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Am Flughafen wartete ein Fahrer auf Orhun – ein schlaksiger junger Mann mit einem Schopf schwarzer Locken. Er trug Jeans und ein T-Shirt mit einem Slogan, der übersetzt »Neapel sehen und vor Langeweile sterben« lautete, und hielt ein Stück Pappkarton in die Höhe, auf den ORHUN gekritzelt war. Er gab sich keine Mühe, seine Überraschung zu verbergen, als er sah, dass Orhun von einer Frau begleitet wurde. Die beiden Männer unterhielten sich kurz auf Türkisch, bevor sie alle nach draußen zum Wagen gingen – einem schwarzen Alfa Romeo mit verdunkelten Scheiben.

Orhun bat Jane, im Fond mit ihm einzusteigen, und nachdem der Fahrer ihm eine Karte gegeben hatte, fuhren sie in die Stadt. Es war sieben und noch hell. Jane und der junge Mann waren einander nicht vorgestellt worden, und sie hatte nicht die Absicht zu fragen, wieso.

Nachdem Orhun die Karte eine Weile studiert hatte, reichte er sie Jane und fragte den Fahrer etwas.

Sie sah ein Kreuz auf der Karte und nahm an, es markierte die Kalvarienkirche. Die Gegend war ein Gewirr aus schmalen Straßen.

Der Fahrer antwortete, und Jane sah, wie Orhun den Deckel eines Ablagefachs in seiner Tür öffnete. Er entnahm ihr ein Lederhalfter mit einer mattschwarzen Pistole darin. Als er sie halb aus dem Halfter gleiten ließ, konnte Jane die Buchstaben Elite 1A auf dem Lauf lesen.

»Eine Beretta, gut«, sagte er beiläufig, öffnete seine Jacke und befestigte das Halfter an seinem Hosengürtel. Dann griff er wieder in die Ablage und fand ein Reservemagazin in einem kleineren Beutel, das er an die andere Seite seines Gürtels hängte. Schließlich richtete er seine Jacke, klopfte sie ab und sah Jane an. »Sie haben um Schutz gebeten?«, sagte er und lächelte.

Sie antwortete nicht, aber ihre Gedanken flogen in alle Richtungen.

Nach einer Weile sagte Orhun: »Sollten Sie nicht Ihren Freund Giuseppe anrufen?«

»Mhm.« Jane hörte auf zu spekulieren und wühlte in ihrer Tasche nach ihrem Handy. Sie hatten vereinbart, Giuseppe keiner weiteren Gefahr auszusetzen, aber sie brauchten so viele Informationen wie möglich von ihm. Jane war leicht überrascht, als er sich beim ersten Klingelton meldete.

»Wir sind auf dem Weg in die Stadt, Giuseppe. Wo bist du?«

»In meinem Hotel, ausruhen. Es war ein harter Tag. Der Mord … die Polizei … Es hat mich schwer mitgenommen.«

Jane stieß Orhun an, um ihm zu zeigen, dass sie die Mithörfunktion aktivieren wollte, sah aber erst fragend in Richtung Fahrer.

Orhun nickte nur.

Jane drückte den Lautsprecherknopf. »Mein Freund Demir Orhun ist hier bei mir. Erzähl uns genau, was passiert ist.«

Giuseppe seufzte. »Ich habe es schon so oft erzählt … aber gut, ein Mal noch. Die Frau in der Galerie, Signora Flamigni, hatte mir erzählt, dass Kamarda heute Morgen um elf wiederkommen werde – eine Stunde, nachdem sie öffnen. Aber offenbar hat er beschlossen, schon früher hinzugehen, falls ihm jemand auf der Spur ist – ich zum Beispiel. Ich kam gegen 10.40 Uhr an und bin hineingegangen. Da ich kein Personal sah, habe ich eine Weile gewartet und dann Signora Flamignis Namen gerufen. Aus dem Hinterzimmer kam ein Stöhnen, und ich ging hinein und fand sie auf dem Boden neben der Leiche ihres Mannes. Er war erschossen worden …«

»Das muss ein furchtbarer Schock für dich gewesen sein«, sagte Jane, da Giuseppe die Stimme versagte.

