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Sein Herz schlug heftig. Vielleicht gab es eine logische Erklärung für das, was er gerade entdeckt hatte. Aber Bruder Petros befürchtete das Schlimmste.
Die amerikanische Expertin, der sie die Untersuchung des Ahdname erlaubt hatten, war vor einigen Tagen gekommen und wieder abgereist. Zu der Gruppe, die eingetroffen war, hatten drei Vertreter der ägyptischen Regierung gehört, ein wie eine Ninja-Kriegerin aussehendes asiatisches Mädchen, das er für die Assistentin der Expertin oder möglicherweise ihre Leibwächterin hielt, und die Paläografin selbst.
Er hatte keine Frau erwartet. Nicht dass Frauen im Kloster nicht zugelassen waren. Aber als einer der Bibliothekare, die Englisch sprachen, sollte er ihr bei ihrem ganztägigen Besuch zur Seite stehen. Und sie war relativ jung, Mitte dreißig, schätzte er, und sehr attraktiv.
Ihr Name war Dr. Barbara Kelsey, und nachdem sie einander am Morgen vorgestellt worden waren, hatte er sie durch die Bibliothek geführt. Der Abt hatte die Ägypter zu Erfrischungen eingeladen, gefolgt von einer zwanglosen Tour durch das Kloster, während die Leibwächterin oder was immer sie war, sich am öffentlichen Eingang zur Bibliothek postiert hatte. Der für Besucher zugängliche Teil war an diesem Tag geschlossen, aber es gab immer Leute, die eine geschlossene Tür mit einem Schild, auf dem »Kein Zutritt« stand, als einen Angriff auf ihre persönlichen Rechte ansahen.
Die Bibliothek hatte sich in den letzten Jahren durch Renovierung und neue Methoden der Konservierung stark verändert. Eine der größten Veränderungen betraf das Projekt, bei dem der größte Teil der Handschriften und frühen gedruckten Bücher in speziell konstruierte Edelstahlbehälter verlegt wurde. Die großartige Sammlung der Bibliothek sollte dadurch besser vor dem Zahn der Zeit geschützt werden und vor Erdbeben und Feuer sicher sein, aber es machte einen Besuch sehr viel weniger attraktiv. Noch gab es jedoch genügend nicht verpackte Bände in den Regalen hier und dort, die man bei einem kurzen Besuch herzeigen konnte, insbesondere in der Nähe des Digitalisierungsstudios, wo einige Texte aus dem 1975 gefundenen Schatz versammelt waren.
Bei ihrem Rundgang wurde sich Bruder Petros mehr und mehr Dr. Kelseys Weiblichkeit bewusst. Und obwohl sie durchaus sittsam gekleidet war, bemerkte er, als sie die Treppe zur Galerie hinaufstiegen, dass ihre wohlgeformten Beine nackt waren. Ihm dämmerte, dass er den größten Teil des Tages in relativer Nähe zu ihr verbringen würde, denn es war üblich, dass man Forscher, die zu Besuch weilten, diskret überwachte. Doch in seinem Kopf bildete sich bereits eine Strategie heraus.
Er zeigte ihr gerade ein Manuskript, an das er sich jetzt nicht mehr erinnerte, als sie fragte: »Verleihen Sie die Sachen auch?«
Bruder Petros lächelte. Sein langer Bart war von Grau durchsetzt, aber er war noch keine vierzig.
»Selten. Wir mussten vor nicht allzu langer Zeit eine schmerzliche Lektion lernen.«
»Ach ja?«
»Ja. Im Jahr 1865.« Er wartete auf ihre Reaktion.
»Mein Gott, das ist ja wirklich noch ganz frisch«, ging sie auf seinen Witz ein. Die Bibliothek existierte seit siebzehnhundert Jahren. »Was ist passiert?«
»Der Codex Sinaiticus, eine Bibel aus dem 4. Jahrhundert, wurde von einem deutschen Gelehrten namens Konstantin von Tischendorf im Auftrag des russischen Zaren ausgeliehen. Er wurde nach St. Petersburg geschickt, kam aber nie mehr zurück.«
»Man sieht, dass Sie immer noch verärgert darüber sind«, sagte sie und lächelte. »Ich bin genauso, was das Verleihen von Büchern angeht. Ich erinnere mich an alle, die nicht mehr zurückkommen, aber irgendwie vergesse ich immer, wem ich sie geliehen habe.«
Diese Unterhaltung entkrampfte ihr Verhältnis spürbar, und als sie den kleinen Tisch, auf dem der Schutzbrief Mohammeds lag, erreichten, glaubte Bruder Petros, seine Wachsamkeit ein wenig lockern zu können. Man hatte vereinbart, dass das Dokument, das ursprünglich eine Schriftrolle war, aus dem Glasrahmen entfernt wurde, in dem es ausgestellt war.
