21
Zum zweiten Mal in weniger als einem Monat war Jane auf einem Friedhof. Doch dieses Mal als Trauernde. Sie erkannte Lavelles Schwester Mary, die am Grab stand. Ihr Mann Paul hatte den Arm um seine Frau gelegt, und trotz ihres langen Mantels lehnte sie sich zum Schutz vor dem scharfen Wind, der vom Meer her blies, an ihn.
Eine junge Frau hatte sich auf der anderen Seite bei Mary untergehakt; die beiden sahen sich verblüffend ähnlich in ihrer Trauer. Jane nahm an, dass dies Cliona war, mit der sie am Telefon kurz gesprochen hatte. Ein paar Jungs im Teenageralter vervollständigten die Familiengruppe.
Lavelles übrige Geschwister und ihre Familien waren auf der anderen Seite des Grabs versammelt und murmelten ihre Antworten auf das Rosenkranzgebet. Hier und dort entdeckte Jane unter den Jüngeren Ähnlichkeiten mit Lavelle. Es waren die Nichten und Neffen, die er so geliebt hatte, und sein Tod schien sie aufrichtig zu berühren. Ebenso wie mehrere der ernst dreinblickenden Priester in der Menge.
Mary hatte am Vortag angerufen und ihr die Nachricht mitgeteilt, kurz nach der letzten Sendung der Woche. Sie erklärte, dass Lavelle am Wochenende wegen Nierenversagens in die Klinik gekommen war. Sein Zustand hatte sich danach rapide verschlechtert, und er war am späten Mittwochabend gestorben. »Mein Gott, Jane, er war erst zweiundfünfzig …«, hatte Mary unter Schluchzen gesagt.
Da sie keinen Babysitter bekommen konnte und die Kinder nicht schon wieder bei Debbie lassen wollte, hatte Jane beschlossen, sie zur Beerdigung mitzunehmen. Sie musste sich jedoch zwischen Messe und Friedhof entscheiden – beides zusammen hätte den Kleinen zu viel an Durchhaltevermögen abverlangt. Deshalb war sie zum Friedhof gefahren und hatte gewartet, bis der Trauerzug eintraf.
Da Jane Protestantin war, kannte sie die Antworten auf das Rosenkranzgebet nicht; deshalb stand sie nur mit gesenktem Kopf da und beobachtete, wie sich Blüten von einer nahen Weißdornhecke an den grauen Umrandungen der Gräber sammelten wie Streifen von Schaum auf dem Meer.
Das Rosenkranzgebet bildete den Abschluss der Feier, und als es vorbei war, begann sich die Menge langsam aufzulösen. Jane steuerte dagegen auf die Familie zu und reichte Mary die Hand.
»Jane Wade. Es tut mir so leid.«
Mary brachte ein mattes Lächeln zustande, ihr Haar flatterte im Wind. »Danke, dass Sie gekommen sind, Jane.« Sie schaute auf die beiden verwirrt dreinblickenden Kinder, die sich an Janes Beine klammerten. »Was für hübsche Kinder.« Dann sah sie Jane wieder an. »Sie können sie mir nachher im Pub vorstellen. Sie kommen doch noch mit, um etwas zu essen, oder?«
»Äh …« Jane hatte eigentlich nur vorgehabt, auf den Friedhof zu gehen.
»Keine Sorge, ich verstehe, wenn Sie nicht bleiben können. Es ist nicht einfach mit Kindern im Schlepptau. Aber Liam hat etwas für Sie hinterlassen, und es lag ihm am Herzen, dass ich es Ihnen möglichst schnell zukommen lasse.«
»Ach so?«
»Nichts Wertvolles, das kann ich Ihnen sagen. Liam besaß keine irdischen Güter. Aber es schien ihm wichtig zu sein.«
»Ich verstehe. Also gut, ich schaue vorbei.«
Paul und Cliona sprachen gerade mit anderen Trauernden, deshalb bugsierte Jane ihre Kinder, statt den beiden zu kondolieren, an den Rand des Grabs und schaute auf den Sarg hinunter.
»Auf Wiedersehen, Liam«, sagte sie leise und bat Bethann, ihr die rote Rose zu geben, die diese hatte tragen dürfen und die Jane nun auf den Sarg warf.
Auf dem Weg zum Silver Dolphin dachte sie an all die Menschen, die ihr nahegestanden hatten und jung gestorben waren. Ihr Bruder Scott und ihre Schwester Hazel, ihr Mann Ben und jetzt Liam Lavelle. Nicht, dass ihr Lavelle so nahe gewesen wäre, aber er hatte sehr wohl einen besonderen Platz in ihrem Herzen. Ein starkes Angstgefühl wegen Scott und Bethann erfasste sie plötzlich. Sie sah im Rückspiegel nach ihnen. Beide sahen sich Bücher an, die sie mitgebracht hatten. »Alles in Ordnung, ihr zwei?«, fragte sie.
»Ja, Mommy«, antworteten sie im Chor, die routinierte Erwiderung, die zeigte, dass es sich um eine oft gestellte Frage handelte. Sie würde aufpassen müssen, ihre Ängste nicht auf sie zu übertragen.
»Sehr gut. Wir schauen nur ganz kurz bei dieser Frau vorbei, okay?«
»Ja, Mommy.«
Sie blockten ihre Fragen einfach ab, damit sie sich wieder ihren Büchern widmen konnten. Janes Angstattacke erlosch so schnell, wie sie gekommen war.
