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Jane und Giuseppe sprachen kaum etwas auf dem Weg nach Senise, wo Jane den Bus nach Neapel nehmen würde. Sie fühlte sich nicht ganz wohl und hätte eine ruhigere Zugfahrt vorgezogen, aber es gab keine Eisenbahnverbindung in der Gegend. Verkatert zu sein war eine Erfahrung, die sie seit Bens Tod häufig gemacht hatte, und sie wusste, sie musste ihren Alkoholkonsum in den Griff bekommen – aber noch nicht sofort.

Zumindest musste sie nicht selbst nach oder, noch schlimmer, durch Neapel fahren. Der grelle Sonnenschein war jedoch ein Ärgernis, selbst durch ihre Sonnenbrille. Sie beabsichtigte, sich einen Fensterplatz im Bus zu suchen, den Vorhang zuzuziehen und die ganze Fahrt zu schlafen. Sie würde fast vier Stunden dauern. Giuseppe hätte sie jederzeit hingebracht, aber sie hatte bereits die ganze Woche sein Auto benutzt und wollte seine Gastfreundschaft nicht überstrapazieren.

Sie schloss die Augen und dachte über ihre Beziehung zu Giuseppe nach. Er war ihr Lehrer gewesen, als sie in den 1990er-Jahren beschloss, Italienisch zu lernen. Dann entdeckte sie, dass er umfangreiche Kenntnisse über eine Reihe von Themen wie italienische Geschichte oder Literatur und Filme besaß, und sie interviewte ihn in den folgenden Jahren hin und wieder in ihren Radiosendungen. Und dann hatte er sich bei ihr gemeldet und ihr mitgeteilt, er und Lucia würden für immer nach Hause zurückkehren. Man hatte ihn zu einer Teilzeitarbeit bei der Tourismusbehörde der Basilikata überredet. Seine Pensionierung als Lehrer stand ohnehin bevor, deshalb zogen er und Lucia wieder nach Sant’Elia, um in dem Haus zu wohnen, das seit Generationen im Besitz seiner Familie war. Das Bergdorf selbst lag im Herzen des größten Naturparks des Landes, was zu der Attraktivität der Gegend beitrug. Aber da sehr viele Ortschaften aufgrund der geografischen Gegebenheiten nur schwer erreichbar waren, bestand wenig Gefahr, dass die Region vom Massentourismus überrannt wurde. Nach Giuseppes fester Überzeugung würden ihnen Geschichte und Natur jedoch eine weitsichtigere Form von Tourismus einbringen. Und sein erstes Projekt war es gewesen, ein kleines Museum aufzubauen, das sich der Geschichte des brigantaggio in der Gegend widmete. Diese Form des Banditentums hatte Süditalien im 19. Jahrhundert befallen und wurde von manchen als eine Art Widerstandsbewegung im Sinne der Armen angesehen, von anderen als eine Terrorherrschaft, die der Bevölkerung von skrupellosen Verbrechern aufgezwungen wurde.

»Oh«, rief Giuseppe plötzlich aus.

Jane öffnete die Augen und sah, dass sie zu der Brücke über das Reservoir kamen. Ein allradgetriebenes Polizeifahrzeug stand an einem Ende der Brücke, daneben zogen zwei Taucher ihre Anzüge an.

»Sie suchen nach Enzo Buas Leiche«, sagte Giuseppe.

Ein Stück weiter begegneten sie einem Pick-up des Zivilschutzes mit einem Schlauchboot auf einem Anhänger.

»Gehört wohl ebenfalls zur Suche.«

»Hm«, murmelte Jane und schloss wieder die Augen.

»Hast du dir schon einmal überlegt, Jane … Wenn wir wüssten, auf welche Weise wir sterben werden, würden wir uns dann anders verhalten?«

Es war nicht nötig, dass sie etwas antwortete. Giuseppe hatte die Angewohnheit, laut nachzudenken.

»Und wenn es uns jemand sagte, würden wir es ihm überhaupt glauben?«, fuhr er fort.

Jetzt war sie erst recht entschlossen, nichts zu sagen. Auf eine Diskussion, ob es möglich war, die Zukunft zu kennen, war sie gewiss nicht scharf.

»Auch absurde Zufälle können sich im Zusammenhang mit unserem Schicksal ereignen«, redete Giuseppe immer weiter. »Nimm Worte, zum Beispiel. Meine Großmutter ging eines Tages in den Wald, um Pilze zu sammeln, und wurde von einem wilden Eber angegriffen. Sie hätte ihre Verletzungen wahrscheinlich überlebt, nur dass sie sich nicht mehr bewegen konnte und erst am nächsten Tag gefunden wurde – an Unterkühlung gestorben. Hätte sie überlebt, sie wäre die Erste gewesen, die über das absurde Zusammenspiel gelacht hätte, dass sie von einem Schwein attackiert wurde, während sie porcini sammelte, wie die Steinpilze bei uns heißen – Schweinchen also.«

Wäre sie nicht so verkatert gewesen, hätte Jane ebenfalls gelacht. So aber brachte sie nur ein emotionsloses »erstaunlich« zuwege.

