16

Der Parkplatz des Silver Dolphin war so gut wie voll, als Jane kurz nach ein Uhr auf ihn fuhr. Es war offensichtlich ein beliebtes Lokal zum Lunch.

Es gab zwei Türen, die in den Silver Dolphin führten – eine in die Lounge, eine in die Bar; also ging sie in die Lounge. Als sie rechts eine Buffettheke mit einer Kundenschlange davor, die fast bis zur Tür reichte, entdeckte und den Geruch wahrnahm, sank ihr der Mut. Sie blickte sich um und stellte fest, dass so gut wie alle Tische besetzt waren. Es würde schwierig werden, ein ruhiges Plätzchen für ein Gespräch zu finden. Von Lavelle war nichts zu sehen, allerdings bemerkte sie, dass die Lounge L-förmig war und im anderen Teil vielleicht weniger überfüllt. Sie wartete, bis ein Barmann einen Tisch für einen Mann abräumte, der ihr mit einem Tablett in der Hand im Weg stand. Als der Barmann zur Seite trat, um den Mann Platz nehmen zu lassen, fragte sie ihn nach Pfarrer Lavelle.

»Der ist wahrscheinlich im Restaurant«, sagte der Mann und nickte in Richtung der Tür.

Als er Janes verwunderten Gesichtsausdruck sah, lächelte er. »Wir haben die Glasscheibe in der Tür noch nicht ersetzt«, erklärte er.

»Ach so«, sagte sie, hatte es aber immer noch nicht ganz begriffen.

Die Tür, auf der »Bar« stand, führte stattdessen in ein modern gestyltes Restaurant, und jetzt endlich verstand sie, dass die Bar gar nicht mehr existierte. Ein Schild auf einem Ständer für die Speisekarten bat die Gäste zu warten, bis sie an ihren Platz geführt wurden, weshalb sie Zeit hatte, sich umzusehen.

Die Mitte des Raums bildete ein Atrium, gekrönt von einem dreieckigen Glasdach, das Licht in den Essbereich darunter strömen ließ. Als Gegengewicht zu der Lichtfülle gab es viele Grünpflanzen zwischen den Tischen, und ein plätschernder Brunnen trug zu dem freundlichen Ambiente bei. Auf einer Seite des Atriums gingen riesige Glastüren zu einer Terrasse hinaus, auf der rote und gelbe Tulpen in Töpfen blühten. Viel zu sonnig dort, dachte sie. Auf der anderen Seite sah sie einige Bänke mit hohen Rückenlehnen an Tischen, die für zwei bis vier Personen geeignet schienen. Viele der Tische im Restaurant waren besetzt, und das leise Summen der Gespräche wurde vom Klappern des Bestecks begleitet. Jane ging der Gedanke durch den Kopf, dass es ein Zeichen für den Niedergang der irischen Pub-Kultur war, wenn eine Bar durch ein Restaurant ersetzt wurde.

Eine Kellnerin näherte sich ihr und fragte, ob sie einen Tisch reserviert habe.

»Ich treffe mich mit Pfarrer Lavelle?«

»Ah ja. Würden Sie bitte mitkommen?« Sie nahm einige Speisekarten von einem Sideboard und führte Jane zu der Reihe mit den Bänken. Jane setzte sich, die Kellnerin gab ihr eine der Karten und ließ die andere neben dem gedeckten Platz gegenüber liegen. »Ich gebe ihm Bescheid, dass Sie hier sind«, sagte sie und ging in Richtung Terrasse davon.

Jane schlug die Speisekarte auf. Zwei Seiten mit Gerichten, eine mit Weinen. Als Vorspeisen gab es Dinge wie pfannengeröstete Kammmuscheln, Krabbenravioli und junge Spargelspitzen in Butter. Bei den Hauptspeisen fiel ihr Blick auf Enten-Confit, und sie entdeckte auch ein Risotto mit Pilzen und jungen Spinatblättern. Zum Dessert dachte sie bereits an Rhabarber-Pannacotta. Nicht dass sie so weit kommen würde, obwohl ihr Appetit auf eine Weise angeregt wurde, wie seit ihrer Rückkehr aus Italien nicht mehr.

Sie sah auf die Weinliste. Klein, aber gut zusammengestellt, dachte sie. Und der lichtdurchflutete Raum mit einer Brise Meer, die durch die geöffneten Terrassentüren kam, machte ihr Lust auf ein Glas kalten Weißwein. Sie las sich eben die Auswahl an Vorspeisen noch einmal durch, als ein Schatten über sie fiel. Sie blickte auf und musste die Augen mit der Hand gegen das Licht aus dem Atrium abschirmen, um zu sehen, wer es war. Der knochendürre Mann in dem schwarzen Hemd mit offenem Kragen sah aus, als hätte man ihm Kreidestaub ins Gesicht geblasen, der auch sein schütter gewordenes Haar und den kargen Bart weiß gefärbt hatte.

