, schenkte Richard sich ein Glas Whisky ein – ein Geschenk seines schottischen Schwagers. Er nippte daran und verzog das Gesicht. Das Zeug schien scharf zu sein. Es brannte so höllisch, daß er husten mußte. Wie Iain dieses Gebräu schätzen konnte, war ihm ein Rätsel.

Mit dem Becher in der Hand stand Richard auf und ging zu dem Sessel am anderen Ende des Zimmers, in dem sein Gast schlief. Lady Keely war ein bezauberndes Geheimnis. Und hinter dieses Geheimnis zu kommen, war eine Herausforderung, der er nicht widerstehen konnte.

Richard versuchte sich Morgana Talbot vorzustellen, wie sie in diesen Sessel gekuschelt schlief. Doch es gelang ihm nicht. Er sah immer nur Keely mit ihrem glänzenden ebenholzschwarzen Haar, den langen, dichten, dunklen Wimpern und dem makellosen Schneewittchengesicht. O Gott, wie er sie begehrte!

Richards Blick schweifte zurück zum Schreibtisch. Die Pflicht rief – nein, schrie – nach seiner Aufmerksamkeit. Bis morgen früh brauchte er die Endsumme für den Bericht, den die Königin verlangt hatte.

Als er das Buch hochhob, das Keely in den Schoß gesunken war, mußte Richard sich zusammennehmen, um nicht laut herauszuplatzen. Sein Gast hatte Das Leben der Heiligen verkehrt herum gelesen. Offensichtlich gehörte Latein nicht zu ihren Talenten.

Widerwillig kehrte Richard an seinen Schreibtisch zu den widerborstigen Zahlenreihen zurück. Sobald sein Blick auf Keely fiel, mußte er wieder grinsen. Man stelle sich nur vor, die Heiligen und ihr Leben auf den Kopf gestellt!

Als es Zeit zum Abendessen wurde, klopfte Jennings und trat ein. Bevor er ein Wort sagen konnte, bedeutete Richard ihm, leise zu sein, um Keely nicht aufzuwecken.

»Soll ich mit dem Abendessen warten, Mylord?« flüsterte Jennings.

»Laß mir noch ein paar Minuten Zeit, um sie aufzuwecken«, antwortete Richard. »Deckt den Tisch hier.«

Jennings nickte und verschwand wieder.

Richard beugte sich über Keely und flüsterte ihr ins Ohr: »Es ist Zeit aufzuwachen, Mylady.« Als sie schließlich die Augen aufschlug, hatte Richard das Gefühl, sich in der herrlichen veilchenblauen Tiefe dieser Augen zu verlieren. Wie ein edler, schwerer Wein betörte ihre Schönheit seine Sinne.

»Das Abendessen wird sogleich serviert«, erklärte er ihr und versuchte, soviel wie möglich von ihrem zarten Duft in sich aufzunehmen. »Ich hoffe, Ihr seid so hungrig, wie Ihr müde wart.«

Keely stieg die Röte ins Gesicht. Es war ihr unangenehm, daß sie dabei ertappt worden war, eingeschlafen zu sein. Wie konnte ihr das im Haus dieses Mannes passieren? Noch dazu in seiner Gegenwart! Verfügte er über magische Kräfte, die sie in ihren Visionen nicht gesehen hatte?

»Ihr habt noch etwas Sand in den Augen«, bemerkte Richard.

»Wir müssen darüber sprechen ...«

»Nach dem Essen.«

Ganz der vollendete Höfling, der er war, begleitete Richard seinen Gast zu dem Tisch, der für zwei gedeckt war, und rückte Keely den Stuhl zurecht. Während er sie über die Tafel hinweg beobachtete, stellte er fest, daß sie zu den seltenen Frauen gehörte, deren Schönheit keiner Nachhilfe bedurfte. Unabhängig von den jeweiligen Umständen, war sie stets vollkommen.

In der Mitte des Tisches stand ein Blumenstrauß mit Schleierkraut, einer einzelnen roten Rose und blauvioletten Blumen, die Keely nicht kannte.

»Das ist die letzte Rose dieses Sommers«, bemerkte Richard, als er sah, wohin ihr Blick fiel.

»Ich liebe Rosen«, erklärte Keely ihm. »Ich hatte einmal eine Katze, die mochte sie am liebsten zusammen mit Schleierkraut.«

»Der Duft zog sie an.«

Keely lachte schelmisch. »Ich glaube eher, es war der Geschmack. Percy fand sie unwiderstehlich. Er fraß sie auf.«

Richard lachte und sein Blick wurde wärmer.

Keely berührte eine der blauvioletten Blüten. »Wie heißen diese Blumen?«

»Nigella damascena.«

Keely sah in fragend an.

