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Als die Bewohner von Sant’Elia an diesem Morgen erwachten, stellten sie fest, dass ihr kleiner Bergort nach Wochen mit klarem Himmel in einem Meer von Wolken trieb.

Kurz nach dem Frühstück gingen Jane Wade und ihr Freund Giuseppe Rinaldi zum befestigten höchsten Punkt des Orts hinauf, vorbei an der Kirche und hinüber zur Brüstung am Rand der Piazza. Von dort konnten sie den Nebel direkt unterhalb von ihnen wabern sehen.

Seit ihrer Ankunft hatte sich Jane jeden Tag auf Zehenspitzen an die Brüstung gestellt und über die nahen Hügel geblickt, deren Hänge in der Hitze schimmerten. Dahinter erhoben sich zwei höhere Gipfel, der eine kahl, der andere von einem Dorf gekrönt, dessen weiß getünchte Mauern und rote Dächer wie winzige Kacheln in der Ferne aussahen. Es war ein Dorf ohne Namen, oder zumindest mit einem Namen, den die Bewohner der anderen Dörfer in der Gegend nicht gern aussprachen. Sie sagten einfach das Dorf oder sogar das Dorf der Hexen.

Wie ein Anhänger in das Dekolleté zwischen den beiden Gipfeln geschmiegt lag noch ein anderes Dorf: Collalba, die Heimat einer Gemeinde von Arbëresh – Albaner, deren Vorfahren im 15. Jahrhundert vom Balkan geflohen waren.

In der Ferne hinter diesen nahen Gipfeln erhoben sich die mächtigen grauen Kolosse der südlichen Apenninen.

Wenn sie sich weit genug streckte, wurde der Fuß der massiven Mauer normalerweise sichtbar, die schräg auf die Straße unten traf, dann folgte ihr Blick immer dem Verlauf der Straße, vorbei an dem alten Pferdetrog, der den Eingang zum Dorf markierte, am Friedhof links, der zum Teil hinter dunklen Zypressen versteckt lag, und dahinter rechts zu dem Fußweg, der in den Wald führte und auf dem sie immer ihren Morgenspaziergang gemacht hatte. Zumindest bis gestern. Da war sie einem wilden Eber begegnet, der den Weg entlangschnüffelte. Er war genauso erschrocken wie sie, und beide hatten in entgegengesetzte Richtung eilig die Flucht ergriffen.

Dem berühmtesten Bewohner des Hügellands war sie bisher jedoch nicht begegnet: der Loricato-Kiefer, so benannt wegen ihrer dunklen Rinde, die an die metallenen Schuppenpanzer der römischen Zenturionen erinnerte. Außerhalb des Balkans wuchs dieser Baum nur hier in der Basilikata, mit bis zu tausend Jahre alten knorrigen und verkrüppelten Exemplaren an den windgepeitschten Hängen. Jane hatte gehofft, ein paar Bilder dieser eindrucksvollen Bäume schießen zu können, aber bislang hatte sie kein Glück gehabt.

Schließlich verlor man die Straße im Wald aus dem Blick, wo sie sich nicht einsehbar ins Tal hinunterschlängelte.

Doch nichts von alldem war heute sichtbar, es wurde verhüllt von dem Nebel, der sich, wie Giuseppe erklärt hatte, gelegentlich über einem großen Reservoir in einem benachbarten Tal bildete und von dort die Hänge heraufkroch.

»Schau«, sagte er jetzt und berührte sie am Arm.

Sie wandte den Kopf und sah, dass der Nebel die Kirche auf der tieferen Seite des abfallenden Platzes eingehüllt hatte.

»Wird er sich lange halten?«

»Möglicherweise den ganzen Tag. Und es wird auch Regen geben. Den ganzen Tag.« Er lächelte, seine sanften braunen Augen blitzten trotz seiner siebzig Jahre noch immer schalkhaft. Jane erkannte sein Alter nur daran, dass die ordentlich geschnittenen Haare und der Bart jetzt weiß waren wie der Nebel, der über die Brüstung quoll.

»Regen?« Jane fröstelte, da die kühle Luft durch ihre leichte Kleidung drang. »Ich hatte gehofft, noch ein paar Fotos machen zu können.«

»Und endlich eine Loricato zu erwischen?«

»Das dürfte jetzt ziemlich aussichtslos sein. Vielleicht vom Friedhof, habe ich mir überlegt.«

Giuseppe nickte. »Der scheint dich aus irgendeinem Grund zu faszinieren.«

»Er ist anders.«

»Vielleicht morgen früh, bevor du fährst? Wir könnten unterwegs anhalten.«

Das wäre gegen 6.00 Uhr morgens. Sie musste früh aufbrechen, um nach Neapel zu kommen und einen Flug nach Dublin zu erwischen.