»Jetzt haben wir hier das Beispiel eines Manns, der in einem Speichersee in Italien ertrinkt. Einem künstlichen See, der Millionen von Menschen mit Wasser versorgen soll. Und der Ort in Albanien, von dem seine Vorfahren vor über fünfhundert Jahren kamen, hieß ›Trockensee‹. Glaubst du, das ist mehr als reiner Zufall?« Diesmal schien er eine Reaktion zu erwarten. »Eine Art kosmischer Witz«, ließ er nicht locker. »Der uns vielleicht sagen will, dass das Leben im Grunde ein lachhaftes Spiel ist. Dass unser aller Leben absurd ist und unser Tod erst recht.«

Giuseppe schien in diesem Moment vergessen zu haben, dass Janes Mann Ben erst vor einem halben Jahr getötet worden war. Aber es störte sie nicht. Es passierte ziemlich oft. Die Leute konnten sich nicht an die Vorstellung gewöhnen, dass sie Witwe war – sie konnte es ja selbst nicht. Erleichtert stellte sie fest, dass sie in die Stadt kamen. Bis zum Busbahnhof war es nur noch ein kurzes Stück.

»Komischerweise habe ich heute Morgen beim Aufstehen etwas über die Türkei in den Nachrichten gehört«, sagte er, als gehörte es zu ihrer Unterhaltung.

»Wirklich?« War sie eingenickt und hatte etwas überhört? Dann wurde ihr klar, dass es mit den ottomanischen Türken und den Albanern zu tun hatte, die vor ihnen nach Süditalien geflohen waren.

»Ich glaube, sie haben die Kirche der heiligen Weisheit in Istanbul besetzt. Die Hagia Sophia, du weißt schon.«

Jane setzte sich abrupt auf. »Wer hat sie besetzt?«

»Terroristen. Militante Islamisten vielleicht. Das ist nicht klar.«

Janes Herz setzte einen Schlag aus. Die Türkei war im Begriff, ein Beitrittsabkommen mit der EU zu unterzeichnen. Und da Irland aktuell die EU-Ratspräsidentschaft innehatte, würde die Zeremonie, an der alle Staatsoberhäupter teilnahmen, in ein paar Tagen in Dublin stattfinden. Und nicht nur das – am nächsten Morgen würde sie in Wade’s World, ihrer täglichen Radiosendung, auf das zweitägige Ereignis vorausblicken.

»Haben sie Forderungen gestellt?«, fragte sie und sah auf die Uhr ihres iPhones. Es war kurz vor sieben in Irland. Sinnlos, jetzt jemanden vom Team der Sendung anzurufen.

»Das wurde nicht gesagt. Aber sie haben Geiseln genommen.« Giuseppe hielt an der Bushaltestelle.

Dann fiel Jane ein, dass Sonntag war. Die Sendung wurde am Wochenende nicht ausgestrahlt. Sie stieg aus und ging nach hinten, um ihr Gepäck zu holen, aber Giuseppe kam ihr zuvor und lächelte wie immer. Es tat ihr leid, dass sie so wortkarg gewesen war, und sie hoffte, er hatte es nicht bemerkt. Er stellte ihren Rollkoffer auf den Gehsteig, und sie nahm ihren Rucksack ab und packte ihn obendrauf, um Giuseppe richtig umarmen zu können.

»Arrivederci, mein Lieber. Und danke für alles. Sag Lucia auch noch mal meinen Dank.«

»Cara Jane. Es war sehr schön, dich zu sehen. Und wenn du das nächste Mal beschließt, dein Italienisch aufzufrischen, musst du länger bleiben.«

»Natürlich.«

»Nicht dass es viel Verbesserung nötig hätte.« Er lächelte, dann bückte er sich in den Wagen und holte eine in weißes Seidenpapier gewickelte Flasche heraus. »Aglianico del Vulture«, sagte er und überreichte ihr die Flasche. »Ich denke, wir haben dich von seinen … Vorzügen überzeugt, oder?«

»Si. Grazie, Giuseppe.« Der ausgezeichnete Rotwein von den Hängen des Monte Vulture war einer der wenig bekannten Schätze der Basilikata.

»Wie alle guten Dinge muss er langsam genossen werden.« Er küsste sie sanft auf die Stirn. »Pass auf dich auf.«

Den Tränen nahe umarmte sie ihn noch einmal, und in diesem Moment fuhr auch schon der Bus vor. Jemand zog die Tür der Ladebucht im Bauch des Busses auf, und Giuseppe hob ihren Koffer hinein. Dann winkte er noch einmal, ging zu seinem Wagen zurück und war weg.

Jane bestieg den Bus und suchte sich einen Fensterplatz im hinteren Teil. Es sah ganz bequem aus, und sie konnte wie gewünscht über den Vorhang verfügen. Sie setzte sich und lehnte sich an die Scheibe.

Der Motor tuckerte im Leerlauf vor sich hin. Der Fahrer hatte den Bus verlassen und trank einen Espresso in einer nahen Bar, während er sich angeregt mit jemandem in dem Lokal unterhielt.

