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Jane schaffte es bis kurz nach neun in die Arbeit. Das war nicht allzu spät, wenn man die verlorene Stunde bedachte, aber das Erlebnis hatte sie erschüttert, und sie litt immer noch unter einem Kater. Zudem musste sie sich mit einigen der Themen für die Sendung vertraut machen. Auf dem Weg zum Studio hatte sie Ali angerufen, und sie hatten die Beiträge des Tages durchgesprochen und entschieden, welcher ihr aktueller Aufhänger sein würde. Es war schwer, von der internationalen Lage loszukommen, die immer noch die Nachrichten dominierte.
Am Morgen war eine Umfrage veröffentlicht worden, wie die Menschen quer durch die EU auf die Krise reagierten. Sie würde ihnen einen neuen Blickwinkel liefern. Paddy Wright, der immer noch in Istanbul war, hatte sich mit der Erhebung befasst und stand bereit, um sich mit Jane darüber zu unterhalten.
Sobald sie sich im Studio eingerichtet hatte, rief sie Joe Brady wegen der Recherche an, um die sie ihn am Vortag gebeten hatte. Nachdem sie sich eine rasche Zusammenfassung seiner Ergebnisse angehört hatte, lud sie ihn ein, an ihrem Gespräch mit Paddy Wright teilzunehmen.
»Heute Morgen haben wir die Ergebnisse einer europaweiten Umfrage über die Haltung der Leute zur gegenwärtigen Krise bekommen«, sagte sie, als Paddy bereit war. »Unser Reporter Paddy Wright hatte ein wenig mehr Zeit, die Informationen zu verdauen, und er ist jetzt in der Leitung. Was sind die wichtigsten Befunde der Umfrage, Paddy?«
»Guten Morgen, Jane. Nun, anscheinend sind die meisten EU-Bürger überzeugt, dass die Krise vorübergehen wird … und sie sind offenbar skeptisch im Hinblick darauf, wie es überhaupt zu der ganzen Sache kam.«
»Inwiefern sind sie skeptisch?« Jane stellte das Mikrofon ab und trank einen Schluck Wasser.
»Zunächst einmal wurden sie gefragt, ob sie glaubten, die Krise sei a) von Terroristen verursacht worden, die allein handelten oder b) von einem Nationalstaat, der sich einer Bande bediente. Und sie entschieden sich für die zweite Möglichkeit. Darauf sollten sie sagen, von welcher der folgenden Länder die Bande finanziert wurde: Griechenland, Iran, Israel, Russland oder USA. Und die Mehrheit stimmte für die USA.«
»Im Ernst? Wie kamen sie denn zu dieser Folgerung?«
»Sie glauben, dass die Amerikaner einen Vorwand gesucht haben, um den Iran anzugreifen, und dass sie Israel benutzten, das Regime in Teheran aus der Deckung zu locken.«
»Und warum glaubt man, die Amerikaner wollten den Iran angreifen?« Jane hatte das Gefühl, dass Joe sie merkwürdig anblickte.
»Weil die USA das Land beschuldigt, Terrorismus gegen sie selbst und gegen Israel zu unterstützen … und es als Bedrohung für die Interessen der USA und ihrer Verbündeten in der Golfregion ansieht, wo – wie man nicht vergessen darf – zwei Drittel der Rohölreserven auf der Welt lagern.«
»Aber der Iran musste gar nicht angestachelt werden. Das Land gibt schon seit Beginn dieser Krise kriegerische Töne von sich«, sagte Jane. Ihre Stimme hörte sich im Kopfhörer einwandfrei an, und sie hatte keine Versprecher.
»Das stimmt. Aber wenn man etwas unbedingt glauben will, neigt man dazu, die Fakten zu übersehen. So wie die Leute auch zu vergessen scheinen, dass die iranische Führung Israel von der Landkarte getilgt sehen will.«
Jane bemerkte, dass Joe an seinen Hemdknöpfen herumfummelte und sie anstarrte.