»Liam?«, sagte sie. Mehr als beabsichtigt, hatte sie es beinahe wie eine Frage klingen lassen.

»Mehr Lazarus als Liam, denkst du wahrscheinlich«, sagte er und lächelte matt. »Aber keine Sorge, du wirst dich an das Aussehen gewöhnen – ich habe mich auch daran gewöhnt.«

Er nahm gegenüber von ihr Platz. »Entschuldige meine Verspätung. Ich habe draußen in der Sonne gelegen und bin eingeschlafen.« Er nickte in Richtung Garten und sah sich dann im Restaurant um. Seine braunen Augen waren das einzige Lebendige in seiner Erscheinung, allerdings bemerkte sie eine leicht gelbliche Tönung in ihrem Weiß. »Hübsch hier, nicht?«

»Ja, sehr.« Sie hielt die Speisekarte in die Höhe. »Die hier sieht auch gut aus.«

»Bist du hungrig?«

Sie nickte. »Ich dachte nicht, dass ich es bin – bis ich die Karte gelesen habe.«

Lavelle lächelte und sah sich nach der Bedienung um.

»Es hat aber keine Eile«, sagte Jane und legte die Speisekarte wieder auf den Tisch. »Lass uns erst ein Weilchen reden.«

»Natürlich.« Er sah ihr in die Augen. »Wie ist es dir ergangen, Jane?«

»Gut«, sagte sie kurz angebunden. »Ich frage mich, wie …«

»Ich habe vom Tod deines Mannes gehört. Es tut mir sehr leid.«

»Wann … wie hast du davon erfahren?«

»Mary und ich waren im letzten Jahr per Skype in Kontakt. Sie hat mir davon erzählt, bald nachdem es passiert ist. Ich wollte natürlich schreiben, aber ich musste zu Tests ins Krankenhaus. Und als ich wieder herauskam … nun, man könnte sagen, ich war mit meinen Gedanken woanders.«

»Schlechte Nachrichten?«

Er nickte. »Krebs.«

Ehe Jane etwas erwidern konnte, traf die Kellnerin ein und stellte einen Teller mit verschiedenen Brotsorten auf den Tisch. »Möchten Sie bestellen?«, fragte sie mit strahlendem Lächeln und sah sie nacheinander an.

»Wir brauchen noch ein paar Minuten«, sagte Lavelle und griff nach seiner Speisekarte.

»Natürlich, Liam. Ich bringe Wasser.«

Lavelle überflog die Karte rasch. »Schon entschieden, was du haben willst?«

Jane warf einen letzten Blick auf die Hauptgerichte. »Ich glaube ja«, sagte sie und klappte die Karte zu.

Lavelle tat es ihr gleich. »Reden wir über dich«, sagte er. »Du hast deine eigene Radiosendung. Wie kam es dazu?« Er nahm sich etwas Brot. »Ich habe sie übrigens ein paar Mal gehört.«

»Der langjährige Präsentator der Sendung musste im letzten Herbst von seinem Posten zurücktreten, aber sein Ersatzmann war eine Katastrophe. Theoretisch war ich Executive Producer der Sendung, aber es war um die Zeit von Bens Tod, und ich bin eine Weile nicht zur Arbeit gegangen. Als ich kurz nach Weihnachten zurückkam, war der Neue bereits gefeuert worden, und die Sendung schleppte sich so dahin. Verschiedene Leute wurden ausprobiert. Eines Morgens erschien einer von ihnen dann nicht, und ich sprang für ihn ein. Den Senderchefs hat gefallen, was sie hörten …« Sie zuckte mit den Achseln und warf die Hände in die Höhe. »Und bis jetzt sind sie mir nicht auf die Schliche gekommen …«

Lavelle lächelte. »Du tust, was du am besten kannst, Jane. Erinnerst du dich noch, wie du mit mir Kontakt aufgenommen hast? Ich kannte dich bereits als Reporterin dieser Kultursendung …«

»Artspeak.«

»Ja. Und als du an diesem ersten Morgen in die Kirche in Kilbride gekommen bist …« Er legte den Kopf schief und begutachtete ihre Frisur. »Dein Haar war damals länger. Du hast es als Zopf getragen, wie ich mich erinnere.«

»Und es war auch dunkler«, sagte sie und klopfte sich unsicher auf den Kopf. »Rothaarige werden …« Sie verstummte. Ihre Bemerkung wäre angesichts der Art und Weise, wie sich Liams Aussehen verändert hatte, ziemlich unsensibel gewesen.

