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Es wäre einfacher gewesen, den Behälter in ein Flugzeug zu verladen, aber das hätte zu viele Formulare und eine unerwünschte Überprüfung bedeutet. Und je mehr Leuten er an öffentlichen Orten begegnete, desto größer war die Gefahr eines Diebstahls. Weshalb auch eine Zugfahrt ausgeschieden war. Deshalb hatte man ihn, Andreas Gruber, damit beauftragt, den Reliquienschrein mit dem Auto von Österreich nach Italien zu bringen. Die Chance, dass man ihn an der Grenze anhielt, war praktisch gleich null, und selbst wenn, hatte er alle nötigen Papiere und Genehmigungen dabei.

Es war ihm nicht klar, was mit dem Reliquienschrein geschehen würde, wenn er ihn ausgehändigt hatte. Er hoffte aufrichtig, es war nicht ein weiteres Beispiel dafür, dass Italien etwas an sich brachte, was eigentlich Österreich gehörte. So wie bei Ötzi, dem Mann aus dem Eis. Der war ihm vorhin in den Sinn gekommen, als er von Villach nach Udine über die Alpen gefahren war.

Inzwischen hatte er Udine hinter sich gelassen und war auf dem Weg in Richtung Venedig. Nicht dass er dorthin wollte. Er sah auf seinem Navigationsgerät nach, wie weit es noch bis zu seinem Zielort war. Er hatte erst ein Drittel der rund dreizehnhundert Kilometer weiten Fahrt zurückgelegt.

Als Kurator von Hunderten von Sakralgegenständen, die selten wenn überhaupt ausgestellt wurden, geriet er nicht sehr oft ins Rampenlicht. Und das hier war auch kein Job, der ihm irgendeinen Profit einbringen würde. Aber in vielerlei Hinsicht genoss er das Mysterium darum. Zu einer heimlichen Unternehmung zu gehören, die er vor seinen Kollegen, selbst vor seiner Familie verborgen halten musste.

Der Direktor hatte ihn vor etwas mehr als einer Woche zu sich in sein Büro gerufen, und nachdem er ihn aufgefordert hatte, Platz zu nehmen, begann er in allgemeiner Form über die ständig größer werdende Sammlung veralteter Kuriositäten in Grubers Reliquienschrein-Abteilung zu sprechen. Erst dachte Gruber, der Direktor wolle ihm mitteilen, dass man sich aufgrund von Mittelkürzungen von ihr trennen müsse. Er wusste, dass es ein Unternehmen in den Niederlanden gab, das darauf spezialisiert war, Kircheneinrichtungen, einschließlich Reliquienschreine – und sogar die Reliquien selbst – zu kaufen und über das Internet weltweit zu veräußern. War es ihr Schicksal, dort zu enden? Und konnte es den Verlust seines Arbeitsplatzes bedeuten?

Er musste zugeben, dass das Museum Katholischer Antiquitäten ein gewisser Sonderfall war. Im Zuge des Zweiten Vatikanischen Konzils hatten sich Kirchen im nördlichen Europa zuhauf von dem ganzen Drum und Dran eines sentimentalen, manche würden sagen, abergläubischen Glaubens frei gemacht, wie er seit dem Mittelalter geherrscht hatte. Und so bekamen die Besucher des Museums Devotionalien aus Vorkonzilszeit in einer säkularen Museumsumgebung zu sehen, ihres eigentlichen Zwecks beraubt. Was bedeutete, dass die ausgestellten Objekte, einschließlich der Reliquienschreine, hauptsächlich von ästhetischem Interesse waren – und nicht unbedingt Publikumsmagnete. Anders im südlichen Europa, wo ein konservierter Leichnam oder eine Wunder wirkende Reliquie in der herkömmlichen Umgebung einer Kirche noch immer einheimische Gläubige und staunende Touristen in großer Zahl anziehen konnte.

Von den vielen aussortierten Schreinen, die aus Österreich und Deutschland in dem Museum gelandet waren, wurden nur einige ausgestellt, während die überwältigende Mehrheit in einem Labyrinth von Lagerräumen im Untergeschoss aufbewahrt wurde. Sie standen in Regalen, hingen an Wänden, lagen in Glasvitrinen oder vergammelten in Schubladen. Es gab sie in Form von Statuen, Büsten, Köpfen, Torsi, Armen, Beinen, Füßen, Fingern, Herzen, sie nahmen die Gestalt von Särgen, Kreuzen, Anhängern, Phiolen, Fläschchen, Urnen, Triptychons, Sarkophagen oder sogar Miniaturkirchen an. Sie konnten aus Elfenbein, Holz, Gold, Silber, Messing, Glas, Marmor, Felskristall sein und eingelegt mit Email oder mit Perlen und Edelsteinen besetzt.

