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Eine knappe Stunde, nachdem sie am Flughafen abgeholt worden waren, kroch ihr Wagen durch die engen Straßen der Innenstadt. In den Läden waren die Lichter an, und die Gehsteige waren voll Einheimischer und Touristen. Von Mopeds und Rollern abgesehen kam der Verkehr auf der Straße jedoch kaum voran.
Orhun vertrieb sich die Zeit, indem er die Nachrichten auf seinem Handy durchsah. »Hm, scheint, als würde die Lage allmählich außer Kontrolle geraten«, sagte er und las eine vor. »Ein russisches U-Boot mit Atomwaffen an Bord ist vor Tel Aviv in territorialen Gewässern Israels aufgetaucht. Der Kreml sagt, jeder Versuch, es anzugreifen, wird zu einem Schlag gegen die Stadt führen.«
»Hm. Heißt es nicht, ab einem bestimmten Punkt sind diese Dinge aufgrund der Eigendynamik, die sie entwickeln, nicht mehr umkehrbar?«
»Weit kann dieser Punkt nicht mehr entfernt sein … aber Moment, hier ist etwas, das Wirkung zeigen könnte … Die Palästinenser melden sich endlich zu Wort und fordern alle beteiligten Kräfte auf, vom Abgrund zurückzutreten.«
»Wurde auch Zeit«, sagte Jane. »Wenn Nuklearraketen dort einschlagen würden, wären sie genauso übel dran wie die Israelis.«
Orhuns Handy klingelte, als eine neue Meldung hereinkam. »Oh-oh. Das KOSS-Schiff hat angelegt. Mit geschätzt fünfzig Leuten an Bord.«
»Hört sich an, als wäre es ihr Hauptquartier, oder?«
»Es ist ihr Hauptquartier«, sagte Orhun mit Nachdruck und steckte sein Telefon weg.
Jane sah aus ihrem Fenster. Sie waren kaum vorangekommen.
Orhun rutschte in seinem Sitz umher und seufzte ungeduldig, ehe er sie um die Karte bat. Er studierte sie wieder und reckte den Hals, um die Straßennamen an der Kreuzung zu lesen, auf die sie zukrochen. »Mit diesem Tempo kommen wir nie dort an«, sagte er.
»Dort vorn ist es ohnehin zu eng für einen Wagen«, sagte der Fahrer. »Ich habe versucht, euch so nahe wie möglich heranzubringen.«
»Okay, das war’s dann, wir steigen aus und gehen zu Fuß.« Er sprach jetzt wieder Türkisch, und der junge Mann antwortete ebenso.
Sie stiegen auf Janes Seite aus und marschierten direkt in eine schmale Straße im rechten Winkel zu der, auf der sie gefahren waren. Es dämmerte inzwischen, und die hohen Gebäude entlang der Gasse ließen alles noch dunkler erscheinen. Sie kamen einigermaßen voran, indem sie innerhalb einer Reihe metallener Poller hintereinanderliefen, aber häufig mussten sie um ausgestellte Waren oder eine Traube von Kunden vor einem Laden herumgehen. Das Kunststück bestand darin, dabei nicht Autos oder Lkws in die Quere zu kommen oder von Rollern angefahren zu werden, die an ihnen vorbeisausten. In der Stadt herrschte emsiges Getriebe, und es gab keinen Hinweis darauf, dass nur ein kurzes Stück entfernt ein Vulkan zum Leben erwachte.
Schließlich hörten die Läden allmählich auf, die Leute wurden weniger, und Jane und Orhun konnten nebeneinandergehen, wobei es Jane vorkam, als würden sie die ganze Zeit bergansteigen.
Da sie sich nun wieder unterhalten konnten, fragte sie Orhun, wer der junge Mann gewesen war, der sie am Flughafen abgeholt hatte.
»Das weiß ich nicht. Wir haben eine Liste mit unseren Anforderungen geschickt. Einen Fahrer, der Türkisch spricht – das macht die Unterhaltung sicherer. Eine Handfeuerwaffe und Munition. Eine Karte. Wir stellen keine Fragen, und sie ebenfalls nicht.«
»Wer sind ›sie‹?«
»In diesem Fall wahrscheinlich die Camorra, die neapolitanische Mafia. Die managen hier vieles.«
Sie waren an einen unregelmäßig geformten kleinen Platz gekommen, der fast gänzlich von parkenden Autos vollgestellt war. Orhun studierte unter einer Straßenlampe die Karte. Er las das Schild über ihnen, brummte und steckte die Karte weg. »Das ist der letzte Platz, der darauf genannt wird. Und wir gehen in diese Richtung.« Er deutete zu einer Gasse auf der anderen Seite.