»Wer hätte ahnen können, was danach geschehen würde«, fuhr er fort, ohne den peinlichen Moment wahrzunehmen.

Jane rutschte auf dem Sitz umher. Meinte er zwischen ihnen beiden?

»Die ganze Sache mit Gormans Vision, Michael Roberts und so weiter.«

Nichts über die kurze Affäre zwischen ihnen beiden. Sie war erleichtert und gleichzeitig ein wenig enttäuscht.

Die Kellnerin kam mit einer Karaffe Wasser zurück und füllte ihre Gläser. Dann nahm sie ihre Bestellungen auf. Jane nahm die Kammmuscheln als Vorspeise und das Risotto mit Pilzen und Spinat als Hauptgang. Lavelle sagte, ein Hauptgericht allein genüge ihm, und er bestellte den Spargel.

»Und ich trinke ein Glas Wein«, sagte Jane leicht verlegen. »Den Vouvray.«

»Himmel, Jane, ich hätte dich fragen sollen. Das Essen geht schließlich auf mich …«

»Kommt nicht infrage«, sagte sie und wehrte sein Ansinnen mit einer Handbewegung ab.

»Ich bestehe darauf. Bestellen wir eine Flasche, was meinst du?«

»Danke, Liam, aber ich muss noch fahren, deshalb reicht ein Glas. Aber wenn du …?«

»Nein, danke. Dann nur ein Glas, Deirdre«, sagte er zu der Bedienung. Sie nickte ihm mit wissender Miene zu.

»Ich würde gern einen trinken«, sagte er, als sie fort war. »Aber die Medikamente, die ich nehmen muss, lassen Wein wie … Rost schmecken.« Er begann zu husten und wandte sich ab.

Es dauerte nur ein paar Sekunden, aber Jane merkte, dass es mit seiner Krankheit zu tun hatte.

»Tut mir leid«, sagte er leicht außer Atem.

»Du musst dich nicht entschuldigen, Liam.« Sie machte eine Pause, ehe sie fortfuhr. »Sie sind noch immer da, weißt du.«

Lavelle blinzelte verdutzt. »Sie? Ach so, du meinst die Hüter des …«

»Sie nennen sich jetzt KOSSK.O.S.S., du verstehst? Und sie haben ganz schön aufgerüstet. Die Waldlager-Zeiten sind vorbei, schätze ich.«

»Wirklich? Und wie kommst du darauf, dass sie wieder aktiv sind?«

»Sie haben Ben getötet.«

»Ist das dein Ernst? Ich dachte, es handelte sich um eine Verwechslung. Irgendwas mit einem Drogenboss, der in der Gegend wohnte.«

»So wurde es kolportiert, aber ich versichere dir, es war KOSS. Es fing mit einer Wahrsagerin namens Dervla an, die in die Sendung kam. Sie konnte tatsächlich Dinge vorhersagen. Sie haben versucht, sie in ihre Fänge zu bekommen, um ihre Fähigkeiten für ihre eigenen Ziele einzuspannen. Das ist ihnen zum Glück nicht gelungen …«

Deirdre brachte Jane das Glas Wein, und sie trank einen Schluck, ehe sie fortfuhr. »Aber im Zuge ihrer Bemühungen, Dervla ausfindig zu machen, sind sie wieder über mich gestolpert und haben beschlossen, sich zu rächen.«

»Willst du darüber reden?«

Jane seufzte. »Es ist sechs Monate her. Ein Samstagvormittag. Ben und die Kinder waren unterwegs, als ein Amerikaner, der behauptete, ein Institut zu vertreten, das Mittel in die Erforschung von Dervlas Fähigkeiten gesteckt hatte, in Begleitung eines Detectives der Polizei bei uns auftauchte. Der Typ sagt, er möchte wissen, wo sich ihre teure Investition aufhält. Ich antworte, dass ich es nicht genau weiß, was der Wahrheit entspricht. Ich versuche, die beiden abzuwimmeln, aber dann fragt der Kerl, ob er kurz die Toilette benutzen darf.

