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Auf dem Weg zur Arbeit fiel Jane auf, dass sich die Bäume am Straßenrand und die Vorstadtgärten bemerkenswert verändert hatten, obwohl sie nur eine Woche fort gewesen war. Kirschblüten hingen reichlich an den Bäumen, Tulpen erfüllten die Blumenbeete mit Farbe, und an den nicht gemähten Straßenrändern blühte leuchtend gelber Löwenzahn. Die Morgensonne verstärkte das Gefühl der Hoffnung auf die Zukunft noch, das diese Pracht in ihr auslöste. Auf NewsTalk wurde ein früherer Bericht über die Situation in Istanbul wiederholt, deshalb wählte sie einen Musiksender, der ihre Stimmung widerspiegelte.

Der DJ spielte einen Song namens »The Dance of the Cherry Trees« des aus Cork stammenden Sängers John Spillane – genau das Richtige für den Tag. In ihrer Frühlingsträumerei bemerkte Jane zunächst gar nicht, dass das Lied zu Ende war und ein neues angefangen hatte. Doch langsam fiel sie aus ihrer Hochstimmung auf den Boden der Realität zurück. Sie erkannte die Musik jetzt – es stammte von einem Album von Becca de Lacy, einer irischen New-Age-Sängerin, die zur Jahrtausendwende populär gewesen war.

Jane wechselte sofort auf Lyric FM. Doch selbst die beruhigenden Töne des Andante aus Schostakowitschs zweitem Klavierkonzert konnten die verstörenden Erinnerungen nicht auslöschen, die der – wie es jetzt schien – ziemlich fade Titelsong aus de Lacys CD hervorrief. Die Karriere der Musikerin hatte nicht lange nach Veröffentlichung des Albums ein jähes Ende gefunden, hauptsächlich aufgrund ihrer Verbindung zu einer Weltuntergangssekte namens »Die Hüter des Siebten Siegels« – einer Organisation, der sich auch Janes Schwester Hazel angeschlossen hatte, jedoch mit weitaus tragischeren Folgen.

Der langsame Schostakowitsch-Satz ging zu Ende, es folgte ein aufwühlenderes Klavierstück von Philip Glass. Janes Musikgedächtnis identifizierte es schnell als die Musik des Films The Hours, und damit kehrten ihre Gedanken zur Gegenwart zurück.

Lavelle kam wieder nach Irland. Und erneut lag Gerede vom Ende der Welt in der Luft. Zufall natürlich. Und natürlich hatte das Stück von Becca de Lacy unerwünschte Assoziationen geweckt – das tat es immer. Doch heute gab es noch etwas an dem Stück, das sie beunruhigte. Die CD, von der es stammte, war ein Konzept-Album namens Byzantium, und es basierte auf Gedichten von W. B. Yeats, die byzantinische Kunst und Kultur feierten. Jane erinnerte sich auch, dass das Video zu dem Song mit einem digital erzeugten Vorbeiflug an dem architektonischen Wunder begann und endete, das die Kuppel der Hagia Sophia war.

»Guten Morgen, ich freue mich sehr, wieder hier zu sein«, begann Jane ihre Sendung. »Es hätte eine Woche des Feierns für die Türkei werden sollen, da sie das EU-Beitrittsabkommen hier in Dublin unterzeichnet, aber die Besetzung eines historischen Gebäudes in Istanbul scheint sich in ein Geiseldrama zu verwandeln, das einen Schatten über dieses Ereignis werfen könnte. – Man weiß inzwischen, dass zwanzig Personen verschiedener Nationalitäten bei einer privaten Führung durch das Museum Hagia Sophia am Samstagabend von einer bewaffneten Bande gefangen genommen wurden. Bislang hat die Bande nichts von ihren Zielen oder Forderungen verlauten lassen. Wir berichten in Kürze über die neuesten Entwicklungen in dieser Krise, aber in der Zwischenzeit hat sich unser Redakteur Joe Brady Gedanken darüber gemacht, wer dafür verantwortlich sein könnte …«

Joe, der Jane am Studiotisch gegenübersaß, blickte von seinem Netbook auf und begann, eine Liste extremistischer Gruppen sowohl säkularer als auch islamistischer Natur durchzugehen, von denen man wusste, dass sie in der Türkei operierten.