Als sie hineingingen, sahen sie, dass die Gasse von der Piazza steil zwischen Gebäuden anstieg, zwischen denen noch Wäsche hing, obwohl die Sonne untergegangen war. Die Wände waren so nahe, dass sie nicht nebeneinander gehen konnten, wenn ihnen jemand entgegenkam. Und Jane fiel auf, dass es meist Gruppen von Jungen im Teenageralter waren, die einander anrempelten und schoben oder lauthals über nichts Besonderes lachten. Zweimal tauchte ein Paar – dasselbe Paar, wie Jane bemerkte – laut brüllender Flegel auf einem Motorroller aus einer Seitenstraße auf und raste die Gasse hinunter, sodass sie sich an die Wand eines mehrstöckigen Wohnhauses drücken mussten.
Doch selbst diese Gefahren wurden seltener, als sie sich einer steinernen Treppe näherten, die von der Straße aufwärts führte. Das einzig verfügbare Licht war jetzt das aus den Fenstern der Wohnungen. Und diese waren spärlich, während die Gebäude zunehmend verfallener aussahen.
Orhun warf die Hände in die Luft. »Die Straße endet einfach.«
»Sie endet nicht«, sagte Jane und keuchte leicht. »Lassen Sie uns kurz stehen bleiben, damit wir uns orientieren können.« Jetzt erst fiel ihr auf, dass sie seit ihrer Ankunft in Neapel noch keinen Gebrauch von ihren Italienischkenntnissen gemacht hatte.
Orhun, dem der Aufstieg nichts anzuhaben schien, war im Begriff, etwas zu sagen, überlegte es sich jedoch anders. Offenbar war ihm etwas eingefallen. »Das hätte ich fast vergessen, aber es ist einen Versuch wert«, sagte er und holte sein Telefon hervor. »Ich habe Kamardas Nummer …«
Jane sah, dass Gassen links und rechts der Treppe wegführten. »Vielleicht ist …« Was hatte Orhun gerade gesagt? »Seine Nummer? Wollen Sie ihn anrufen?«
»Nein. Ich will ihn finden.« Er tippte auf seiner Tastatur. »Hm … das sieht doch schon ganz gut aus.«
Er hielt ihr das Handy hin, und sie sah eine Karte in der Art eines Navigationssystems mit einem Pfeil, der von einem grünen Punkt zu einem roten Punkt in der Mitte eines Gitters aus Straßen zeigte. In der Ecke des Displays leuchteten Zahlen auf. »Der grüne Punkt ist mein Telefon. Der rote ist seines.«
Er stand vor der Treppe und hielt das Smartphone waagrecht in den Händen. »Es ist weniger als hundert Meter in diese Richtung.«
»Sie meinen … sein Telefon …?« Allmählich kapierte Jane.
»… ist in der Kirche. Und er hoffentlich auch – lebend.«
Als sie die Treppe hinaufstiegen, sagte Jane: »Ich verstehe, warum es Kalvarienkirche heißt. Wahrscheinlich hatten sie am Karfreitag Kreuzwegstationen hier herauf.«
»Ich sehe ein Kreuz«, flüsterte Orhun.
Dann sah es Jane ebenfalls, und als sie höher stiegen, wurde die Silhouette einer Kuppel unter dem Kreuz sichtbar. Wenn die Kirche säkularisiert worden war, überlegte sie, hätte man dann nicht das Kreuz entfernt? Schließlich kamen sie am oberen Ende der Treppe an und betraten einen kleinen Platz, von dem mehrere Straßen abgingen. Eine einzelne Straßenlampe warf ihr Licht auf eine Statue Christi, der das Kreuz trug, und ließ vier helle Marmorsäulen vor der Kirche hervortreten. Der Rest des Gebäudes lag im Dunkeln.
Dann begann die Kuppel, schwach rot zu leuchten, und sie hörten ein Grollen wie von Donner hinter sich. Als sie sich umdrehten, sahen sie die Lichter der Stadt, die sich um die Bucht herum erstreckte, und dahinter den Vesuv, der wie ein Buckelwal eine Fontäne aus feuriger Lava in den Nachthimmel spie.
Im Schatten des Sockels der Christusstatue blitzte etwas auf. Jane ging hin und rief Orhun zu sich. Jemand hatte ein leistungsstarkes Motorrad hier abgestellt.
»Gehen wir hinein«, sagte Orhun.