»Hier sind sie unter dem Namen Jungfer im Grünen bekannt.«

»Was für ein schöner Name«, seufzte sie. »Ich liebe Blumen und Bäume.«

»Verglichen mit Eurer Anmut verblaßt die Schönheit dieser Blume, Mylady.«

Keely wurde tiefrot. Noch kein Mann hatte so mit ihr gesprochen.

Sie linste schüchtern unter gesenkten Wimpern hervor und fühlte sich als der unwissende Waliser Trottel, für den, davon war sie überzeugt, er sie hielt. Wie konnte sie es nur wagen, gegenüber einem Edelmann vom Hofe Königin Elisabeths zu sitzen, einem Mann von Welt? Und dann dachte sie an Odo und Hew. Der Galgen von Tyburn. Das hielt sie davon ab, sich sofort aus dem Staub zu machen.

Der Tisch war voll der herrlichsten Köstlichkeiten. Da waren Austern mit grüner Soße, dünne gegrillte Schinkenscheiben, Erbsen mit jungen Zwiebeln und Fruchtrissolen – Trockenobst und Nüsse in Eierkuchenteig herausgebraten. Neben ihren Tellern standen wunderschöne Weinkelche.

»Ist das alles, Mylord?« erkundigte sich Jennings.

Richard blickte zu seinem Gast und hob fragend die Augenbrauen.

»Ich ... ich hätte lieber ein Glas Milch als Wein«, gestand Keely.

»Bring der Dame ein Glas Milch«, befahl Richard und warf den anderen Dienern einen Blick zu, daß sie umgehend aus dem Zimmer huschten. »Gewöhnlich speise ich im Saal, aber ich dachte, es wäre Euch hier angenehmer, wo wir für uns sind.«

Keely blickte durch ihre dichten Wimpern hindurch hoch zu ihm. Ihre äußere Ruhe trog, ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Wie verhielt sich eine verarmte walisische Prinzessin einem der wohlhabendsten englischen Grafen gegenüber? Sie hatten im Grunde genommen nichts gemein.

Keely hob das Glas Milch und trank einen Schluck. Als sie das Glas absetzte, sah sie aus wie ein junges Mädchen mit einem winzigen weißen Schnurrbart. Sie war jedoch kein Kind, wie die sinnlichen veilchenblauen Augen unter den dichten, dunklen Wimpern deutlich machten.

Richard war wie hypnotisiert; er riß sich los von diesen unglaublichen Augen, doch sein Blick blieb an ihren einladenden Lippen hängen. Mit einemmal spürte er das heftige Verlangen, ihr die Milch von der Oberlippe zu lecken. Und anschließend ...

Keely fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, und der Milchbart war verschwunden. So unschuldig diese Geste gewesen war, so verführerisch war sie auch.

Richard schloß die Augen, um der Versuchung Herr zu werden, und unterdrückte ein Stöhnen. Es fiel ihm sehr schwer, nicht die Gewalt über sich zu verlieren.

»Kostet den Schinken«, befahl Richard. Der strenge Ton sollte seine Begierde maskieren.

Keely schüttelte den Kopf.

»Ihr müßt essen«, beharrte er. »Eine Sommerbrise genügt, um Euch umzuwehen.«

»Schweinefleisch mag ich nicht«, erklärte Keely ihm. »Ich rühre es nie an.«

Richard, der bisher alles, was man ihm vorsetzte, gegessen – und zwar gerne gegessen – hatte, fehlte für diese merkwürdige Abneigung jegliches Verständnis. Er hob eine Scheibe Schinken hoch und versuchte, sie ihr schmackhaft zu machen. »Nur ein bißchen.«

»Bitte, ich kann nicht.«

»Nennt mir einen guten Grund.«

»Ich kann Schweinefleisch nicht ausstehen.« Keely blickte ihm direkt in die Augen. »Und Euch ginge es genauso, wenn Ihr von einem wilden Eber getötet worden wärt.«

Richard starrte sie verdutzt an. Was, zum Teufel, redete sie da?

»Ich wurde einmal von einem Wildschwein getötet«, versuchte Keely ihm die Sache zu erklären. »In einem anderen Leben natürlich. Und deshalb ...« Sie hielt inne, erschrokken darüber, was sie soeben von sich preisgegeben hatte.

»Ein anderes Leben?« wiederholte Richard.

»Ich habe bereits viele Leben gelebt.« Wieder huschte dieses vieldeutige Lächeln über Keelys Gesicht. Sie streckte die Hand aus, um seine Hand zu berühren. »Und ich glaube, Ihr habt auch schon einmal früher gelebt.«

Zuerst wollte Richard die Hand wegziehen und ihr erklären, sie sei verrückt.

Er konnte diesen Impuls gerade noch unterdrücken. Schwieriger war es, den nächsten Impuls zu unterdrücken: ihr lauthals ins Gesicht zu lachen.

