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Als Jane mit ihren Einkäufen fertig war und beim Haus eintraf, war Debbie bereits fort, um Bethann aus der Krippe und die anderen drei Kinder von der Schule abzuholen.

Diesmal waren es nicht Schuldgefühle gewesen, die sie auf der Heimfahrt quälten, sondern Bedauern darüber, dass sie so viele Erlebnisse mit ihren Kindern nicht teilte. Und dann gab es ihr einen Stich vor Eifersucht, weil Debbie so oft mit ihnen zusammen war. Es war eine verstörende Gefühlsregung, die sie abzuschütteln versuchte, als sie sich in ihr breitzumachen drohte. Und das ging am besten, stellte sie beim Auspacken der Lebensmittel fest, indem sie daran dachte, wie glücklich sie sich schätzen konnte, eine so gute Freundin zu haben.

Nachdem die Einkäufe weggeräumt waren, trug sie den Blumenstrauß, den sie gekauft hatte, ins Haupthaus hinüber und sah sich nach dem besten Platz dafür um. In der Küche fand sie eine frisch gespülte Glasvase auf der Ablauffläche und beschloss, sie zu verwenden. Sie füllte sie mit Wasser, lockerte die Blumen darin und ließ sie auf dem Ablauf stehen. Sie irgendwo anders aufzustellen würde aussehen, als wollte sie auf ihr Geschenk aufmerksam machen.

Beim Verlassen der Küche fiel ihr eine ausgedruckte Karte auf der Arbeitsfläche auf, die Debbie offenbar studiert hatte – sie hatte etwas hineingeschrieben. Ihr Auto besaß zwar ein Navi, aber offensichtlich hatte sie erst einmal sehen wollen, wohin es ging. Neben der Karte lag ein Notizblock. Jane sah den Abdruck von Debbies Handschrift auf dem obersten Blatt. Sie hatte die Karte nicht mitgenommen, weil sie die Informationen, die sie brauchte, notiert hatte.

Jane schaute auf die Karte und sah einige vertraute Namen – Straßen, die nicht weit von ihrem eigentlichen Zuhause in den Dubliner Bergen entfernt waren. Weiter im Süden jedoch, näher an der Grenze zum County Wicklow, hatte Debbie neben dem Wort »Cullenswood« ein Kreuz auf die Karte gezeichnet.

Und das ließ eine Alarmglocke in Janes Kopf schrillen. Die Party musste in Cullenswood House stattfinden. Es hatte früher Becca de Lacy gehört, und sie hatte den Sektenführer Michael Roberts dort beherbergt. Jane bezweifelte, dass die Leute, die es jetzt bewohnten, etwas von den Ereignissen jener Zeit wussten. Dennoch gefiel ihr die Idee nicht, dass ihre Kinder auch nur in der Nähe dieses Orts waren.

Sie sah auf die Küchenuhr und schätzte, dass Debbie und die Kinder wahrscheinlich schon auf dem Weg zu ihrem Ziel waren. Bei einem erneuten Blick auf die Karte fiel ihr ein weiteres Kreuz auf einer der kleineren Straßen rund um den Landsitz auf. Debbie hatte einen Pfeil von dort zum unteren Rand der Karte gezogen und »Eingang zum Getreidespeicher« daneben geschrieben.

Schon rannte Jane in ihre eigene Küche zurück, um ihr Handy zu holen. Sie blickte sich um, konnte es aber nirgendwo entdecken. Und doch wusste sie, dass sie es irgendwo hier liegen gelassen hatte. Die wachsende Angst verringerte ihre Konzentrationsfähigkeit. Sie holte tief Luft und ging systematisch durch die Küche. Das Handy lag auf der Arbeitsfläche neben dem Kühlschrank. Sie hob es auf und drückte mit zittrigen Fingern Debbies Nummer. Der Anruf ging direkt auf die Mailbox.