Und doch waren sie nur die Behälter. Ihren ganzen Sinn bezogen Reliquienschreine aus ihrem Inhalt – den Bruchstücken von Menschen, die als heilig verehrt wurden, ihren abgetrennten Körperteilen und gesammelten Auswüchsen. Knochenstücke, abgeschnittene Fingernägel, Dornen aus der Dornenkrone, Stofffetzen, Haarschnipsel, Nägel und Holzsplitter aus dem Kreuz Jesu, geronnenes Blut und Milch. Manche Reliquien waren leicht zu sehen oder zu entfernen, andere waren auf Dauer in ihren Behältern verschlossen. Manche Schreine sollten die Reliquie sichtbar machen, aber viele waren undurchsichtige Gefäße, die ein winziges Stückchen von den sterblichen Resten oder den Besitztümern des Heiligen in Seidenstreifen eingewickelt enthielten. Und dann gab es noch die Unterscheidung zwischen Klassen von Reliquien, von den angeblich echten Knochen eines Heiligen bis hin zu den bescheidenen Gegenständen, die lediglich mit ihm in Kontakt gekommen waren. Das Museum enthielt nur Reliquien der ersten und zweiten Klasse – Körperteile des Heiligen oder Dinge, die er zu Lebzeiten getragen oder berührt hatte.

Doch viele von Grubers Reliquienschreinen waren fehlerhaft. Die Edelsteine etwa waren entfernt worden, das Blattgold abgetragen oder beschädigt, oder sie waren schlicht primitiv gemacht. Andere waren von beträchtlichem künstlerischem Interesse, oder es wohnte ihnen ein eigener Wert inne, aber sie waren unmöglich zu identifizieren oder zu kategorisieren. Und in diese Richtung ging die nächste Erkundigung des Direktors.

»Es gibt einen besonderen Bereich hochwertiger Reliquienschreine bei Ihnen, die uns vor gewisse Schwierigkeiten stellen, nicht wahr?«

Schiegl war ein kleiner, rundlicher Mann mit dem Aussehen eines Prälaten, aber sein Flirt mit dem Leben im Priesterseminar hatte nur ein Jahr gedauert. Gruber hatte nie erfahren, warum der Direktor nicht weitergemacht hatte, aber man konnte wohl sagen, dass er eine Parallelkarriere in kirchlichen Dingen eingeschlagen hatte, in dem Sinn, dass er ein Experte für sakrale Antiquitäten war und mehrere Ausstellungen im Lauf der Jahre als Kurator betreut hatte.

»Ja, Herr Direktor. Die Schwierigkeit kann darin bestehen, die Herkunft eines Reliquienschreins festzustellen oder ihn einem bestimmten Heiligen zuzuschreiben. Oder er kann schwer zugänglich sein, sodass wir nicht genau wissen, was er enthält. Es kann sogar die Frage auftauchen, ob es sich überhaupt um einen Reliquienschrein handelt.«

»Hm.«

»Erwägen Sie, diese Objekte aus dem Museum zu entfernen?«

»Nein«, sagte der Direktor, sichtlich verwirrt über die Unterstellung.

Gruber ohrfeigte sich innerlich. Es war ein großes Manko von ihm, dass er ständig versuchte vorwegzunehmen, was jemand sagen würde, und in der Regel falsch damit lag.

»Nein. Ganz und gar nicht. Ich möchte, dass Sie etwas für mich suchen. Einen Schrein, der all die Punkte erfüllt, die Sie umrissen haben.«

»Ach so?«

Bei einigen früheren Gelegenheiten hatte ihn der Direktor gebeten, eine seiner Reliquien zur Verfügung zu stellen, um ein bestimmtes Thema zu illustrieren oder eine Lücke zu füllen, wenn die vielen Formen und Größen gezeigt wurden, in denen es sie gab. Und das war nun Grubers zweiter Gedanke. Schiegl plante eine weitere Ausstellung. Oder er war eingeladen worden, einige Objekte zu einer Ausstellung im Ausland beizusteuern. Das war bisher zweimal passiert, und bei diesen Gelegenheiten hatte Schiegl ihn gebeten, welche auszuwählen, die den im Museum ausgestellten erstklassigen Exponaten ähnelten. Der Direktor war nicht scharf darauf, dass seine Lieblingsstücke auf Reisen gingen.

»Vor einigen Jahren haben Sie mir ein Objekt aus einem Kloster in der Nähe Wiens gezeigt, das sich seiner Reliquienschreine entledigte«, fuhr Schiegl fort. »Es hatte die Größe eines Schuhkartons, wenn ich mich recht erinnere. Mit Silber überzogen und mit einem Ornament auf dem Deckel. Und der Deckel war unlösbar mit dem Behälter verbunden. Ich glaube, wir haben es als schatullenartigen Schrein kategorisiert und waren uns einig, dass es wahrscheinlich byzantinisch ist, aber Sie sagten, es gehöre in keine Ihnen bekannte Kategorie.«

»Ja, Herr Direktor, ich erinnere mich. Wir kennen nicht alle Aspekte byzantinischer Reliquienverehrung, und aus diesem Grund dachte ich, ich sollte …«

»Ja, ja … noch einige weitere Studien durchführen. Haben Sie mehr darüber herausgefunden?«

