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Demir Orhun war vom Außenministerium in Ankara nach Dublin geschickt worden, damit er sich im Vorfeld des türkischen EU-Beitritts um die Beziehungen zu den Medien kümmerte. Bisher war seine Aufgabe leicht gewesen, aber jetzt war plötzlich alles anders.
Er trank eine Tasse süßen Tee in seiner Wohnung in Mount Merrion und wartete auf die Neun-Uhr-Nachrichten des staatlichen Fernsehsenders RTE. Sein Handy blinkte pausenlos, da Journalisten versuchten, einen Kommentar zur Lage in Istanbul für die Montagszeitungen von ihm zu bekommen.
Es bestand kein Zweifel, dass die Besetzung der Hagia Sophia mit der Beitrittszeremonie in Dublin in Zusammenhang stand. Bislang war es allerdings nicht möglich gewesen, die genauen Ziele und den Hintergrund der Terroristen in Erfahrung zu bringen. Und es waren Terroristen – nicht ein Haufen militanter Demonstranten, die nach Publicity für ihre Sache strebten. Das Erste, was sie nach der Ergreifung des ranghöchsten Wachbeamten im Museum getan hatten, war, ihn mit seinem Personal außerhalb des Gebäudes Kontakt aufnehmen zu lassen und es davor zu warnen, in das Museum zu kommen. Um ihren Standpunkt zu unterstreichen, hatten sie ihn daraufhin erschossen, während seine Kollegen am Funkgerät zuhörten.
Eine Theorie, die frühzeitig kursierte, war, dass die Eindringlinge nicht mit Besuchern im Museum gerechnet hatten und dass diese Komplikation möglicherweise zu Unstimmigkeiten unter ihnen führen und sie verwundbar machen würde. Doch Orhun wusste, dass dies Wunschdenken war. Es sah nach geplantem Vorgehen aus, wenn sie das Sicherheitspersonal ausschalteten und die Geiseln gleichzeitig am Leben ließen.
Den neuesten Informationen zufolge handelte es sich bei den Geiseln um vierzehn Männer und sechs Frauen – sieben, wenn man die türkische Fremdenführerin Irem Selçuk mitzählte. Von China, Japan, Russland und den Vereinigten Staaten gab es jeweils zwei Vertreter, dazu je einen aus Aserbaidschan, Ägypten, Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Israel, Jordanien, den Niederlanden, Schweden und der Schweiz. Auf den ersten Blick sah es aus, als hätten die Terroristen absichtlich ein breites Spektrum an Nationalitäten abdecken wollen. Es konnte aber auch sein, dass sie einen Vorschlaghammer benutzt hatten, um eine Nuss zu knacken, und manche Geiseln interessanter für sie waren als andere. Eine islamistische Gruppe beispielsweise würde vermutlich die beiden Amerikaner, den Israeli und den Briten einer besonderen – und für die betroffenen Unglücklichen – unerwünschten Aufmerksamkeit für wert befinden.
Doch wiederum stellte sich die Frage: Wer waren die Terroristen? Während Orhun seinen Tee trank, ging er im Geist die wahrscheinlichen Kandidaten durch. In der Türkei selbst reichten die Kritiker eines EU-Beitritts von säkularen Ultranationalisten bis zu einer bunten Fülle islamistischer Organisationen, welche die EU als einen beinahe so dämonischen und verkommenen Feind wie die Vereinigten Staaten ansahen. Dann gab es jene Bewegungen an den Rändern seines Landes, die den Beitrittsprozess nur zu gern ausschlachten würden, um auf ihren Groll aufmerksam zu machen: militante Kurden, die fest entschlossen waren, einen unabhängigen Kurdenstaat zu errichten, Armenier, die erreichen wollten, dass die Türkei die Behandlung ihres Volks während des Ersten Weltkriegs als Völkermord anerkannte, griechische Nationalisten, die den Abzug der türkischen Truppen auf Zypern forderten. Und quer durch Europa selbst gab es eine Koalition rechtsextremer Gruppen, die antiislamische Gefühle geschürt hatten, um dem türkischen Beitritt entgegenzuwirken.