Er entschuldigte sich für das schlichte Mobiliar. Die Bibliothek mochte an zweiter Stelle hinter der des Vatikans kommen, aber sie wurde immer noch von klösterlicher Kargheit beherrscht, auch wenn es seit Kurzem einen Lesesaal für zu Besuch weilende Wissenschaftler gab. Der Abt hatte jedoch verfügt, das Ahdname nicht weit von der Wand zu entfernen, an der es normalerweise hing.
Bruder Petros sah, wie Dr. Kelsey ihre Tasche auf den Tisch stellte und ihr die Hilfsmittel entnahm, die man ihr genehmigt hatte: eine Digitalkamera, ein Vergrößerungsglas mit eingebauter LED-Lampe, die nur kaltes Licht ausstrahlte, ein Notizbuch, Bleistifte und ein klobiger Zeichenblock für Künstler – andere Zeichen- oder Schreibinstrumente waren nicht erlaubt. Weiße Baumwollhandschuhe waren nicht mehr vorgesehen, da sie keinen Vorteil gegenüber sauberen Händen boten. Im Gegenteil war man mit Handschuhen weniger geschickt beim Umblättern der alten Manuskripte, was die Gefahr einer Beschädigung nur vergrößerte.
Der Schutzbrief war aus Papier, das auf Textil gespannt war, und es handelte sich um eine türkische Kopie des auf den 7. Juli 623 datierten arabischen Originals. Wo der Handabdruck des Propheten ursprünglich die Sicherheitsgarantie für das Kloster beglaubigt hatte – da er seinen Namen nicht schreiben konnte –, befand sich nun die grobe Zeichnung einer Hand. Bruder Petros hatte keine Ahnung, was Dr. Kelsey zu beweisen oder zu widerlegen hoffte. Niemand behauptete, das Dokument sei etwas anderes als eine Kopie des Originals, von Sultan Selim im Jahr 1517 dem Kloster zur Verfügung gestellt. Es war außerdem die Mutter weiterer Kopien in orthodoxen Klöstern, die mit dem Katharinenkloster in Verbindung standen. In dieser Hinsicht hatte sich die Macht des Ahdname häufig als Talisman gegen Herrscher erwiesen, die willkürlich entscheiden mochten, die weitere Existenz eines Klosters zu bedrohen. Was versuchte sie also festzustellen? Ihre einzige Information war, dass die extremistische orthodoxe Gruppe, die die Hagia Sophia besetzt hielt, es verlangt hatte. Aber was genau eigentlich?
Als Dr. Kelsey ihre Jacke auszog, ehe sie sich an den Tisch setzte, beschloss Bruder Petros, es zu riskieren. »Was hoffen Sie zu entdecken?«, fragte er rundheraus.
Sie sah ihn gleichmütig an. »Ich bin als Expertin für ottomanische Dokumente hier. Man hat mich gebeten zu bestätigen, dass dies die Kopie des Schutzbriefs ist, die Sultan Selim dem Kloster als Ersatz für das Original gestiftet hat. Das ist alles.«
Es war eine Antwort, bei der ihm irgendwie unbehaglich zumute wurde. Als würde der gute Ruf des Klosters infrage gestellt. Eine merkwürdige Situation, die eine angeblich proorthodoxe Gruppe da geschaffen hatte. Doch dann schweiften seine Gedanken ab, denn als Dr. Kelsey ihre Jacke über die Stuhllehne hängte und sich setzte, konnte er nicht umhin zu bemerken, wie die eng sitzende Bluse, die sie trug, ihren üppigen Busen betonte. Er konnte sogar das Muster ihres BHs durch den Stoff sehen. Er hatte nicht die Absicht, sich auf längere Diskussionen mit ihr einzulassen.