Gruber nahm seine Brille ab und ließ sie auf die Brust hängen. »Vieles spricht dafür, dass das Objekt zusammen mit anderen Schätzen zur Zeit des vierten Kreuzzugs aus Byzanz kam. Es fand seinen Weg in das Kloster, wo man es als Reliquienschrein ansah und ganz ließ, anstatt es zu Kirchensilber einzuschmelzen. Ich glaube, das war zum Teil auch den Schuldgefühlen zu verdanken, die man vielerorts im westlichen Christentum über die Plünderung Konstantinopels empfand. Aus Rom erging damals die Weisung, religiöse Gegenstände aus der Beute, die an Klöster und Kirchen gingen, seien mit Respekt zu behandeln.«

»Ja, ja, aber gab es keinen weiteren Hinweis auf seine Herkunft?«

»Nein, Herr Direktor.«

»Keine Zurückführung auf einen Heiligen?«

Gruber schüttelte den Kopf.

»Auf Jesus oder Maria?«

»Nein.«

»Hm. Umso besser, würde ich meinen«, sagte Schiegl rätselhafterweise. Er beugte sich vor und sah Gruber mit einem Anflug von Misstrauen an. »Und Sie haben keine Ahnung, was drin ist?«

»Nein. Wir können ihn nicht öffnen, ohne ihn zu beschädigen. Ich hatte allerdings vor, Mittel zu beantragen, um ihn irgendwann röntgen zu lassen.«

»Ja, aber das wird jetzt nicht mehr nötig sein«, sagte Schiegl ziemlich barsch und lehnte sich zurück. Dann bat er Gruber, den Schrein zu suchen und in sein Büro zu bringen, aber er ermahnte ihn, keinem anderen Angestellten irgendetwas davon zu sagen.

Als Gruber das Artefakt später an diesem Nachmittag auf den Schreibtisch des Direktors stellte, zeigte ihm Schiegl eine Zeichnung, die aussah, als sei sie aus einem alten Buch gescannt worden. Sie bildete Vorder- und Rückansicht eines aufrecht stehenden länglichen Objekts ab. Es gab fünf runde Skalen in einer Reihe auf einer Seite und eine Anzahl von Schlitzen auf der anderen, in die jeweils eine quadratische Kachel oder ein Knopf in jeweils anderer Position eingesetzt war.

»Das hier hoffen wir zu finden«, sagte Schiegl. »Wir werden den Schrein doch noch röntgen lassen.«

»Darf ich fragen …«

»Nein, dürfen Sie nicht.« Schiegl legte das Blatt beiseite. »Wir wurden gebeten, diese Angelegenheit absolut vorrangig zu behandeln, aber diskret vorzugehen und möglichst wenige Leute einzubeziehen. Ich kann nur verraten, dass die entsprechende Anfrage des Kulturministeriums an alle Kirchen, Klöster und Museen in Wien gegangen ist. Und mein Gefühl sagt mir, dass sie hier bei uns möglicherweise den Jackpot geknackt haben.«

Gruber wies nicht auf die unfreiwillig komische Wortwahl des Direktors hin. Es war zu ermüdend. »Und wenn es so ist?«, fragte er.

Schiegl lehnte sich zurück. »Die Finanzierung einer weiteren Ausstellung, Gruber«, strahlte er. »Darauf hoffe ich. Es ist das wenigste, was sie tun können.«

Seither war eine Woche vergangen, und jetzt war er an diesem schönen Sommersonntag auf dem Weg nach Italien. Die Röntgenaufnahme musste gezeigt haben, dass sich das Ding – was immer es war – in der Schatulle befand.

Er sah auf den Beifahrersitz hinunter. Kurz nach der Grenze zu Italien war er an eine Tankstelle gefahren und hatte beschlossen, den Reliquienschrein aus dem Kofferraum zu holen. Er lag jetzt in einer offenen Schachtel auf dem Sitz neben ihm. Die Schatulle war sehr schwer für einen Gegenstand dieser Größe – im Wesentlichen ein mit dünnen Silberplättchen verkleideter Behälter aus Holz. Wenn also das Objekt, dessen Zeichnung er gesehen hatte, tatsächlich darin eingeschlossen war, musste es aus Metall sein. Vielleicht war es ebenfalls ein Reliquienschrein? Aber was befand sich dann in diesem, dass man es gleich in zwei Behälter verschließen musste?

Die äußere Schatulle lieferte keinen Hinweis. Das einzige auffällige Merkmal war die Verzierung auf dem Deckel – ein mit Lapislazuli eingelegtes und im unverkennbaren Stil einer keltischen Brosche ausgeführtes Medaillon.

Wenn er die ferne Stadt erreichte, sollte er den Schrein in einer Kirche abliefern, einer gänzlich unbekannten dazu. Vielleicht war es wirklich besser, wenn er dort blieb. Im südlichen Italien würde man ihm hoffentlich etwas Respekt erweisen und ihn eventuell sogar ausstellen.