Jane würde keine Ruhe finden, bis der Bus fuhr. Sie kramte ihr Smartphone wieder hervor und klickte sich in die Online-Ausgabe der Irish Times, um zu sehen, wie sie diese Geschichte in Istanbul behandelten. Es war nicht die Hauptschlagzeile, aber sie fand es in der Rubrik Weltnachrichten.

BESETZUNG DER HAGIA SOPHIA MIT GEISELNAHME

Eine bewaffnete Bande hat Berichten zufolge Istanbuls bekanntestes historisches Gebäude besetzt und bis zu zwanzig Geiseln genommen. Die Hagia Sophia (Ayasofya auf Türkisch), die frühere Kirche der heiligen Weisheit, wurde im 6. Jahrhundert erbaut und war nacheinander eine Basilika, eine Moschee und zuletzt ein Museum. Kurz nach Schließung für die Öffentlichkeit verschaffte sich gestern Abend eine unbekannte Anzahl von Eindringlingen Zugang und überwältigte das Sicherheitspersonal. Rund zwanzig Personen, die sich auf einer privaten Führung durch das Gebäude befanden, wurden als Geiseln genommen.

Die Besetzung der Hagia Sophia fällt zeitlich mit dem Beitritt der Türkei zur Europäischen Union diese Woche in Dublin zusammen. Proteste gegen die Mitgliedschaft des Landes in der EU gab es in einer Reihe von Mitgliedsstaaten sowie in der Türkei selbst, wo die Regierung einräumte, sie habe angesichts des offenkundigen Widerwillens, dem Land die Tür zu öffnen, gelegentlich überlegt, die Bewerbung zurückzuziehen – ein Verweis auf diverse Verzögerungstaktiken, die seit dem Mitgliedsantrag der Türkei 1987 von der EU angewandt worden waren.

Die Regierung in Ankara ließ verlauten, sie betrachte diesen jüngsten Zwischenfall als einen weiteren Versuch, das Vorhaben zu sabotieren, und hat die Bande als »Terroristen, die sich dem demokratischen Willen des Volks widersetzen« bezeichnet. Nach der Unterzeichnung des Beitrittsabkommens muss dieses von den übrigen Mitgliedsstaaten ratifiziert werden, ehe die Mitgliedschaft der Türkei dann am 1. September dieses Jahres in Kraft treten kann.

Für ihren geschulten Journalistenblick sah es nach Insiderinformation aus, wenn Geiseln genommen wurden, die sich auf einer Privatführung durch das Museum befunden hatten. Es war kein Einbruch, der versehentlich zu einer Geiselsituation geführt hatte, sondern eine sorgfältig geplante Unternehmung. Aber zu welchem Zweck?

Es herrschte kein Mangel an radikalen Organisationen innerhalb der Türkei, die gegen die EU waren, genau wie es antitürkische Gruppen über ganz Europa verteilt gab.

Tatsächlich war es noch nicht lange her, dass es erheblichen Widerstand auf offizieller Ebene in der EU selbst gegeben hatte, vor allem von Deutschland und Frankreich. Er kam in verschiedener Weise zum Ausdruck, etwa als Sorge über die schlechte Menschenrechtssituation in der Türkei oder die Einstellung des Landes zur Pressefreiheit. Doch es gab wenig Zweifel darüber, dass die Angst vor der Öffnung der EU für einen Staat mit siebzig Millionen Moslems eine erhebliche Rolle spielte.

Was all das fast über Nacht änderte, waren Aufstände in der islamischen Welt von Nordafrika bis Pakistan. Die Türkei stand plötzlich als das scheinbar stabilste islamische Land in der Region da – ein entscheidender Verbündeter, dem die Rolle eines Energie-Drehkreuzes zwischen Europa und den ölreichen Ländern Zentralasiens zufallen konnte. Außerdem hatte der Aufstieg des Iran zur Nuklearmacht die politische Dynamik der gesamten Region verändert. Und es gab die Aussicht, dass sich ein riesiger Markt für die Länder auftat, die sich noch immer nicht vom Euro-Debakel erholt hatten. Die EU hatte also beschlossen, die Türkei an ihre Brust zu drücken und nach Westen blicken zu lassen, nicht nach Osten. Statt als untauglicher Kandidat behandelt zu werden, wie es in dem Bericht geheißen hatte, sah die Regierung in Ankara ihren Aufnahmeantrag plötzlich im Schnellverfahren durchgepeitscht.

Und jetzt das.

Der Fahrer kam wieder an Bord, und der Bus fuhr los. Jane steckte ihr Handy weg. Die türkischen Behörden waren besser in der Lage, die Motive der Terroristen zu beurteilen, aber es war merkwürdig, dass die Bande ihre Forderungen nicht sofort bekannt gegeben hatte. Und das von ihnen gewählte Ziel: ein säkularisiertes Baudenkmal, das nichtsdestoweniger das Christentum und den Islam symbolisierte. Was hatte das zu bedeuten? Ohne Frage würde das bis zu ihrer Ankunft zu Hause klar geworden sein.