»Lassen Sie uns … äh, kurz über die Russen sprechen, Paddy«, sagte Jane leicht abgelenkt. »Sie hatten gute Gründe, sich gegen eine israelische Blockade ihres Zugangs zum Mittelmeer zu wenden, keine Frage – aber jetzt scheint es, als wäre ihnen jeder Vorwand recht, um eine Auseinandersetzung mit den Israelis zu provozieren.« Danach brauchte sie noch einen Schluck Wasser. Als sie die Flasche zum Mund hob, liefen ein paar Tropfen daran hinunter und tropften ihr auf die Brust. Sie sah nach unten und stellte fest, dass ihre Bluse bis zum Nabel offen stand. Und was noch schlimmer war, sie trug einen BH, der eindeutig ein paar Mal zu oft in der Waschmaschine gewesen war. Sie warf Ali und Laura auf der anderen Seite des Glases einen zornigen Blick zu. Hätten sie es ihr nicht sagen können?
»Ich glaube, es geht darum, die islamischen Staaten in der Region zu beeindrucken«, sagte Wright, während Jane ihre Bluse zuknöpfte. »Die Russen wollen sie auf ihrer Seite haben, wenn es darum geht, den amerikanischen Einfluss in Zentralasien zu begrenzen. Deshalb umwerben sie insbesondere den Iran und haben sogar dessen erstes Kernkraftwerk gebaut.«
»Und sagen Sie, hat das Institut, das die Meinungsumfrage durchführte, etwas zu diesen – für mich jedenfalls – unerwarteten Resultaten bemerkt?« Sie sah zu Joe hinüber, der lächelte und ihr den erhobenen Daumen zeigte. Sie zuckte mit den Achseln und zeigte ihm ebenfalls den Daumen. Aber es war ihr peinlich.
»Nur die Beobachtung, dass Europa den Nahen Osten mit jahrelangem Hass und zerstörten Hoffnungen assoziiert«, sagte Wright. »Und dass es vor ihrer Haustür passiert, nicht vor der der Amerikaner. Deshalb würden sie die Vorgänge dort mit einem gewissen Zynismus betrachten, vor allem, wenn sie glauben, dass die Amerikaner ihre Finger im Spiel haben.«
»Was uns zur Haltung der USA gegenüber Israel bringt – und Joe Brady ist hier bei uns, um darüber zu sprechen. Dort könnten die Dinge im Vergleich zu Europa nicht verschiedener liegen, Joe.«
»Das stimmt, Jane«, begann Joe. »Israel nimmt in bestimmten Teilen der Vereinigten Staaten eine fast mystische Position ein. Und ich meine nicht nur die jüdische Bevölkerung. Christliche Zionisten, die eine sehr einflussreiche Gruppe in der amerikanischen Politik sind, betrachteten den modernen Staat Israel als die Erfüllung verschiedener Prophezeiungen in der Bibel.«
»Für diese Leute sind Politik und Prophezeiung also ein und dasselbe.«
»Ja, und weil die Gründung des Staats Israel und die Einwanderung von Juden dort für sie zum Heraufdämmern der letzten Tage gehören, bestimmt dieses Szenario ihre politischen Ansichten über den Nahen Osten. Für christliche Zionisten umfasst Israel Judäa und Samaria – das Westjordanland, wie wir sagen würden –, deshalb unterstützen sie den Bau neuer Siedlungen dort. Sie zitieren auch gern eine Zeile aus dem Buch Genesis, wo Gott zum Volk Israel spricht und sagt: ›Ich werde diejenigen segnen, die euch segnen, und diejenigen verfluchen, die euch verfluchen.‹ Um diesem Szenario zu entsprechen, muss Israel von Feinden umgeben sein, was es ist – und es sind lauter islamische Länder. Und von diesen Ländern ist der Iran der böseste und bedrohlichste. Und da Israels Feinde auch ihre sind, macht das den Iran zum Feind Nummer eins.«
»Auch wenn sie nicht wussten, warum«, sagte Jane, »liegen die Leute, die vermuten, dass die Vereinigten Staaten hinter den Spannungen zwischen Iran und Israel stecken, also möglicherweise gar nicht so falsch.«
»Ja. Und wie gesagt, der ganze Sinn der Unterstützung christlicher Zionisten für Israel besteht darin, den Weg für die Wiederkunft Christi zu bereiten. Und es wird Sie vielleicht überraschen, aber einer von fünf Christen in den USA – und nicht nur christliche Zionisten – glaubt, dass dieses Ereignis zu ihren Lebzeiten eintreten wird.«