»Allerdings, aber was mich gerade innehalten ließ, war der Schock jetzt eben. Hast du es nicht gespürt? Ein Erdbeben.«

Jane und Orhun wechselten einen Blick. »Nein«, sagten sie gleichzeitig und schauten aus ihrem jeweiligen Fenster, sahen aber nichts Ungewöhnliches.

»Ich habe es durch das Lenkrad gespürt«, sagte der Fahrer in einwandfreiem Englisch. »Da …« Er deutete zur linken Seite der Windschutzscheibe.

Eine Rauchwolke, aus der Funken stoben, stieg über dem rund zehn Kilometer entfernten Vulkan auf der anderen Seite der Stadt auf.

»Neapel sehen und sterben, hm?«, sagte Jane.

Der Fahrer warf ihr einen Blick über die Schulter zu und grinste.

»Im Fernsehen zeigen sie Bilder von Lava, die vom Vesuv herunterfließt«, sagte Giuseppe. »Treibt euch nicht zu lange hier herum.«

»Das werden wir nicht«, sagte Jane. »Erzähl uns noch mehr von dem, was heute Morgen passiert ist.«

»Okay. Während Signora Flamigni und ich auf Polizei und Sanitäter gewartet haben, berichtete sie, ihr Mann sei kurz vor zehn in die Galerie gegangen und sie sei um 10.25 Uhr eingetroffen. Sie hörte Stimmen im Büro, und als sie hineinging, sah sie Pfarrer Kamarda aufstehen und die Hände in die Luft strecken. Sie begriff, dass jemand hinter der Tür stehen musste, der eine Waffe auf ihn richtete, aber sie konnte nicht sehen, wer es war. Und dann sah sie ihren Mann zu Füßen Kamardas liegen, und sie wusste, dass er angeschossen worden war und der Pfarrer sich um ihn gekümmert hatte. Dann sah sie das Blut auf dem Boden und wurde ohnmächtig.«

»Und die Ikone war verschwunden«, sagte Orhun. »Wurde sonst etwas gestohlen?«

»Offenbar nicht. Und ich kann nur vermuten, dass Kamarda von dem Täter oder den Tätern mit vorgehaltener Waffe abgeführt wurde. Warum man ihn nicht auf der Stelle erschossen hat, weiß ich nicht. Aber vielleicht ist es ein gutes Zeichen.«

»Vielleicht«, sagte Jane ohne große Überzeugung.

»Was hatte die Polizei dazu zu sagen?«, fragte Orhun.

»Aus der Richtung ihrer Fragen ging klar hervor, dass sie glauben, Kamarda habe mit jemandem unter einer Decke gesteckt, der ihn hintergangen hat und die Ikone auf dem Schwarzmarkt verkaufen will.«

»Sehr viel wahrscheinlicher war es eine Sekte namens KOSS, die ihre Anschauungen auf den Prophezeiungen eines Mönchs gründen, dem die Ikone gehörte«, sagte Jane. »Ich erzähle dir ein andermal alles über sie, aber jetzt, glaube ich, solltest du ausschlafen so gut es geht und morgen in aller Früh zu deiner lieben Frau zurückfahren.«

»Genau das werde ich wohl tun. Ich habe schon wieder genug vom Stadtleben. Und dann muss ich auch noch an einem aktiven Vulkan vorbeifahren.«

»Eins noch, Giuseppe«, fragte Orhun. »Hat Kamarda ein Handy bei sich? Und wenn ja, könnten Sie mir die Nummer geben?«

»Er hat eins, aber es war nie an, wenn ich angerufen habe. Allerdings muss er meine SMS bekommen haben.«

»Es war unwahrscheinlich, dass er dir geantwortet hätte, Giuseppe«, sagte Jane.

»Aber nicht, weil er ein schlechtes Gewissen hatte. Sondern weil er nicht wollte, dass sich jemand in seine Pläne einmischt. Er hat Signora Flamigni erzählt, der Erlös der Ikone würde in die Entwicklung des Tourismus in Collalba fließen. Und ich glaube, er hat ihr die Wahrheit gesagt.«

Orhun und Jane wechselten einen Blick, enthielten sich jedoch eines Kommentars. Giuseppe gab Orhun die Nummer des Priesters, dann ließen sie ihn in Ruhe.