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Die Eruption verlieh den Marmorsäulen eine rosa Tönung und warf genügend Licht, damit Jane und Orhun das Hauptportal zwischen ihnen finden und feststellen konnten, dass es verschlossen war. Hinter der vierten Säule jedoch entdeckten sie um die Ecke eine Seitentür, die offen war.

Orhun griff unter seine Jacke und ließ den Verschluss des Pistolenhalfters aufspringen.

In der Kirche warteten sie, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Der Innenraum war nicht allzu groß, eher eine Kapelle als eine Kirche, und in der Nähe des Altars drang Licht aus dem Boden. Es gab keine Sitzbänke oder Statuen, und hier und dort lagen Stücke des Putzes, die von Bogen und Kapitellen der Säulen im Mittelschiff gefallen waren. Der Altar schien das Einzige zu sein, was von der Kircheneinrichtung noch übrig war.

Sie liefen von einer Säule zur anderen auf das Licht zu, bis sie vor der Öffnung im Boden standen. Löcher in den Marmorfliesen ließen erkennen, wo früher Geländer und vielleicht ein Tor um den Eingang zur Krypta gewesen waren.

Jane lauschte mit schief gelegtem Kopf. »Ich glaube, ich höre Stimmen da unten«, flüsterte sie, plötzlich nervös.

Orhun zog seine Pistole aus dem Halfter und hielt sie mit dem Lauf nach oben. »Bleiben Sie hier«, forderte er sie auf.

»Gehen Sie nie ins Kino?«, sagte sie und hob warnend den Zeigefinger. »Man darf sich niemals aufsplitten.« Sie sagte es halb im Spaß und meinte es völlig ernst – allein hierzubleiben, war die erschreckendere Aussicht.

Orhun schüttelte resigniert den Kopf. Er wusste, sie würde nicht zurückbleiben. »Dann kommen Sie«, sagte er und machte sich auf den Weg die Treppe hinunter.

Jane folgte ihm einen Treppenabsatz nach unten, dann einen zweiten und einen dritten. Da sie damit gerechnet hatte, in einen einigermaßen engen Raum mit niedriger Decke zu kommen, war sie überrascht, als sie um eine Ecke bogen und ein geräumiges Gewölbe vor ihnen lag, das aus dem cremefarbenen Gestein geschlagen worden war. Im Vordergrund stand ein weiterer Altar, der von einer Reihe von Scheinwerfern auf Stativen beleuchtet wurde; zwei davon waren auf das Altarbild gerichtet, das fast bis zur Decke der Höhle reichte. Jane brauchte einen Moment, bis sie begriff, dass es aus unzähligen Schichten menschlicher Schädel bestand.

Sie wichen instinktiv in das Halbdunkel am Fuß der Treppe zurück und nahmen sich noch einige Augenblicke Zeit, die Szenerie vor ihnen zu studieren. In der Mitte des Altarbilds befand sich eine Statue der Kreuzigung, darunter befand sich ein Altartisch aus Knochen – Arm- und Beinknochen, Hunderte davon, zu einer festen Masse zusammengebacken. Auf dem Altar lagen einige Gegenstände, aber Jane hatte keine Zeit, sie zu betrachten, denn ihre Aufmerksamkeit wurde von einem schwarz gekleideten Mann beansprucht, der mit dem Rücken zum Altar auf einem Stuhl saß, den Kopf gesenkt, die Hände gefesselt. Dünne schwarze Haarsträhnen hingen ihm ins Gesicht und verbargen es. Sie nahm an, dass es sich um Pfarrer Kamarda handelte.

In diesem Moment huschte ein Schatten über die Decke der Höhle, und ein Mann in Jeans und einem schwarzen Rollkragenhemd kam hinter dem Altarbild hervor, in der Hand einen billigen Plastikstuhl wie der, auf dem der Priester saß. Er stellte ihn neben dem Altar ab und ging zu dem Priester; er flüsterte ihm etwas ins Ohr, dann packte er ihn an den Haaren und riss seinen Kopf nach hinten.

Es erinnerte Jane sofort an die Szene in der Hagia Sophia und weckte tiefste Furcht in ihr.

»Lassen Sie ihn los!«, rief Orhun, der aus dem Schatten kam und sich geschmeidig mit beiden Händen an der Pistole auf den Altar zubewegte.

»Na, sieh mal an, wen haben wir denn hier?«, sagte der Mann offenbar unbeeindruckt.

Er hatte einen amerikanischen Akzent, und Jane erkannte die Stimme sofort. Allein von ihrem Klang wurde ihr übel.

»Los!«, sagte Orhun und ließ seinem Befehl einen Schuss über den Kopf des Manns folgen. Er krachte in einen der Schädel des Altarbilds, der in tausend Knochensplitter zerbarst.

Der Amerikaner ließ die Haare des Priesters los, dessen Kopf daraufhin wieder nach unten sackte.

Jane versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr der Schuss sie erschreckt hatte.

Orhun blieb einige Meter vor den beiden Männern stehen.

»Na, sieh mal an«, sagte Jane und trat neben Orhun. »Wir wissen dafür, wer Sie sind. Sie sind das kranke Arschloch, das den alten Mann in der Hagia Sophia ermordet hat.«

»Anscheinend geht Ihnen bei so etwas wirklich einer ab«, sagte Orhun und bedeutete ihm mit einer Handbewegung, sich von dem Stuhl zu entfernen. »Aber das ist jetzt vorbei.«

»Was haben Sie vor? Mich verhaften?«

»Nein. Ich werde Sie töten.«

Der Amerikaner kniff die Augen zusammen. Er wusste nicht, ob Orhun dies ernst meinte.

Jane wusste es ebenfalls nicht.

Sie ging zu Kamarda, der es fertiggebracht hatte, den Kopf zu heben, und ihr etwas zuflüsterte. Sie beugte sich zu ihm hinunter.

»Attenzione … c’è un altro …«, sagte er heiser.

Sie fuhr rasch herum, um Orhun zu warnen, aber es war zu spät. Ein silberhaariger Mann war aus einer Vertiefung in der Höhle rechts von Orhun aufgetaucht und richtete eine Waffe auf ihn.

»Getta la pistola«, sagte er. »Legen Sie sie weg«, fügte er mit starkem Akzent an.

Jane kam es vor, als würde sie auch seine Stimme kennen, aber wie war das möglich? Sie glaubte nicht, dass sie den Mann schon einmal gesehen hatte. Er trug einen langen Mantel über einem gut geschnittenen dunklen Anzug und war sehr gepflegt, auf diese Weise, wie es italienische Männer häufig sind. Doch sein Aussehen wurde durch eine Hakennase getrübt und durch einen Mund, der in einem höhnischen Grinsen erstarrt zu sein schien.

Orhun hielt seine Waffe weiter auf den Amerikaner gerichtet, doch sein Blick huschte nach rechts, um die Bedrohung abzuschätzen.

»Er hat eine Waffe«, sagte Jane.

Orhun trat zurück und ließ seine sinken.

»Hakan!«, kommandierte der Italiener.

Mit einem blasierten Lächeln nahm der Amerikaner Orhun die Pistole ab. »Ich persönlich bevorzuge Messer, aber so wird der Gerechtigkeit auf poetische Weise Genüge getan«, sagte er und setzte die Waffe an Orhuns Schläfe.