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Nach den Zehn-Uhr-Nachrichten auf TalkRadio am nächsten Vormittag teilte Jane ihren Hörern mit, sie habe eine wichtige Information für sie: Wie sie aus einer zuverlässigen Quelle erfahren habe, befinde sich die sogenannte Belisarius Brigade, deren Verschwinden die angespannte Situation im Mittelmeerraum verursacht hatte, keineswegs in der Nähe der Halbinsel Athos in Griechenland.
In dem Wissen, sich möglicherweise anzuhören, als hätte sie ihre Informationen von einem griechischen Regierungsvertreter bekommen, fuhr sie fort, aus einem Skript zu lesen, das sie am Morgen unterbrochen von Niesanfällen verfasst hatte: »Und ich kann Ihnen auch enthüllen, dass die Bande am Morgen, nachdem sie ein türkischer Militärhubschrauber auf einer griechischen Insel abgesetzt hatte, von einem Schiff aufgenommen wurde, das anschließend die Ägäis verließ und nach Ägypten fuhr, wo es den Sueskanal durchquerte. Offenbar hat die ägyptische Regierung unter Zwang eingewilligt, sie ein historisches Dokument untersuchen zu lassen, das mit dem Propheten Mohammed in Verbindung steht und im Katharinenkloster auf dem Sinai aufbewahrt wird. Das Schiff ist, vermutlich mit der Bande an Bord, inzwischen auf dem Rückweg durch den Kanal oder hat möglicherweise bereits das Mittelmeer erreicht. Ich habe mich zur Ausstrahlung dieser Information entschlossen, weil ich hoffe, dass, wenn sie sich als wahr herausstellt – und ich habe keinen Grund, daran zu zweifeln –, Israel sich vielleicht dazu überreden lassen wird, seine Aktivitäten in der Ägäis einzuschränken.
Und nun möchte ich abschließend meine Kollegen in den Medien bitten, sich nicht wegen weiterer Informationen zu diesem Thema an mich zu wenden, da ich keine besitze. Und selbstverständlich bin ich nicht dazu bereit, meine Quelle preiszugeben.«
Jane verbrachte den Rest der Sendung in einer Art Blase, während das Team draußen Anrufe von Journalisten und Beamten der griechischen und ägyptischen Botschaften abwehrte. Alarmiert darüber, dass eine irische Rundfunkjournalistin gerade das delikate Spiel der internationalen Diplomatie gestört hatte, wandte sich das irische Außenministerium mit einer Beschwerde direkt an den CEO des Senders. Doch wie er Jane unmittelbar nach der Sendung erklärte, war ihre Ankündigung inzwischen von Rundfunkstationen im ganzen Land ausgestrahlt worden und begann international die Runde zu machen – es gebe also eigentlich nicht viel, was er tun könne. Jane dankte ihm für diesen nicht eben kraftstrotzenden Ausdruck der Unterstützung und sagte, sie werde jetzt nach Hause fahren und sich ihrer Erkältung widmen.
Gegen ein Uhr mittags kroch sie mit einer Wärmflasche ins Bett, und bevor die Hauptnachrichtensendungen des Tages die Folgen ihrer dramatischen Enthüllungen diskutierten, schlief sie bereits fest.
Zwei Stunden später wachte sie mit dem Gefühl auf, dass etwas im Haus anders war. Sie lauschte angestrengt, hörte aber nichts Ungewöhnliches. Es ging ihr jedoch viel besser. Auch wenn es nur vorübergehend sein mochte, war es eine Erleichterung, dieses niederdrückende, dämpfende Gefühl los zu sein, das sie seit dem Vorabend gequält hatte. Dann begann ihr Handywecker zu brummen. Es war ohnehin Zeit aufzustehen. Debbie hatte sich bereit erklärt, die Kinder abzuholen, und sie mussten inzwischen zu Hause sein. Sie schaltete die Weckfunktion aus und lauschte wieder. Jetzt hörte sie es, eine Männerstimme im Gespräch mit Debbie. Aber es war nicht Karl. Und es war nicht in Debbies Teil des Hauses.