»Und was soll mit den Juden geschehen, die nach Israel zurückgekehrt sind?«
»Kommt darauf an, wer die entsprechenden Bibelstellen interpretiert. Aber es ist klar, dass sie ziemlich leiden werden, und wenn es nicht die Große Drangsal mit ihren Kriegen, Seuchen und so weiter ist, dann wird es der Antichrist sein, der einen Angriff auf Israel startet. Oder wie es einige zeitgenössische Autoren ausdrücken – Russland, das ein Bündnis mit islamischen Kräften schmiedet, um Israel zu erobern.«
»Wäre das dann vielleicht Magog zusammen mit Ägypten und Persien, wie es eine Anruferin vor nicht allzu langer Zeit hier erzählt hat?«
»Vermutlich. Aber ich glaube, die Passage mit dem deutlichsten aktuellen Bezug stammt aus dem Lukas-Evangelium, wo Jesus mit den Worten zitiert wird: ›Wenn ihr aber seht, dass Jerusalem von einem Heer eingeschlossen wird, dann könnt ihr daran erkennen, dass die Stadt bald verwüstet wird. Dann sollen die Bewohner von Judäa in die Berge fliehen; wer in der Stadt ist, soll sie verlassen, und wer auf dem Land ist, soll nicht in die Stadt gehen.‹ … ›Verwüstet‹ klingt nach Atomkrieg, oder? Vor allem, wenn man bedenkt, dass davor gewarnt wird, in die Stadt zu gehen.«
»Ich kenne mich in diesen Dingen nicht besonders gut aus«, mischte sich Paddy Wright wieder in die Diskussion ein. »Aber sollte nicht irgendwann in dieser Zeit die Entscheidungsschlacht des Armageddon stattfinden?«
»Ja, und ebenfalls auf israelischem Boden«, sagte Joe. »Und danach wird Christus zurückkehren und den Antichrist und seine Armeen in den See aus Feuer werfen. Dann werden die Juden Christus endlich als ihren Retter erkennen, und Israel wird wiederhergestellt werden.«
»Puh, einfach unglaublich, dass manche Leute diese Prophezeiungen als Ereignisse in der echten Welt auffassen«, sagte Wright.
»Nicht nur das, sie erwarten sie mit Ungeduld, und sie wollen, dass die Uhr ein bisschen schneller tickt«, sagte Joe. »Es gibt einen Prediger namens R. J. Harper, der beteuert, Christen hätten eine Verantwortung dafür, die Endzeit herbeizuführen, und müssten entsprechend handeln. Das ist zwar keine konkrete Anweisung, aber leicht als Aufforderung zu interpretieren, Unruhe im Nahen Osten zu schüren.«
»Aber wir haben keinen Beweis dafür, dass das Vorgehen der Belisarius Brigade eine Reaktion auf Harpers Aufruf war«, sagte Wright.
So ein Beweis existiert möglicherweise nicht, dachte Jane. Doch nun, da sie wusste, dass die Feinde, die sich gegen Israel zusammenrotteten, eine Bedingung der Endzeit-Prophezeiungen war, hatte sie den Verdacht, dass die Verbindung zwischen der Brigade und Harper der »Gefallen« war, von dem Perselli gesprochen hatte.
»Und an diesem Punkt müssen wir unsere Diskussion beenden«, sagte Jane und sah auf die Uhr. »Ich danke euch beiden für eure Beiträge.«
»Eine Sache möchte ich rasch noch loswerden«, sagte Wright. »Unter den Fragen der Meinungsforscher war auch eine, die ernsthafte Auswirkungen auf die Türkei haben könnte.«
»Ach so – nämlich?«, sagte Jane.
»Gefragt, ob sie der Ratifizierung des türkischen EU-Beitritts zustimmen würden, antworteten die meisten Leute mit Nein – auch wenn sie den türkischen Beitritt ursprünglich befürwortet hatten. Sie glauben zwar, dass die gegenwärtigen Schwierigkeiten vorübergehen werden, aber sie befürchten, eine Türkei in der EU könnte der bevorzugte Ort aller möglichen Terroristen werden, um ihrem Groll Luft zu machen. Ob beabsichtigt oder nicht, hat die Belisarius Brigade also möglicherweise die EU-Mitgliedschaft der Türkei zunichtegemacht.«