Der dritte Impuls, dem er nachgab, war, ihre Eigenwilligkeit zu seinem Vorteil zu nutzen. Er setzte sein umwerfendes Lächeln auf und legte seine Hand auf die ihre, um ihr mit vor Leidenschaft bebender Stimme zu erklären: »Ich habe das Gefühl, Euch schon sehr, sehr lange zu kennen.«

Keely senkte den Blick. Ihre Wangen glühten heftiger als die letzte Rose des Sommers inmitten der Jungfern im Grünen.

»Kann ich bitte meine Hand zurückhaben?« flüsterte sie außer sich.

»Aber sicher.« Jetzt, da er sich wieder Herr der Lage fühlte, schmunzelte Richard innerlich. Ihre Schüchternheit sah er als Zeichen für ihre Tugend, und das gefiel ihm. Er kannte keine Frau, die so war wie sie. Bald würde er das Geheimnis, das sie umgab, entschlüsselt haben und alles über sie wissen.

Nach dem Essen führte er Keely zu einem der Sessel vor dem Feuer und nahm in dem Sessel gegenüber Platz. Er streckte die langen Beine aus und blickte ihr in die Augen.

»Hat Euch Das Leben der Heiligen gefallen?« fragte er sie mit vor Vergnügen funkelnden Augen.

»Um die Wahrheit zu sagen, ich fand ihr Leben zu erschütternd, um es zu lesen«, antwortete Keely, die nicht wollte, daß er ihr Fragen über ein Buch stellte, das sie nicht lesen konnte.

»Tatsächlich?« Richard hob die Augenbrauen.

»Märtyrer faszinieren mich nicht«, führte sie aus. »Sinnloses Foltern und unnötige Leiden verabscheue ich.«

Richard nickte und blickte ins Feuer, als sei er in Gedanken versunken. Aus den Augenwinkeln beobachtete er seinen Gast und sah, wie Keely mit den Füßen zappelte, als fühle sie sich nicht wohl in ihrer Haut.

»Was ist mit Euren Füßen?« fragte er sie.

»Ohne Strümpfe drücken die Stiefel.«

»Um Himmels willen.« Richard stand auf und ging zu ihr. Keely zuckte zusammen, als Richard sich vor sie hinkniete und ihr die Stiefel auszog. Als er ihr den rechten Fuß massierte, verlor sie vollends die Fassung. »Ihr hättet die Strümpfe nicht ausziehen dürfen«, schimpfte er sie, ohne zu ihr aufzublicken.

»Ich ... ich konnte sie nicht finden«, gestand Keely leise. »Ich war in Eile und dachte nicht, daß ich so lange hierbleiben würde.«

Als Richard begann, ihren linken Fuß zu massieren, blickte er ihr in die Augen und neckte sie: »Entspannt Euch. Ich beiße Euch schon nicht die Zehen ab.«

»Das ist meine geringste Sorge«, mußte Keely wider Willen lachen.

Wieder ernst, fragte Richard: »Erzählt mir Eure Sorgen, Teuerste.«

Der Zeitpunkt für ihr Geständnis war gekommen.

»Es waren Odo und Hew, die Euch in Shropshire überfallen haben«, platzte Keely heraus.

»Ich weiß«, lächelte Richard voller Bewunderung für ihre Ehrlichkeit.

Keely war so aufgeregt, daß sie nicht hörte, was er sagte, und sein Lächeln nicht sah. Hastig sprudelte sie die Entschuldigung für ihre Cousins heraus. »Der Überfall war ein dummer Zufall. Ihr wart zur falschen Zeit am falschen Ort und habt Euch so ablehnend verhalten. Wenn Ihr nur etwas entgegenkommender gewesen wärt ... Odo und Hew waren besorgt wegen mir. Schließlich haben sie Euch den Talisman gelassen, den Karneol, damit er Euch beschützt. Es ist nichts Schlimmes geschehen ... also ... Was habt Ihr gesagt?«

Wäre Straßenräuberei kein so schweres Verbrechen gewesen, hätte Richard über ihren überraschten Gesichtsausdruck gelacht. »Ich sagte, ich weiß, daß Odo und Hew mich überfallen haben.«

»Wie könnt Ihr das wissen?« rief Keely.

»Eure Cousins sind unfähige Hohlköpfe. Zum einen waren sie nicht maskiert, und dann verkauften sie noch mein Pferd an meinen eigenen Stallmeister.«

»Warum habt Ihr sie nicht festnehmen lassen?« fragte Keely mißtrauisch.

»Ist es das, was Ihr wollt?«

»Nein!«

»Ursprünglich wollte ich sie hängen sehen«, gestand Richard. »Aber dann sah ich Euch mit den beiden im Gasthof.«

»Ich verstehe nicht.«

Richard beugte sich zu ihr, sein faszinierendes Gesicht war nur noch eine Handbreit von ihrem entfernt. »Ich würde nie etwas tun, was dich verletzen könnte«, flüsterte er heiser.

