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In den wenigen Minuten, bevor sie an Bord gingen, versuchte Orhun, sie davon zu überzeugen, dass ihr Vorschlag nicht infrage kam. Er sagte, laut Passagierliste fliege sie nur bis Paris, weshalb es illegal wäre, wenn sie weiterflog; man würde sie in Italien ausweisen.

»Sie können die Liste ändern«, sagte sie. »Schließlich stellen Sie die Tickets aus«, erinnerte sie ihn an seine kleine Prahlerei. »Und jetzt stellen Sie sich nicht so an – Sie regen nur die Kinder auf.«

Orhun schüttelte resigniert den Kopf. »Na schön, wie Sie wollen. Der Anruf übrigens, den ich gerade erhalten habe: Es ging um das KOSS-Mitglied, das ihren Aufenthaltsort verraten hat. Sie hieß Eden. Man hat sie tot in einem Hotelzimmer in Palermo aufgefunden.«

»Dann hat die Bande sie doch erwischt, wie ich befürchtet habe.«

»Es sieht eher nach Selbstmord aus. Dr. Kelsey hat einen Zettel gefunden, den ihr die Frau in die Handtasche gesteckt hatte. Anscheinend hätte sie jemanden ermorden sollen, brachte es aber nicht über sich. Sie hat sich selbst die Kehle durchgeschnitten.«

Jane zuckte zusammen. Und fragte sich, was die Frau dazu getrieben hatte. Sie hatte sich dieselbe Frage gestellt, als Hazel sich tötete. Und sie wusste, dass die Antwort darin lag, wie eine Sekte den Verstand der Leute verwirren konnte. Aber völlig erklärte es das nicht, deshalb würde sie nie aufhören können, sich zu fragen: Wieso?

Sobald es nach dem Start möglich war, forderte Jane Debbie auf, sie zu einer Erfrischungstheke zu begleiten, die sich ein wenig abseits vom Hauptsitzbereich befand. »Ich fliege mit Demir nach Neapel weiter«, sagte sie, »und nein, es ist nicht, was du denkst. Es hat sich etwas ergeben, und bis kurz vor unserem Abflug hatte ich nicht die Absicht dazu, das versichere ich dir.«

Debbie sah betrübt aus. »Aber Scott und Bethann, Jane? Du kannst ihnen am Flughafen in Paris nicht einfach zum Abschied winken und für das restliche Wochenende verduften. Und ich finde, du gehst auch wie selbstverständlich davon aus, dass Sema und ich mitspielen.«

»Tut mir leid. Ich hätte mit der Frage anfangen sollen, ob du bereit bist, die Kinder zu hüten. Ich habe die Absicht, morgen so früh wie möglich wieder bei euch zu sein.«

»Was zum Teufel ist los? Erzählst du es mir?«

Debbie fluchte sonst nie. Das lief nicht gut hier – aber was hatte sie erwartet? Sie hatte gehofft, nicht auf Debbies Gefühle für sie setzen zu müssen, aber das ließ sich jetzt nicht mehr umgehen.

»Die Leute, mit denen sich Hazel damals eingelassen hat, dieselben, die Ben getötet und dich und die Kinder zu diesem Turm in den Bergen gelockt haben … Es gibt eine echte Chance, es ihnen heimzuzahlen. Auf eine Weise, die ihnen wirklich wehtun wird.« Sie war den Tränen nahe. Ihr Hass auf KOSS war mit jedem Wort angewachsen.

Debbie sah sie mit einer Mischung aus Besorgnis und Trauer an. »Ach, Jane«, sagte sie und schüttelte langsam den Kopf. »Du weißt, ich würde alles für dich tun. Aber deine Gefühle gewinnen immer die Oberhand, wenn es um diese Sekte geht. Du hast eine Familie, um die du dich kümmern musst. Du bist es ihnen schuldig, dich nicht in Gefahr zu begeben.«

»Und das werde ich auch nicht tun, versprochen. Es gibt nur etwas, das diese Leute liebend gern in die Hand bekommen würden, und ich möchte dafür sorgen, dass sie es nicht kriegen.«

Sie sprachen noch eine Weile, und schließlich gab Debbie nach. Als sie zu den anderen zurückgingen, stellte sich Jane neben Orhuns Sitz und flüsterte ihm zu, sie habe mit Debbie alles geklärt. Dann schlug sie vor, es sei am besten, wenn er Sema informiere, dass sie mit ihm nach Neapel weiterfliegen werde. »Als Dolmetscherin?«, sagte sie und zog eine Augenbraue in die Höhe.

Orhun stand mit mürrischer Miene auf und bat Sema, mit ihm in den Bereich zu gehen, aus dem Jane und Debbie gerade gekommen waren.

Jane nutzte die Gelegenheit, den Kindern so beiläufig wie möglich mitzuteilen, sie habe noch Arbeit zu erledigen, bevor sie zu ihnen nach Disneyland nachkomme. Sie akzeptierten es so bereitwillig, dass Jane klar wurde, wie sehr sie an diese ewig gleiche Leier von ihr gewöhnt waren. Aber nach dieser Sache würde alles anders werden, sagte sie sich. Nach dieser Sache.