Früheren Geheimdienstberichten zufolge würden all diese Splittergruppen jedoch am ehesten in der Zeit zwischen der Unterzeichnung des Beitrittsabkommens in Dublin und dem tatsächlichen Beginn der türkischen Mitgliedschaft im September in Aktion treten. Während dieses Zeitraums sollten die übrigen Mitgliedsstaaten über die Ratifizierung des Türkei-Beitritts abstimmen, und in der Türkei selbst würde ebenfalls ein Referendum stattfinden.
Und doch passte die Bande in der Hagia Sophia nach Orhuns Ansicht in keine der von ihm in Betracht gezogenen Kategorien. In einem früher am Abend veröffentlichten Statement hatten sie davon gesprochen, sie würden den Sonntag als Tag des Gebets für die Christen respektieren. In seinen fünfundzwanzig Jahren als Journalist und Presseattaché hatte er nie gehört, dass islamische Extremisten ein ähnliches Zugeständnis gemacht hätten. Andererseits fielen ihm – ungeachtet aller verrückten Einzelpersonen – keine radikalen christlichen Gruppen ein, die jemals mit solcher mörderischer Aktion für ihre Sache auf der Weltbühne erschienen wären. Es war zwar immer möglich, dass eine Gruppe griechisch-orthodoxer Fanatiker sich zum Handeln entschlossen hatte, um die Hagia Sophia zurückzufordern, aber für Orhun hörte sich diese Sache mit dem Sonntag eher nach der vorsätzlichen List einer weder christlichen noch islamistischen Gruppe an, um antichristliche Gefühle in der Türkei und darüber hinaus zu schüren.
Die Herausforderung in den kommenden Tagen würde für ihn sein, wie er die sich entwickelnde Krise den irischen und internationalen Medien in Dublin präsentieren sollte. Der Botschafter hatte ihn angewiesen, fürs Erste nicht von den Verlautbarungen aus Ankara abzuweichen. Es gab also praktisch nichts, was er sagen konnte.
Was bedeutete das für die Radio-Features, die er mit dem Team von Wade’s World geplant hatte? Alles kam darauf an, ob die Beitrittszeremonie wie vorgesehen stattfand. Und das wiederum hing davon ab, wie sich die Lage in Istanbul entwickelte und von der Reaktion der EU auf den türkischen Umgang mit ihr. Ohne Frage würden sie ihn am Montagmorgen in der Sendung haben wollen. Doch solange er nichts zu sagen hatte, ergab das wenig Sinn.
Zufällig hatte er vorhin einen Anruf nicht von Jane Wade erhalten, sondern einen, der sie betraf. Der Anruf war an die Nummer in seiner Wohnung gegangen, die nur sehr wenige Leute kannten.
»Hier ist Maguire«, war eine mürrische Stimme zu vernehmen.
»Ich sagte, Sie sollen mich nur im äußersten Notfall unter dieser Nummer anrufen.«
»Ich kann Sie auf dem Handy nicht erreichen.«
Das stimmte.
»Also, warum rufen Sie an?«
»Ich habe weitere Informationen über JW für Sie.«
»Ich sagte, Sie sollen das Projekt herunterfahren.«
»Zufällig habe ich einen Blick auf ihre E-Mails erhascht, während sie weg war, und da ist ein interessanter Punkt aufgetaucht. Ein Freund von ihr, der für einige Jahre von Irland fort war, hat ihr geschrieben, dass er zurückkommt.«
»Und was ist daran so interessant?«
»Ich habe in ihren Dateien gewühlt und einen Presseartikel über ihn gefunden. Ich denke, das werden Sie interessant finden. Kostet übrigens nichts extra. Aber Ihre Aufträge sind stets willkommen.«
An diesem Punkt legte Orhun auf. Es gab einige verwirrende Fragen in Bezug auf Jane Wade, die Nachforschungen nötig gemacht hatten. Aus Gründen, die über seine offiziellen Pflichten hinausgingen.