Sanft nahm er sie in die Arme. Gebannt von seinem Blick, konnte Keely dem ungewohnten und unwiderstehlichen Leuchten seiner Smaragdaugen nichts entgegensetzen.

Einen kurzen Augenblick war Richards Gesicht ganz nah, dann glitt seine kräftige Hand zu ihrem Hinterkopf und hielt sie fest. Ihre Lippen berührten einander in einem Kuß.

Als Keely sich in seinen Armen entspannte, wurde Richards Kuß immer verlangender, glühender, raubte ihr schier den Atem. Seine Zunge öffnete mit sanfter Überzeugungskraft ihre Lippen und erforschte ihren süßen Mund.

Und dann war es vorüber.

Richard zog sich zurück und blickte ihr in die verwirrten Augen. Er streichelte sanft die seidene Wange, liebkoste mit dem Daumen ihre Lippen und flüsterte: »Es ist schon zu spät, du mußt nach Hause. Deine Schönheit könnte die Moral eines Heiligen in Wanken bringen. Und wegen deiner Cousins mach dir keine Sorgen. Ihr Geheimnis ist gut bei mir aufgehoben.«

Wieder errötete Keely. Jetzt, da er sie geküßt und sie diesen Kuß zugelassen hatte, wie sollte sie ihm da je wieder in die Augen sehen können? Der Graf schien sich deshalb keine Gedanken zu machen, ganz locker schien er darüber hinwegzugehen, was für sie ein entscheidender Meilenstein ihres Lebens war: ihr erster Kuß.

Richard bückte sich nach ihren Stiefeln, um ihr zu helfen. Doch Keely war schneller. Mit den Worten: »Ich werde sie tragen« schnappte sie ihm die Stiefel weg, bevor er sie zu fassen bekam.

Richard stand auf und zog eine Augenbraue in die Höhe. »Du willst barfuß gehen?«

»Ich spüre Mutter Erde so gerne unter meinen Füßen.«

Richard wunderte sich, daß sie sich noch immer zu genieren schien. Es sei denn ... »Ich begleite dich nach Hause«, erklärte er.

»Das ist nicht nötig«, lehnte sie ab. »Ich habe bereits genug von Eurer Zeit vergeudet, Mylord.«

»Die Zeit, die ich mit dir verbringe, ist nicht vergeudet«, widersprach Richard ihr galant. »Im Gegenteil, für mich hast du diesen Tag zum Strahlen gebracht. Und ich bin ein Lord. Erinnerst du dich?«

So verlegen sie war, nun mußte Keely lächeln. »Ich danke Euch für Euer Verständnis.« Barfuß ging sie zur Tür, doch bevor sie auf den Gang hinaus verschwand, hielt er sie zurück.

»Keely?«

Sie drehte sich um. »Ja?«

Richard lief zu ihr und sagte nur: »Danke.«

Verwirrt sah Keely ihn an. »Wofür, mein Mylord?«

Richard hob sanft ihr Kinn und blickte in die erstaunlichsten Augen, die er je gesehen hatte. »Dafür, daß du mir deinen ersten Kuß geschenkt hast.«

Keely hatte das Gefühl, vor Scham im Boden versinken zu müssen. »Wie könnt Ihr das wissen?« stöhnte sie. Dann wurde es ihr klar. Sie konnte nicht küssen. Und was alles noch schlimmer machte, eine tugendhafte Dame konnte Küssen schlecht üben.

»Du bist unglaublich süß«, versicherte Richard ihr.

»Ihr erkanntet es an meinem Geschmack?« rief sie erleichtert.

Richard kämpfte mit sich, um nicht laut herauszuplatzen. Er gab ihr noch schnell einen Kuß und ließ sie gehen.

Statt an seinen Schreibtisch zurückzukehren, schlenderte Richard zum Fenster und sah zu, wie sie über den Rasen hinüber zum Talbot House lief. Er hatte geahnt, daß sie großartig war. Keely Glendower war ein verführerischer Engel, eine der wenigen Frauen, die sich durch Mut und Anstand auszeichneten. Mehr als würdig, eine Gräfin zu werden. Trotz ihrer illegitimen Herkunft besaß sie all die Eigenschaften, die er sich für seine Ehefrau immer gewünscht hatte. Und auch die verwandtschaftliche Verbindung mit Talbot und die Reise nach Irland kamen ihm sehr gelegen.

Ein munteres Lied auf den Lippen, kehrte Richard an seinen Schreibtisch zurück. Je früher er seine Arbeit beendete und der Königin den Bericht vorlegte, desto früher konnte er um Keelys Hand anhalten. Daß die Dame kein Interesse an einer Ehe mit ihm haben könnte, kam ihm nicht in den Sinn.