Als Jane und Demir nach ihrem Zwischenstopp in Paris weiterflogen, wiederholte Jane, was sie von Giuseppe aufgeschnappt hatte, und versuchte, dem Ganzen ein wenig mehr Substanz zu verleihen. »Er wollte Kamarda in der Galerie treffen. Aber der Priester muss vor ihm dort gewesen sein, und irgendetwas ist passiert. Jemand wurde getötet, sagte Giuseppe – jemand, der mit der Galerie zusammenhing, vielleicht?«

»Von Kamarda getötet?«

»Das bezweifle ich. Warum sollte er das tun?«

»Vielleicht wollten sie das Geld nicht herausrücken, das sie ihm geboten hatten, oder sie haben damit gedroht, die Polizei zu informieren.«

»Oder jemand war dabei, die Ikone zu stehlen, und wurde von einem Angestellten der Galerie überrascht. Es gab einen Kampf, und Kamarda kam zufällig dazu.«

»Woher konnte der Dieb gewusst haben, dass die Ikone dort war?«

»Giuseppes Frau Lucia sagte, die Galerie habe offenbar einen interessierten Kunden gehabt. Und wir wissen, dass KOSS in den letzten Jahren nach byzantinischen Artefakten geforscht hat.«

»Aber angenommen sie waren dieser Kunde oder wahrscheinlich eher jemand, der in ihrem Namen aufgetreten ist, warum sollten sie dann hergehen und sie stehlen? Und wohin ist Pfarrer Kamarda verschwunden?«

Jane zuckte mit den Achseln. »Er ist einfach weggelaufen, so schnell er konnte.«

Orhun nickte. »Die Theorie ist so gut wie meine, aber wir wissen es einfach nicht, richtig?«

»Und was wissen wir tatsächlich?«, fragte sie spitz.

»Nun ja, mal sehen. Wir wissen, dass das Schiff von KOSS auf dem Weg nach …«, er zog sein Handy aus der Innentasche seiner Jacke und sah nach, »… Marina Vigliena ist. Der ist für etwas größere Schiffe gedacht, neben dem Handelshafen. Wir können bisher nicht feststellen, ob die Bande, die die Hagia Sophia besetzt hat, noch an Bord ist, aber wir überwachen ihre Handys und andere Kommunikationsmittel, sobald sie sich der Küste nähern.«

»Wir?«

»Ich meine die verschiedenen beteiligten Behörden.«

»Wie zum Beispiel?«

»Wie Interpol und Europol. Und wir bekommen Unterstützung vom NATO-Luftstützpunkt Decimomannu auf Sardinien.«

»Ich bin beeindruckt. Was wissen wir also noch?«

»Der Museumsangestellte aus Wien musste die Zeitbüchse in eine Kirche bringen …« Er sah wieder in seinem Smartphone nach. »Hier – la chiesa del Calvario.«

»Die Kalvarienkirche.«

»Äh, sagen Sie nichts … ich weiß es …« Er kniff die Augen zusammen. »Es hat mit der Kreuzigung von Jesus zu tun.«

»Richtig. Es ist der Name des Hügels bei Jerusalem, wo er gekreuzigt wurde.«

Orhun sah auf sein Handy. »Hier steht, sie wird nicht mehr als Kirche benutzt.«

»Und was heißt das für uns?«

»Das heißt, dass Sie nach Paris zurückfliegen«, sagte er mit Nachdruck.

Jane schüttelte heftig den Kopf. »Vergessen Sie es. Auf keinen Fall. Und ich will wissen, was Sie vorhaben.«

»Warum sind Sie so darauf versessen, diese Leute zu verfolgen?«

»Wegen allem, was sie meiner Familie angetan haben. Das letzte Mal konnte ich sie nicht aufhalten – dieses Mal werde ich es tun.«

»Wobei genau aufhalten?«

»Wir wissen, dass es ihnen enorm wichtig ist, die Vision und die Zeitbüchse in die Hände zu bekommen. Und jetzt könnte es sein, dass sie die Ikone haben. Ich würde gern eins davon oder alle drei stehlen, und zwar vor ihren Augen.«

»Und sich bei dem Versuch umbringen lassen – toller Plan.«

»Sie werden da sein, um mich zu beschützen«, sagte sie spitzbübisch.

Orhun kaute auf der Unterlippe und schüttelte verärgert den Kopf.

»Dann sagen Sie mir doch mal, warum Sie so entschlossen sind, die Bande zu kriegen, Demir. Denn das ist doch der Grund, warum Sie nach Neapel fliegen, oder?«

Orhun seufzte. »Ist Ihnen je der Gedanke gekommen, dass ich es für Geld tun könnte?«

Sie sah ihn durchdringend an und versuchte, seinen Gesichtsausdruck zu lesen. »Das ist nicht Ihr Ernst …« Sie schaute noch eindringlicher. »Wirklich?«

»Schön, dass wir das geklärt haben«, scherzte er. »Jetzt sehen Sie sich das hier mal an …« Er hielt ihr sein Handy so hin, dass sie auf das Display blicken konnte. »Das wurde mir während unserer Zwischenlandung in Paris geschickt.« Das Display zeigte eine gelbbraune, trockene Weite. Ein Stück Meer am oberen Rand ließ erkennen, dass es sich um die Erde handelte, nicht um einen Planeten ohne Atmosphäre. »Was Sie hier sehen, ist die Wüste Kavir im Iran aus tausend Metern Höhe. Jetzt passen Sie auf, was passiert …«

In der Mitte der Wüste flammte ein stecknadelgroßes Licht auf. Ringsum dehnte sich die Luft wellenförmig in konzentrischen Kreisen aus. Binnen Sekunden erblühte der Lichtpunkt zu einer Feuerblume und wurde dann zu einer brodelnden Wolke aus Sand und Rauch.

»Das ist eine explodierende israelische Atomrakete.«

»Großer Gott.«

»Sie wurde auf unbewohntes Gebiet abgefeuert. Als Warnung.«

»Was für ein Irrsinn.«

»Sie haben den Geist aus der Flasche gelassen, so viel steht fest«, sagte Orhun. »Letztendlich könnte KOSS unsere geringste Sorge sein.«