Jane hätte vor Frust am liebsten geschrien, aber sie nahm sich zusammen, um eine verständliche Nachricht zu hinterlassen – und eine, die Debbie nicht zu Tode erschrecken würde. »Hör genau zu, Debbie«, sagte sie unaufgeregt. »Wenn du noch auf dem Weg zu dem Fest bist, dann kehr sofort um. Wenn du schon dort bist, brich sofort auf. Du brauchst niemandem etwas zu sagen, aber es ist wichtig, dass du tust, was ich sage.«

Nachdem sie noch eine SMS mit ähnlichem Inhalt abgeschickt hatte, setzte sie sich kurz, um nachzudenken. Wahrscheinlich reagierte sie übertrieben. Aber egal wie es mit Cullenswood House aussehen mochte, der auffällige, kegelförmige Turm auf dem Anwesen, der als Getreidespeicher bekannt war, war tabu, was Jane anging. Denn in diesem Gebäude war sie von Michael Roberts gefangen gehalten und beinahe getötet worden, und dort war Roberts von der Polizei erschossen worden.

Debbie wusste natürlich, was passiert war, aber es lag zu weit zurück, als dass ihr die genauen Einzelheiten noch erinnerlich waren. Und etwa zu dieser Zeit hatte sie Karl kennengelernt, und ihre frische Beziehung hatte einen wesentlichen Teil ihrer Aufmerksamkeit in Anspruch genommen.

Jane konnte nachvollziehen, dass man auf die Idee kam, den Turm aus dem 18. Jahrhundert zum Mittelpunkt eines Kinderfests zu machen. Es machte den Kleinen sicher Spaß, um ihn herum zu spielen, und unter angemessener Aufsicht konnten sie sich die steinerne Treppe rauf- und runterjagen, die sich spiralförmig außen um das Gebäude herumwand. Vielleicht durften sie sogar das Innere erkunden. Sie schauderte bei dem Gedanken, dass ihre Kinder dort drinnen umherspazierten.

Und dann machte sich langsam ein düsterer Verdacht bemerkbar. Sie stand auf und lief unruhig hin und her. Es war ihr von Anfang an komisch vorgekommen, dass sich jemand, der sich einen Wohnsitz wie Cullenswood House leisten konnte, einem Netzwerk von normalen Mittelschichtmüttern anschloss. Sie fragte sich auch, ob Debbie bei einer der anderen Mütter nachgefragt hatte, ob sie ebenfalls hinfuhren. Und wer war dieses neue Mitglied ihres Clubs überhaupt?

Bitte melde dich, Debbie, flehte sie lautlos, während sie nervös auf und ab marschierte und ihr Handy umklammert hielt. Es sah ihrer Freundin gar nicht ähnlich, das Gerät abzuschalten. Wahrscheinlich waren sie in einer Gegend mit schlechtem Empfang. Als ihr Handy dann plötzlich läutete, erschrak sie so sehr, dass sie es beinahe fallen ließ.

»Debbie«, sagte sie erleichtert, als sie das Foto ihrer Schwägerin auf dem Display sah.

»Was ist los?«

»Wo bist du?«

»Ich fahre gerade auf einer kleinen Landstraße auf einen merkwürdig geformten Turm zu. Er heißt, der ›Getreidespeicher‹«.

»Verdammt, Debbie, ich sagte doch, du sollst nicht zu dieser Scheißparty fahren.« Sie hätte eine dringlichere Botschaft hinterlassen sollen.

»Hey, Jane hat zwei schlimme Worte gesagt«, kam eine tadelnde Stimme vom Rücksitz des Wagens. Debbie hatte eine Freisprechanlage.

»Tut mir leid, Karen«, sagte Jane. »Aber ich bin ein bisschen wütend auf deine Mommy.«

»Hey, ich habe deine Nachricht eben erst gehört, und ich bin auf halber Strecke in einer sehr schmalen Zufahrt. Sobald ich dort bin, kehre ich um, okay?«

Jane hörte ihr an, dass sie gereizt war. »Tut mir leid, dass ich euch den Spaß verderbe, Debbie, aber …« Da die Kinder zuhörten, musste sie ihre Worte sorgfältig wählen. »Wenn ich dir sagen würde, dass gewisse Ereignisse, die mit mir und dem Anführer einer Sekte zu tun hatten, in genau diesem Turm vor dir stattgefunden haben, würdest du dann verstehen?«

»Du meinst … O mein Gott, das war hier

»Ich weiß, ich bin ein bisschen empfindlich, aber ich möchte nicht, dass die Kinder dort spielen.«

»Ich genauso wenig. Das Komische ist nur …« Ihre Stimme verlor sich.