Jane schlüpfte in ihre Jeans, ging ins Bad und spritzte sich Wasser ins Gesicht. Beim Blick in den Spiegel sah sie, dass ihre Augen klarer waren als zuvor. Es schien sich um eine kurzlebige Infektion zu handeln. Debbie hatte ihre ebenfalls fast hinter sich.
Es klopfte an der Schlafzimmertür. Sie schlüpfte in ein paar Crocs und öffnete. Debbie stand vor der Tür und wirkte sehr beunruhigt.
»Dein Freund aus der türkischen Botschaft ist hier«, flüsterte sie. »Er wartet unten.«
»Was? Warum hast du …?«
»Es tut mir leid, Jane, er sagte, es sei wichtig. ›Eine wirklich ernste Angelegenheit‹, wie er sich ausdrückte.«
Jane war verwundert. Und sie ärgerte sich über Orhun, weil er Debbie Angst gemacht hatte.
»Was ist mit den Kindern?«
»Ich hatte Karl bereits gebeten, sie abzuholen. Muss ja nicht sein, dass ich alle anstecke. Ich behalte sie drüben bei mir, bis er geht.«
Am Fuß der Treppe bog Debbie in Richtung Durchgang ab, während Jane zum Wohnzimmer ging. Vor der Tür blieb sie stehen und strich ihr Haar zurück. Dann holte sie tief Luft und trat ein.
Orhun stand vor dem Fenster und sah hinaus.
»Was tun Sie hier, Demir?«, fragte sie.
Als er sich zu ihr umdrehte, stand sie mit verschränkten Armen vor dem Kamin.
»Es tut mir wirklich leid, Jane«, sagte er, als er sah, wie verärgert sie war. »Ich habe versucht, Sie auf dem Handy zu erreichen, seit Sie heute Vormittag auf Sendung waren, aber das hatten Sie offensichtlich ausgeschaltet. Ich habe sogar beim Sender angerufen, aber Sie waren schon weg, also blieb mir schließlich keine Wahl, als hierherzukommen.«
Ihr wurde plötzlich flau im Magen. Hatte sie die ganze Geschichte falsch verstanden? »Sie haben versprochen, mich vor zehn anzurufen, wenn sich an der Sache etwas geändert hat.«
Orhun kam mit erhobenen Händen auf sie zu. Ihr fiel auf, wie er den verbleibenden Raum im Zimmer auszufüllen schien. »Keine Angst, das ist es nicht. Karatay hatte recht, und jetzt ist der Teufel los. Aber ich bin überzeugt, dass er für das ermordet wurde, was er mir erzählt hat. Was bedeutet, dass ich wahrscheinlich ebenfalls zum Ziel geworden bin und …« Es widerstrebte ihm offenbar, es auszusprechen.
»Genau wie ich, meinen Sie? Danke, dass Sie vorbeigekommen sind, das hat mir wirklich noch gefehlt heute.«
»Sie klingen erkältet.«
»Deshalb bin ich auch direkt nach der Sendung nach Hause gefahren.«
»Ach so, ich verstehe. Aber nein, ich glaube eigentlich nicht.« Er ließ sich schwerfällig auf die Couch sinken, wo Jane am Abend zuvor Lavelles Papiere gelesen hatte.
»Sie glauben was nicht?«
»Dass Sie in Gefahr sind.«
»Warum nicht?«
»Dann müssten sie sich über alle Journalisten hermachen, die die Geschichte verbreiten. Es ist die Quelle der Information, die ihnen Sorgen bereitet, nicht der Überbringer.«
»Überbringer?«, fuhr ihn Jane an.
»Schlechte Wortwahl, tut mir leid. Aber Sie wissen, was ich meine. Sie werden nicht wollen, dass weitere Informationen ans Licht kommen.«
»Nur, wenn es welche gibt. Und nachdem Ihr Freund Karatay zum Schweigen gebracht wurde, können Sie das nicht wissen, oder?«
»Nur dass ich auch noch andere Quellen habe«, sagte er und hob eine Zeitschrift vom Tisch auf. »Und ich will sichergehen, dass sie nicht kompromittiert werden.« Er blätterte durch die Seiten, ohne sie wirklich anzusehen.