»Wir werden sehen«, sagte sie und bemerkte, dass der Nebel am Glockenturm nach oben kroch. Wie um auf dieses Ereignis aufmerksam zu machen, läutete die Glocke neun Mal und ertönte dann noch zwei Mal in einem anderen Ton. Es war 9.30 Uhr. Jane spürte die ersten Regentropfen auf ihrem T-Shirt. Zeit, ins Haus zu gehen.

Der Regen hörte den ganzen Tag nicht auf, und zu Janes Überraschung hielt sich der Nebel ebenfalls – offenbar eine Besonderheit des Bergwetters und der Grund für Giuseppes verschmitztes Lächeln. Sie unternahm mehrere Anläufe, sich mit der Kamera hinauszuwagen, wurde aber jedes Mal zurückgeschlagen, da es immer dann noch heftiger goss, wenn sie das Haus verließ. Sie hätte Giuseppes Auto nehmen können, wollte bei dem Nebel aber nicht in der Gegend herumfahren. Auch wenn weniger Verkehr herrschte, konnte man leicht von der Straße abkommen und in die Tiefe stürzen.

Gegen Abend ließ der Regen schließlich nach, und sie beschloss, es auszunutzen. Mit der Kamera in ihrem Gehäuse und geschützt von der wasserdichten Jacke war sie eben an der Kirche vorbeigeschlüpft, um die erste von fünf Kopfsteinpflastertreppen hinunterzugehen, als sie sah, dass neben ihr ein kleiner Bach floss.

Als sie den Fuß der ersten Treppe erreichte, hatte sich ein zweiter Bach, der aus einer der Dorfgassen strömte, zu dem ersten gesellt. Ehe sie sich’s versah, hatte das Wasser ihre leichten Turnschuhe erfasst. Sie trat an die Wand zurück und schaute um die Ecke. Die tiefer gelegenen Treppen waren fast vollständig von dem Sturzbach überspült. Von allen Seiten strömte das Wasser aus dem Gassengewirr des Dorfs zusammen. Sollte sie weitergehen? Sie sah sich um. Gebäude ragten aus dem Nebel, der sich endlich lichtete. Und der Regen ließ nach. Dann bemerkte sie ein paar Plastikflaschen voll Wasser auf manchen Türschwellen. In Sant’Elia glaubte man, dass sie Katzen abhielten, die hier fast wild zu leben schienen.

War es Aberglaube, oder dachten die Leute wirklich, die Abneigung von Katzen gegen Wasser würde auch dann wirken, wenn sie es in einer Flasche sahen? Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie seit Verlassen des Hauses keinen anderen Menschen gesehen hatte. Vielleicht waren sie selbst ein wenig abergläubisch in Bezug auf Wasser. Es hätte sie nicht im Geringsten überrascht.

Sie bog um die Ecke und lief in ihren durchnässten Turnschuhen am Rand der Treppe weiter abwärts, wo das Wasser nicht so hoch war. Und da sah sie das tote Kätzchen. Ein winziges, schwarz-weißes Ding, das auf dem Rücken in einem Torweg lag, in das es die Strömung gespült hatte. Das Fell war verfilzt, und eine zierliche Pfote ragte steif in die Luft. Jane bückte sich und erkannte, dass es keine Anzeichen für eine Verletzung gab. Das Kätzchen war offenkundig ertrunken. Wasser war also doch zu seinem Schicksal geworden.

Während sie die Treppen hinunterstieg, hörte der Regen gänzlich auf, aber inzwischen war es nach sechs, und es wurde dunkler. Sie trat vorsichtig auf die Straße unterhalb der Mauern des Orts und sah, dass sich der Sturzbach, der die Treppen herunterkam, in einen tiefen Graben neben der Straße ergoss und darin talwärts rauschte.

Und noch immer war kein Mensch unterwegs.