»Was, Debbie? Was ist komisch?«

»Wir kommen gerade zu dem Turm, aber da ist sonst niemand. Keine Autos, es sei denn, sie sind irgendwo auf der Rückseite. Da ist nur ein Stück Asphalt, und der ist voller Schlaglöcher.«

Jane war jetzt ernsthaft besorgt. »Dreh einfach um und verschwinde von dort.«

»Es sieht auch ziemlich vernachlässigt aus hier. Alles zugewachsen. Nicht gerade ein geeigneter Platz zum Spielen für Kinder, selbst wenn das Wetter schön ist. Außerdem ist nichts vorbereitet, soweit ich das erkennen kann. Moment mal, ich sehe einen Wagen … er steht hinter ein paar Büschen.«

»Hör zu, Debbie – bleib nicht stehen. Fahr einfach. Bitte.«

»Hey, das ist wie eine Wasserrutsche da außen am Gebäude.« Jane erkannte Scotts Stimme. Er beschrieb die spiralförmige Treppe, die Zugang zu den einzelnen Ebenen des Getreidespeichers gewährte, und hoffte offenbar, es handelte sich um eine der Attraktionen, auf die er sich gefreut hatte. »Und da steht ein Mann drauf«, fügte er an.

Eine eisige Faust griff nach Janes Herz.

»Wo?«, fragte Debbie.

»Ziemlich weit oben«, sagte Karen. »Er schaut zu uns herunter.«

»Jetzt sehe ich ihn«, sagte Debbie. »Festhalten, Kinder, wir verduften schnell von hier.«

»Jetzt kommt er herunter«, sagte Scott.

»Verdammt«, fluchte Debbie leise. »Behaltet ihn im Auge, Kinder«, rief sie.

Jane hörte das Jaulen des Wagens im Rückwärtsgang. Sie sagte nichts, um ihre Freundin nicht noch nervöser zu machen.

»Jetzt ist er fast unten«, sagte Joshua.

Das Getriebe knirschte, als Debbie verzweifelt versuchte, den ersten Gang einzulegen.

»Jetzt mach aber mal, Mom«, sagte Karen und bemühte sich erkennbar, erwachsen zu klingen.

»Ich versuch’s ja, ich versuch’s.«

»Will nach Hause«, greinte Bethann, die die Spannung im Wagen wahrnahm.

Bitte, lieber Gott, bring sie sicher da raus, betete Jane.

»Okay, wir sind unterwegs«, sagte Debbie und schluckte schwer. »Wo ist er jetzt?«

»Kann ich nicht sehen, weil wir um die Kurve gebogen sind«, sagte Karen.

Sie fuhren eine Weile schweigend.

»Irgendwas von einem Auto hinter uns zu sehen?«, fragte Debbie.

»Nein, Mum«, antwortete Joshua.

»Sicher?«

»Er kommt uns nicht nach«, sagte Karen.

Jane hörte, wie Debbie tief durchatmete.

»Alles in Ordnung, Debbie, du hast es geschafft. Gut gemacht.«

»Hoffentlich kommt mir auf dem Weg hier niemand entgegen«, erwiderte Debbie mit zittriger Stimme.

»Glaub ich nicht. Aber lass das Telefon eingeschaltet, bis du auf der Hauptstraße bist«, sagte Jane.

Keine zwei Minuten später fuhren sie zum Tor des Landsitzes hinaus. Jane hätte gern gewusst, ob es Anzeichen dafür gab, dass es einige Zeit geschlossen gewesen war. Doch angesichts Debbies Verfassung wollte sie ihre Freundin nicht bitten, es an Ort und Stelle zu überprüfen.