Während er sie aufzählte und ihre Ziele umriss, schaltete Jane ihr Mikrofon aus und trank einen kräftigen Schluck stilles Wasser. Sie bereute es, am Abend zuvor so viel getrunken zu haben. Auf dem Weg in die Arbeit hatte sie sich einzureden versucht, sie habe nur die Hälfte der Duty-Free-Flasche geleert – zusätzlich zu dem, was sie zum Abendessen getrunken hatte –, aber sie wusste, was noch in der Flasche war, würde kaum ein Glas füllen. So konnte das nicht weitergehen. Selbst Joe Brady, der ihr gegenübersaß, hatte es vor nicht langer Zeit fertiggebracht, seinen massiven Cannabis-Konsum zu beenden. Als Folge davon kam er nicht mehr jeden Tag mit trüben Augen ins Büro. Und seine Energie und seine Begeisterung für ihre Projekte waren bemerkenswert.

Joe ging von Terroristen zur Geschichte der Reibungen mit Griechenland und Armenien weiter, und Jane schaute unterdes auf ihrem Schirm nach, aber Paddy Wrights Name erschien noch nicht darauf. Sie sah durch die Glasscheibe zur Produzentin Ali McBride im Kontrollraum hinaus. Ali drehte eifrig eine ihrer dunklen Haarsträhnen in den Fingern, eine Angewohnheit von ihr, wenn sie unter Druck war. Jane drückte kurz den Sprechknopf, um auf sich aufmerksam zu machen. Ali reagierte, indem sie die Ziffer 5 in die Luft malte und gleichzeitig das Wort »fünf« mit den Lippen formte. Sie würden weitere fünf Minuten füllen müssen.

»Wie war die Haltung der übrigen türkischen Nachbarn zum EU-Beitritt?«, fragte sie, als Joe seine Zusammenfassung der türkisch-griechischen Beziehungen beendet hatte.

»Äh …« Joe musste einen Moment überlegen.

»Bulgarien und Georgien, beispielsweise …«

»Ah, ja. Sie unterstützten ihn größtenteils. Das Gleiche gilt für Russland, denn die Führung im Kreml weiß, dass die Türkei nicht darauf versessen ist, der NATO mehr Einfluss im Schwarzmeergebiet einzuräumen.«

Ali klickte die Studioleitung in Janes Kopfhörern an, und Jane sah wieder auf den Schirm. Eine Reihe von Anrufern wollte unbedingt in die Sendung.

»Und die muslimischen Staaten, die an die Türkei grenzen?« Sie las sich durch, was die Anrufer im Kern sagen wollten, und entschied sich für einen von ihnen – eine Frau und zufällig die letzte, die angerufen hatte. »Iran, Irak und … Syrien«, soufflierte sie.

»Ja, drei wichtige islamische Staaten«, sagte Joe, der jetzt ein bisschen schwamm. »Sie haben vorsichtige Unterstützung geäußert, auch wenn es der Iran vorziehen würde, wenn sie alle einen islamischen Block bildeten, der gegen den Westen und China antritt. Dann ist da noch …«

Jane machte ihm ein Zeichen, dass sie eine Anruferin in die Sendung nehmen würde.

Sie schob den Regler für Leitung drei hoch. »Martha, was wollen Sie uns sagen?«

»Es gibt ein wichtiges Land in der Region, das Sie bisher nicht erwähnt haben.« Martha klang wie eine Lehrerin, die einen Schüler tadelt.

»Ach ja? Und welches ist das?«, sagte Jane.

»Na, Israel natürlich.«

»Nun, hier ist Ihre Gelegenheit, das Versäumnis zu korrigieren, Martha. Wie ist die Haltung Israels zum EU-Beitritt der Türkei?«

»Der Türkei? Sie meinen Gomer.«

»Wie bitte?« Jane sah fragend zu Joe.

Joe runzelte die Stirn und tippte das Wort in sein Netbook.

»Hesekiel verrät uns, dass Persien sich mit Ägypten und Magog gegen Israel verbünden wird«, fuhr Martha fort. »Und dass Gomer sich dem Angriff ebenfalls anschließen wird.«

Jane rutschte unruhig auf ihrem Sitz umher. »Äh, ich weiß nicht recht, was Sie uns mit all dem sagen wollen, Martha.«

»Nun, Persien ist natürlich der Iran. Und die Bibelwissenschaft lehrt uns, dass Magog Russland ist und Gomer das, was wir als die Türkei kennen.«

»Hm, ich verstehe.« Jane schaute zu Ali hinaus und fing deren Blick auf. Dann machte sie ein X vor ihrer Kehle, um anzuzeigen, dass sie die Anruferin aus der Leitung schmeißen würde.