Für Jane klang es fast wie eine Drohung. »Was wollen Sie damit andeuten, Demir? Dass ich Ihre Quellen preisgeben könnte? Wie zum Teufel sollte ich das tun, wenn ich sie nicht einmal kenne? Sie haben wirklich Nerven!« Jane war jetzt ernsthaft verärgert.
Orhun schlug die Zeitschrift zu. »Ich wollte nichts dergleichen andeuten. Ich war nur besorgt, weil ich Sie den ganzen Tag nicht erreichen konnte. Was, wenn ich noch mehr Informationen für Sie gehabt hätte? Was, wenn ich Sie hätte bitten müssen, etwas zu sagen, um meine Kontakte zu schützen? Ich konnte nicht riskieren, dass Sie wieder so vom Radar verschwinden, das ist alles, was ich meinte.«
»Ich bin nicht Ihr Sprachrohr, Demir. Ich werde mir nicht von Ihnen vorschreiben lassen, was ich sage und was ich nicht sage. Und Sie haben mir nicht einmal gedankt, weil ich nichts von den fünf Millionen gesagt habe, die der Bande bezahlt wurden. Das geschah aus Rücksicht auf Sie. Der Botschafter wusste, dass Sie diese Information besaßen und hätte umso mehr Grund gehabt, Sie als denjenigen zu verdächtigen, der mit mir gesprochen hat.«
Orhun reagierte nicht sofort.
Jane löste die verschränkten Arme und suchte in ihrem Ärmel nach einem Taschentuch. Sie musste sich schnäuzen.
Orhun warf die Zeitschrift auf den Tisch und lehnte sich zurück. »Natürlich, Sie haben recht. Das war völlig daneben. Und danke, dass Sie das mit dem Lösegeld nicht publik gemacht haben. Meine einzige Entschuldigung ist, dass es ein harter Tag für mich war.« Er sah Jane zerknirscht an. »Wollen Sie sich nicht setzen? Bitte?«
Jane wandte sich ab und schnäuzte sich so diskret wie möglich, ehe sie in einem Sessel ihm gegenüber Platz nahm.
»Es ist dem Botschafter nicht entgangen, dass Sie die Geschichte am Morgen nach dem Gartenfest enthüllt haben«, sagte er. »Wie es übrigens auch keiner anderen diplomatischen Mission in der Stadt entgangen ist. Deshalb wollte er von uns allen wissen, mit wem wir auf dem Fest gesprochen hätten. Ich gab ihm eine Liste mit allen Leuten, mit denen ich nach meiner Erinnerung gesprochen hatte. Was Sie angeht, sagte ich, ich hätte Sie und Ihr Team im Zelt begrüßt und sei dann nach draußen gegangen. Recep hat ihm zwar erzählt, dass ich im Gespräch mit einer Frau war, als er mich fand, aber zum Glück wusste er nicht, wer Sie waren, deshalb gab ich Sie auf die entsprechende Frage des Botschafters als die Frau eines bestimmten Zeitungsherausgebers aus, dessen Name ich ihm schon genannt hatte. Ich wusste, er würde sich niemals bei Ihnen erkundigen, um es zu überprüfen. Aber ich habe ganz schön geschwitzt, kann ich Ihnen sagen.«
»Der Botschafter wusste offenbar nicht, dass Sie gestern mit Ihrem Freund gesprochen hatten – oder wenn er es wusste, hatte er keine Ahnung, was Ersin Ihnen erzählt hat. Sonst hätte er sofort gewusst, dass Sie die undichte Stelle sind.«
»Undichte Stelle? Jetzt bin ich aber gekränkt.«
»Sehr witzig, Demir. Aber was ich nicht verstehe, ist Folgendes: Sie und Karatay waren als Angehörige des diplomatischen Dienstes der Türkei doch sicherlich berechtigt, Informationen ungehindert mitzuteilen. Wieso die Notwendigkeit heimlicher Gespräche und dieser … dieser anderen Quellen?«