»Ich überlasse Sie dann mal Ihrer Arbeit«, sagte er. »Wenn Sie mich brauchen, ich bin in dem ehemaligen Ikonenraum auf der anderen Seite des Gangs.« Er nickte in Richtung Tür. Bruder Petros war ein Mann, der sich seinen heiligen Pflichten hingebungsvoll widmete. Und den ganzen Tag dazusitzen und eine so attraktive Frau wie Dr. Kelsey zu beobachten würde ihn nur ablenken.
Ein paar Stunden später klopfte sie an die Tür des Raums, der früher die Ikonensammlung des Katharinenklosters beherbergt hatte. Die Sammlung war in einen anderen Teil des Klosters verlegt worden, man hatte nur einige Bilder zurückgelassen, um den in der Bibliothek tätigen Mönchen eine Gelegenheit zu stiller Kontemplation zu geben.
Der Abt hatte angeordnet, ihr ein Mittagessen zu bringen, wann immer sie es wünschte, deshalb nahm Bruder Petros an, dass sie jetzt ihre Pause machen wollte.
»Ich bin fertig mit dem, was ich hier zu erledigen hatte«, sagte sie, als sie die Tür aufmachte. Sie hatte ihre Jacke wieder an und die Tasche über der Schulter hängen.
Das überraschte Bruder Petros. Er hatte erwartet, sie würde den ganzen Tag hier sein, und er müsste sich ewig in ihrer Nähe herumdrücken, bis sie endlich fertig war. »Äh … und?«, sagte er.
»Ich werde mir meine Notizen und Fotos noch genauer ansehen müssen. Und mein Bericht wird natürlich vertraulich sein.« Sie lächelte. »Aber es besteht kein Grund zur Sorge für Sie.« Sie sagte es auf eine Weise, dass er sich vorkam wie ein Schulkind, dessen Lehrer gerade die Hausaufgabe korrigiert hatte.
Kein Grund zur Sorge, hatte sie gesagt. Doch jetzt hatte er wahrhaftig einen Grund zur Sorge. Bruder Petros hatte nämlich gerade Dr. Kelseys Zeichenblock in einem der Regale gefunden.
Es war in dem Bereich, der dem Fund von 1975 gewidmet war. Er hatte ihr diese Sammlung bei seiner Führung durch die Bibliothek gezeigt und erklärt, dass einige der Werke immer noch studiert würden, während andere zur Digitalisierung eingeplant seien. Das Studio war ein Stück von ihrem Arbeitsplatz entfernt, der Zeichenblock konnte also nicht versehentlich dort abgelegt worden sein.
Er stand aufrecht zwischen zwei Handschriften in Schutzhüllen, die man vorübergehend auf dem Rücken mit einem Code etikettiert hatte, der ihren Platz im Studienprogramm anzeigte. Das hatte ihn zuerst verwirrt, denn der Block war ähnlich etikettiert, offenbar, um vorbeigehende Bibliothekare zu täuschen, die zufällig einen Blick darauf warfen. Als er ihn zwischen den beiden anderen Bänden herauszog, war ihm klar, dass Dr. Kelsey ihn dorthin gestellt hatte, um einen dritten zu ersetzen, den sie gestohlen hatte. Es war von Anfang an geplant gewesen, ihre bauchige Tasche hatte den Austausch ermöglicht, ohne dass es beim Hinausgehen auffiel, und sie hatte das falsche Buch zurückgelassen, damit der Tausch nicht sofort auffiel.
Wenigstens befand sich der prächtige Behälter, in dem man das Buch gefunden hatte, noch wohlverwahrt in einem anderen Teil der Bibliothek. Manuskripte, die studiert werden sollten, wurden aus ihren Hüllen genommen, und dieses hier hatte in einem emaillierten, goldenen Buchschrein von der Art gesteckt, die man normalerweise mit Evangelien und anderen heiligen Texten in Verbindung brachte. Aber es war kein biblisches Manuskript. Es war ein Buch mit Prophezeiungen aus dem 8. Jahrhundert.
Bruder Petros setzte sich und überlegte, was da direkt vor seiner Nase passiert war. Dann fing er zu lachen an. Nach all der Aufregung und Sorge um den Schutzbrief Mohammeds, der längst wieder an seinem Platz an der Wand stand, erheiterte ihn die Entdeckung, dass auch dieser, genau wie die attraktive Dr. Kelsey, die ganze Zeit nur als Ablenkung gedient hatte.