»Und wir wissen, eins der Zeichen vor der Endzeit ist, dass die scheinbare Freundschaft zwischen der Türkei und Israel sich in Feindseligkeit verwandeln wird«, fuhr Martha fort. »Was bereits geschehen ist …«

»Danke für diesen Einblick, Martha, und jetzt müssen wir …«

»Und was wird dann geschehen?«, warf Joe ein, bevor Jane die Telefonleitung unterbrechen konnte. Sie funkelte Joe böse an, ließ Martha aber auf Sendung, damit sie antworten konnte.

»Dann wird das Licht Israels mit der Hitze von tausend Sonnen brennen, Magog und Persien werden zerstört werden, und alle Feinde von Gottes auserwähltem Volk werden vom Angesicht der Erde getilgt!« Marthas Stimme war zu einem triumphalen Crescendo angestiegen.

»Verstehe«, sagte Joe leicht verlegen.

Jane fuhr den Regler herunter und sah auf die Studiouhr. »Es geht auf 10.15 Uhr zu, und ich denke, es wird Zeit, dass wir etwas aus Istanbul hören. Nach einer kurzen Pause geht es weiter.« Sie schob einen anderen Regler vor und spielte die Werbespots ab.

»Ich musste sie abwürgen, Joe«, sagte sie und nahm ihre Kopfhörer ab. »Sie hätte uns zugeschüttet mit Bibelzitaten. Oder jedenfalls mit ihrer Version davon.« Jane fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, um ein bisschen Luft an ihre Kopfhaut zu lassen. Seit sie die tägliche Sendung übernommen hatte, trug sie das Haar kurz, damit es sich nicht ständig in den Kopfhörern verfing. Aber zu warm war es immer noch.

»Tut mir leid, ich hätte sie nicht ermutigen sollen.«

»Schon gut. Es ist nur so, dass ich ein bisschen Erfahrung mit Fanatikern wie ihr habe.« Sie ließ sich nicht näher darüber aus.

Alis Stimme ertönte über die Studioleitung. »Paddy steht bereit. Er ist auf Skype. Kann sein, dass er ein bisschen leise ist, besser du testest es mal.«

Jane zeigte Ali den erhobenen Daumen und sah auf dem Schirm nach, auf welcher Leitung Paddy war. »Du könntest eigentlich gleich hierbleiben für seinen Bericht, Joe.« Sie drückte einen mit PFL beschrifteten Knopf auf dem Telefonkanal. Der Ton der Werbespots wurde unterbrochen, und sie hörte über einen kleinen Lautsprecher im Mischpult, wie sich Paddy Wright räusperte. »Ein paar Worte zur Lautstärkeregelung, Paddy«, sagte sie. Wright las etwas von seinem Skript ab, während Jane die zuckenden Signale des Lautstärkereglers beobachtete und eine leichte Anpassung vornahm.

Da nicht mehr ganz eine Minute Zeit blieb, bis sie wieder live auf Sendung gingen, fragte sie Joe: »Nur interessehalber: Wo steht Israel denn nun wirklich?«

»Na ja, die Frau hatte recht damit, dass Israel und die Türkei bis vor Kurzem Verbündete waren. Aber das begann sich zu ändern, als sich die türkische Regierung weg von der säkularen Verfassung in Richtung islamistischer Staat zu bewegen schien. Deshalb glaubt Israel, dass die EU ein Gegengewicht zu diesem Trend bilden wird. Außerdem beunruhigt das iranische Streben nach Atomwaffen Israel seit einiger Zeit, deshalb will es die Türkei auf der richtigen Seite des Zauns haben. In der EU, anders ausgedrückt.«

»Aber Israel hat selbst Nuklearwaffen, oder?«

»Offiziell nicht, aber sicher, es hat welche. Es will jedoch nicht in eine Konfrontation mit dem Iran geraten, die zu einem Atomkrieg eskalieren könnte. Israel ist ein kleines Land, und es weiß, es würde von der Landkarte getilgt, während der Iran überleben würde.«

Als die Werbepause endete, setzte Jane ihre Kopfhörer wieder auf und schaltete ihr Mikro ein. »Sie hören Wade’s World auf TalkNation mit Jane Wade. Und jetzt schalten wir zu unserem Reporter Paddy Wright nach Istanbul für das Neueste von dem Geiseldrama dort … Paddy, was tut sich?«