Während sie in der zunehmenden Dämmerung die nebelverhangene Straße entlangging, fragte sich Jane, warum sie sich so für den Friedhof begeisterte. Wie bei Begräbnisstätten in diesem Teil der Welt üblich, bestand er aus mehreren hausartigen Gebilden, in die Reihen von Nischengräbern eingelassen waren, sogenannten loculi. Das Ganze wirkte wie ein Wohnblock mit fünf Stockwerken aus Loculi auf allen Seiten einschließlich der Giebelseite. Jedes Grab war mit einer quadratischen schwarzen Marmorplatte verkleidet, die Name, Daten und ein Foto des Grabinsassen trug. Vor jeder dieser Platten stand auf einem kleinen Sims eine Vase mit Blumen – frisch, welk oder verdorrt – und daneben ein elektrisches Andachtslicht.

Die Pflege und Aufmerksamkeit, mit denen die Gräber bedacht wurden, zeugte von einem Ort, an dem die Vorfahren weiter Teil der Gemeinschaft waren. Ihre Körper mochten verfallen, aber ihr Andenken wurde bewahrt, solange noch jemand lebte, der sich an sie erinnerte. War es das, was Jane anzog?

Sie fand die Fotos allerdings ein wenig unheimlich, speziell die der älteren Leute. Auf den meisten Bildern sahen sie krank und gebrechlich aus, in manchen Fällen ähnelten sie praktisch Leichen. Es erschien ihr unfair, wenn man sich an jemanden, der lange gelebt hatte, nur als alten Menschen erinnerte. Es gab ihr einen Stich bei dem Gedanken, dass ihren verstorbenen Mann Ben dieses Schicksal nicht treffen würde. Aber der Augenblick ging vorüber – es schien mit den Monaten immer schneller zu gehen –, dann lächelte sie, als sie sich vorstellte, wie er neben ihr ging, den Arm um sie legte und etwas sagte wie: »Jung sterben hat auch seine Vorzüge, weißt du.«

Der Friedhof lag fast einen Kilometer vom Ort entfernt, auf einer Anhöhe links der Straße. Ein aus Ästen geflochtener Zaun auf einer Seite und eine Reihe dunkler Zypressen auf der anderen flankierten die Zufahrt zum Tor. Sie hatte sie zur Hälfte zurückgelegt, als die Giebelseite eines der Gebäude aus dem Nebel auftauchte. Unter dem Teerdach des Grabgebäudes waren alle Loculi elektrisch beleuchtet – ein schleierartiger, heller Ring um jedes Votivlicht. Erst jetzt bemerkte Jane einen roten Lieferwagen unter den Zypressen, der mit dem Heck zum Eingang geparkt war. Sie warf einen Blick in den Wagen, als sie ihn passierte, aber niemand saß darin. Dann sah sie, dass die Hecktüren offen standen. Sie blieb einen Moment stehen und lauschte, da sie nicht weitergehen wollte, ehe sie sich überzeugt hatte, dass sich niemand hier draußen herumtrieb. Aber alles, was sie hörte, waren Wassertropfen, die von den Zypressen auf das Dach des Fahrzeugs fielen. Hier war niemand. Der Wagen gehörte wohl dem Friedhofsverwalter. Vielleicht musste man die elektrische Beleuchtung von Hand einschalten.

Wie um ihre Vermutung zu bestätigen, stand das schmiedeeiserne Tor des Friedhofs offen. Sie ging hinein, und im selben Moment wurde die Stille von einer Reihe hallender Schläge durchbrochen, gefolgt vom Geräusch einstürzenden Mauerwerks.

Bei ihrem vorhergehenden Besuch hatte sie einen kürzlich errichteten Block mit Reihen noch offener Loculi bemerkt. Wenn also genügend Platz verfügbar war, warum sollte jemand ein verschlossenes Grab aufbrechen? Dann kam ihr der Gedanke, dass die Friedhofsarbeiter vielleicht aus irgendeinem Grund eine Leiche exhumierten oder verlegten. Sie hatte eine Anzahl größerer Gruften in einem der Gebäude gesehen, die mit Ossario Famiglia beschriftet waren, gefolgt vom Namen der Familie. Vermutlich sammelten sie die Knochen in manchen Fällen also nach einer bestimmten Zeit wieder ein und bestatteten sie neu in einer Gemeinschaftsgruft.