Als sie endlich abziehen, gehe ich ins Haus zurück und sehe, dass er ein Foto von Hazel auf dem Tischchen im Flur hinterlassen hat. Auf der Rückseite des Bilds steht, dass in drei Minuten eine Bombe hochgehen wird. Ich fange zu laufen an und sehe im selben Moment Ben mit den Kindern auf die Tür zukommen. Ich schreie, und Ben dreht sich um und nimmt die Kinder schützend in die Arme. Im nächsten Moment spüre ich diesen unglaublichen Hitzestoß und höre den Knall, und es bläst mich buchstäblich durch die Tür. Was mir das Leben gerettet hat, denn außer ein paar Verbrennungen und blauen Flecken fehlte mir nichts. Aber das Haus war zum Teil über Ben und den Kindern eingestürzt. Ich habe versucht …« Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie wischte sie mit der Serviette fort. »Ich habe versucht, die Trümmer wegzuräumen, als die Rettungskräfte eintrafen. Sie haben mich fortgezogen. Ich war überzeugt, sie seien alle tot, und ich glaube, an diesem Punkt hat es total ausgesetzt bei mir. Ich kann mich nur noch verschwommen erinnern. Ich weiß nur noch, dass sie Ben ausgegraben und die Kinder wie durch ein Wunder lebend unter ihm gefunden haben. Aber er selbst hatte schwere Verletzungen, an denen er noch am selben Tag gestorben ist …« Sie drehte die Serviette in den Händen und atmete tief ein, um sich zu beruhigen.

Lavelle verzichtete darauf, etwas zu sagen.

Jane atmete auf, als Deirdre mit ihrem ersten Gang am Tisch erschien.

»Die Kinder … waren sie verletzt?«, fragte Lavelle und nahm sich noch ein Stück Brot, um Jane ihre Vorspeise nicht allein essen zu lassen.

»Quetschungen und Abschürfungen, aber ansonsten schien alles in Ordnung zu sein …«

»Schien?«

»Wir waren alle taub von der Explosion. Scott und ich haben das Gehör schließlich wiedererlangt, aber Bethann wird offenbar auf Dauer geschädigt bleiben. Sie wird ein Hörgerät tragen müssen – wahrscheinlich für den Rest ihres Lebens.«

Lavelle seufzte. »Das ist so …« Er schüttelte den Kopf, suchte nach einem angemessenen Wort und gab es schließlich auf. »Erzähl mir von ihnen«, sagte er dann. »Von deinen Kindern.«

Zwischen Bissen von ihrer Vorspeise plauderte Jane von Bethann und Scott und erklärte, dass sie mit ihnen in Rathgar wohnte. »Wir hatten Glück, dass eine für Debbies Schwiegermutter angebaute Wohnung gerade frei wurde. Aber die Kinder wollen in ihr richtiges Zuhause zurück, wie sie es nennen.«

»Und besteht diese Möglichkeit?«

Jane legte das Besteck auf den leeren Teller und schüttelte den Kopf. »Zumindest nicht so schnell. Erst war es eine Zeit lang ein Tatort. Dann mussten die Versicherungsleute ermitteln. Ben war Architekt, deshalb habe ich wenigstens einigen sachkundigen Beistand von den Leuten in seinem Büro bekommen. Aber die Arbeiten haben gerade erst angefangen.«

»Und die Berichte, wonach das Haus versehentlich zum Ziel wurde. Wie kam es dazu?«

»Nun, die Polizei hatte den Attentäter ja buchstäblich vor meiner Tür abgeliefert. Sie hätten sehr schlecht ausgesehen, wenn die Wahrheit ans Licht gekommen wäre. Und ich meinerseits wollte nicht etwas in Gang setzen, mit dem ich mich hinterher immer weiter auseinandersetzen musste. Deshalb passte die Verwechslungsgeschichte beiden Seiten ganz gut. Es hatte eine Fehde zwischen zwei Banden gegeben, und einer der Bosse besaß ein Haus in den Dubliner Bergen nicht weit von uns. Es hatte bereits mehrere Anschläge auf sein Leben gegeben, deshalb spekulierte die Polizei – ohne es je offiziell festzustellen –, ein Auftragskiller könnte das falsche Haus ins Visier genommen haben. Die Medien haben es dankbar aufgesogen.«

Lavelle lächelte, aber es war ein trauriges Lächeln.

»Habe ich etwas Komisches gesagt?«

»Nein. Ich dachte nur gerade daran, wie KOSS uns beide wiedergefunden hat, aber keiner von uns konnte es aufgrund der Medienberichte vom anderen wissen.«

»Ich glaube, ich verstehe dich nicht.«

»Die Leute, die mich auf den Philippinen entführt haben – das war KOSS