An der Tür des Silver Dolphin fanden sie sich hinter einigen Leuten wieder, die in die Lounge strömten und plauderten und lachten. Es waren Trauergäste – Jane hatte sie auf dem Friedhof gesehen –, doch an ihrer Fröhlichkeit war nichts Respektloses. So war das auf irischen Begräbnissen. Jane wollte ihnen gerade in die Lounge folgen, als sie hörte, wie jemand nach ihr rief.
Sie drehte sich um und sah, dass Mary ihr von der Tür zum Restaurant winkte. »Kommen Sie hier herein, Jane. Da sind wir ungestört.«
Nachdem Jane die Kinder durch die Tür geschoben hatte, sah sie, dass das Restaurant geschlossen war. Mary sah jetzt weniger abgehärmt aus. Sie hatte sich das Haar zurechtgemacht und ein wenig Make-up aufgetragen. Und unter ihrem Mantel trug sie ein elegantes taubengraues Jackett und einen Rock.
»Und wen haben wir hier?«, sagte sie und bückte sich, um die Kinder direkt anzusprechen.
Sie antworteten scheu und blickten Ermutigung suchend zu ihrer Mutter hinauf.
Mary richtete sich auf und sah Jane in die Augen. »Es tut mir so leid, was mit Ihrem Mann geschehen ist.«
Jane nickte. »Danke.«
»Warten Sie nur einen Augenblick. Ich bin sofort wieder da.« Sie durchquerte das Restaurant, vermutlich, um ins Haus zu gehen.
Jane bat die Kinder, sich auf eine Couch im Eingangsbereich zu setzen. Sie hatten kaum eine Minute gewartet, als die Tür, durch die sie gekommen waren, plötzlich weit aufging und Cliona mit ihrem Smartphone in der Hand eintrat.
»Mom sagt, ich soll Ihnen Gesellschaft leisten«, sagte sie. Das war wenig charmant ausgedrückt, aber in ihrem Tonfall lag auch keinerlei Verdruss. Sie trug einen silbernen Cardigan über einem schlichten schwarzen Kleid, das ihrer schlanken Figur schmeichelte. Das blonde Haar war hinten kurz, aber die Fransen vorn fielen ihr bis auf die Augen.
»Bist du Cliona? Wir haben am Telefon miteinander gesprochen …«
»Ja.«
Cliona sah zu den beiden Kindern auf der Couch. »Möchten die zwei etwas trinken oder knabbern oder so?«
»Nein, vielen Dank, Cliona, sie brauchen nichts.«
»Und wie sieht es mit Ihnen aus?«
Sie überlegte sich, nach einem Glas Wein zu fragen, entschied sich aber dagegen. »Nein, danke.«
Cliona stand verlegen da.
Dann fiel Jane etwas ein. »Sag mal, hast du nicht gerade deinen Einundzwanzigsten gefeiert?«
»Nein. Es war für Donnerstag geplant, aber wir mussten es verschieben.«
»Ach, wie schade. Liam hat bestimmt gehofft, dass seine Krankheit deine Geburtstagspläne nicht durcheinanderbringt, und sicher hätte er nie gedacht«, Jane musste unfreiwillig scharf Luft holen, »dass er nicht mehr dabei sein würde.«
Cliona schüttelte den Kopf und lächelte. »Nein – er wusste, dass er es nicht schaffen würde. Er hat sogar einen Witz darüber gerissen, als ich ihn am Dienstag besucht habe.«
»Einen Witz?«
»Ja, er sagte: ›Ich habe alle deine Geburtstage in den letzten zehn Jahren versäumt, und ich habe nicht vor, dieses Jahr eine Ausnahme zu machen‹.«
Jane lachte kurz. »Er hatte wirklich einen fabelhaften Humor, dein Onkel.«
»Ja. Und er war auch ziemlich mutig. Er wurde entführt, wussten Sie das?«
»Ja.«
Cliona sah Jane durchdringend an. »Er sagte, es hat ihm sehr geholfen, wenn er daran dachte, wie Sie einmal von einem Verrückten entführt wurden und überlebt haben.«
Jane war verdattert. »Wirklich?«, entfuhr es ihr.
»Er hat außerdem erzählt, dass Sie den Kerl mit einer Schere gestochen haben, stimmt das?«
»Äh …ja, aber das war reine Verzweiflung, Cliona, keine Tapferkeit.«
»Egal, er fand Sie jedenfalls ziemlich cool«, fügte Cliona beiläufig an, ehe sie sich vor die Couch kauerte und die Kinder ansprach. »Wie heißt ihr beiden denn?«
Cliona redete noch mit ihnen, als Mary einige Minuten später mit einem braunen DIN-A4-Kuvert ins Restaurant zurückkam. »Liam sagte, das soll ich Ihnen so schnell wie möglich nach der Beerdigung geben. Er sagte, er habe vorgehabt, an dem Tag, an dem Sie hier waren, mit Ihnen darüber zu reden, aber dann sei er zu müde gewesen.«
Jane hatte an jenem Nachmittag nichts davon bemerkt, dass er müde geworden war. Doch sie war wohl zu sehr mit der Geiselnahme in Istanbul beschäftigt gewesen.
»Da fällt mir ein, Mary, wir haben Sie schon einmal als Vermittlerin eingesetzt.« Sie bezog sich darauf, dass Mary einmal ein Schriftstück für sie zu Lavelle geschmuggelt hatte, als sie beide von der Polizei überwacht worden waren.
»Tja, das wird jetzt wohl das letzte Mal gewesen sein«, sagte Mary und bemühte sich zu lächeln, aber ihre Unterlippe zitterte.
Jane nahm den Umschlag entgegen, dann umarmten sie sich.