»Weil man im diplomatischen Dienst Informationen zumeist nur auf der Basis liefert – und erhält –, was jemand wissen muss. Vertraulich, je nachdem, wie man es betrachtet. Das verringert undichte Stellen und verhindert, dass Leute ihre Nase in Angelegenheiten stecken, die sie nichts angehen sollen.«
»Aber warum eine solche Aufregung über eine Geschichte, die früher oder später ohnehin bekannt geworden wäre?«
»Der Botschafter wollte nur bestreiten können, dass es von uns gekommen war. Wir sollten uns stillhalten, bis alles geregelt war und die Amerikaner ihren Teil erledigt hatten.«
»Was aber wohl kaum auf einen Grund hinausläuft, jemanden zu ermorden.«
»Sollte man meinen. Andererseits wollte ich keineswegs andeuten, dass unsere Leute Ersin getötet haben.«
»Wer dann?«
»Wer durch seine Enthüllung am meisten zu verlieren hatte.«
»Die Belisarius Brigade?«
»Richtig, aber ich hätte nicht gedacht, dass sie über die Ressourcen verfügt, unser Außenministerium zu infiltrieren. Um so etwas zu tun, brauchen sie die Hilfe einer fremden Regierung. Es erfordert jahrelange Planung.«
»Denken Sie an ein bestimmtes Land?«
»Griechenland höchstwahrscheinlich. Wenn man unsere belastete Beziehung bedenkt. Und das Thema der Hagia Sophia und so weiter.«
»Aber da gibt es auch noch Armenien und die Kurden. Oder vielleicht eine Fraktion innerhalb Ihrer eigenen Regierung, die zu schmutzigen Tricks greift.«
Orhun seufzte. »Sie haben recht, die Liste der Möglichkeiten ist lang. Sinnlos, zu …«
Jane hatte eine Hand ans Ohr gelegt, um besser zu hören. Bethann weinte irgendwo im angrenzenden Haus. Sie war vermutlich hingefallen oder hatte mit Scott oder einem der anderen Kinder gerauft.
Orhun hörte es ebenfalls und setzte sich auf. »Hören Sie, Jane, ich entschuldige mich dafür, so in Ihr Privatleben eingedrungen zu sein. Ich war wohl ein bisschen paranoid. Können Sie mir vergeben?«
»Solange Sie nicht vergessen, dass es Ihnen auf keinen Fall eine Art Kontrolle über mich verleiht, wenn Sie mir Informationen zukommen lassen.«
»Akzeptiert.«
Jane stand auf.
Orhun erhob sich ebenfalls und schnippte ein imaginäres Stäubchen von seinem Nadelstreifensakko. »Es wundert mich, dass Sie mich nicht gefragt haben, was sich in der Welt tut, seit Sie die Bombe platzen ließen.«
»Ich hatte Angst davor. Sie sagten, der Teufel ist los.«
»Nicht wirklich«, antwortete er mit einem Lächeln. »Israelische Kampfflugzeuge sind ein paar Aufklärungseinsätze über den Sueskanal geflogen. Kairo hat ihn daraufhin zu einer Flugverbotszone erklärt, in der in diesem Augenblick die ägyptische Luftwaffe Patrouille fliegt. Bedeutender für uns ist aber, dass Israel seine Schiffe aus der Ägäis abzieht.«
»Gute Nachrichten für die Türkei also?«
»Ja. Es wäre wohl so oder so passiert, aber dass Sie an die Öffentlichkeit gegangen sind, hat die Sache beschleunigt.«
»Hm. Ich komme nicht umhin, mich irgendwie manipuliert zu fühlen.«
»Aber es war Ihre Entscheidung, die Story zu verbreiten, Jane«, sagte er und fügte an: »Schließlich sind Sie mehr als nur ein Überbringer, oder?«
Jane funkelte ihn böse an.
»Ich merke schon, es ist Zeit für mich zu gehen.«
Sie führte ihn in den Flur. »Auf Wiedersehen, Demir«, sagte sie und öffnete die Tür. »Wenn Sie das nächste Mal Ihren Erfolg mit jemandem teilen müssen, schlage ich vor, Sie rufen Recep in Ihr Büro.«
Orhun ging hinaus und drehte sich um, um etwas zu sagen.
Aber Jane schloss bereits die Tür.