Eine weitere Folge schwerer Schläge hallte in den Durchgängen zwischen den Gebäuden. Jane blieb stehen und überlegte unter dem Vorwand, ihre Kamera auszupacken, was sie nun tun sollte. Sie konnte nicht sagen, woher die Abbruchgeräusche kamen oder wie weit entfernt das Ganze von ihrem Standort war. Aber sie hatte kein Verlangen, es näher zu untersuchen. Ein paar Aufnahmen von der nächstgelegenen Giebelseite, dann würde sie den Friedhof verlassen. Sie richtete die Kamera auf die Wand aus Loculi und suchte einige für Einzelaufnahmen heraus, aber sie war zu nahe dran, um ein Gesamtbild der Wand mit den durch den Nebel leuchtenden Lampen zu erhalten. Deshalb ging sie zurück und nach rechts, wodurch die Längsseite des Gebäudes ins Blickfeld kam. Direkt um die Ecke sah sie einen Pickel und einen kurzstieligen schweren Hammer auf dem Boden liegen und dahinter eine Lampe, die von einem Grabsims entfernt worden war.

Sie hörte den Mann, bevor sie ihn sah. Er ächzte mühsam und brabbelte in einem unverständlichen Dialekt heiser vor sich hin. Der Nebel lichtete sich weiter, und sie sah, dass er umgeben von Marmor- und Betonbrocken auf der Erde kniete. Er hatte einen bestimmten Typus von Filzhut auf, wie ihn ältere Männer in der Gegend gern trugen. Sein sonnengebräuntes, von grauen Stoppeln bedecktes Gesicht war schmal und gefurcht wie eine alte Holzschnitzerei. Und er zog einen Sarg aus einer Nische in der untersten Gräberreihe.

Jane wandte sich zum Gehen, aber der Mann hatte sie gesehen und begann, auf sie einzureden, als versuchte er zu erklären, was er da machte. Dabei zeigte er auf einen flachen, hölzernen Karren neben sich. Er unternahm einen letzten Versuch, den einst weißen Holzsarg herauszuziehen, der jetzt grün verfärbt und vor Feuchtigkeit aufgequollen und verformt war. Da er ihn nicht herausbekam, stand der Mann auf, nahm kurz den Hut ab und wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn. Er sah sie aus wässrigen, blutunterlaufenen Augen an, und in seinem Mund waren ein paar braune Zahnstummel zu erkennen, als er in seiner merkwürdigen Sprache erneut etwas zu ihr sagte. Danach wiederholte er es offenbar auf Italienisch, aber er sprach so schnell, dass Jane nichts weiter verstand als del mondo.

Sie schüttelte den Kopf. »Non capisco«, erwiderte sie und merkte, dass ihre Stimme zitterte.

Er setzte seinen Hut wieder auf, der wirkte, als wäre er ihm zu klein. »E la fine del mondo«, sagte er müde.

Jetzt hatte ihn Jane verstanden. Es ist das Ende der Welt.

Dann bückte er sich, zog noch einmal an dem Sarg, und es gelang ihm, ihn ein Stück weiter herauszuziehen. Jane wich langsam zurück und bereitete sich darauf vor loszurennen.

In diesem Moment landete der Sarg krachend auf dem Boden. Der Aufprall genügte, damit das verfaulte Holz auseinanderfiel und der Deckel ins Innere des Sargs sackte.

Unter gequältem Stöhnen warf der alte Mann den Deckel beiseite und nahm in Augenschein, was darunterlag. Aus Janes Blickwinkel sah es aus wie die Leiche einer Frau, die man offenbar in ihrem Hochzeitskleid beerdigt hatte. Das Material war feucht und verfärbt und klebte an ihr. Ihr Kopf war zum Glück von vielen Lagen Tüllschleier bedeckt.

»È mia figlia«, sagte der alte Mann in schlichtem Italienisch, während Tränen in seine Augen traten. »Mia piccola figlia.« Dann bekreuzigte er sich, und ehe Jane etwas tun oder sagen konnte, zog er die Leiche seiner Tochter an die Brust.

»Succede tutto come predetto«, flüsterte er und lüftete vorsichtig den Schleier von ihrem Gesicht. Der größte Teil des Schädels war noch von einer Maske aus schwarzem Gewebe bedeckt, aber der Stirnknochen lag frei, mit einigen Hautfetzen, die sich davon lösten. Und doch hatte sie noch immer einen vollen schwarzen Haarschopf.

Ihr Vater blickte auf sie hinab und begann dann, leise summend, wie er es in der Kindheit des Mädchens getan haben mochte, über ihr Haar zu streichen. Im selben Moment löste es sich mit dem daran befestigten Schleier vom Schädel, wie eine Perücke, die verrutscht ist. Nur dass Jane wusste, es war keine Perücke.

»Succede tutto come predetto«, lauteten die Worte des heiseren Schlaflieds, das ihr Vater summte, während er über den Schädel seiner Tochter strich. »Succede tutto come predetto.«

Es trifft alles ein wie vorhergesagt.