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Der Turm des Kornspeichers ragte drohend in den Nachthimmel, durch dessen Wolkenschleier ein milchiger Mond schien. Unter den nahen Bäumen lag ein halbes Dutzend Detectives und uniformierte Polizisten auf der Lauer. Dempsey und Taaffe standen mit gezogenen Revolvern links und rechts der Tür zu Edwards’ Wohnung auf der Treppe, die um den Turm herumführte. Sie hatten ein paar Schritte oberhalb der Tür durch ein vergittertes Fenster gespäht. Der runde Raum dahinter wurde von einem flackernden Fernsehschirm erhellt, aus einer offenen Falltür in der Mitte des Raums kam ebenfalls ein Lichtschein. Sie nahmen an, dass Edwards mit Jane da unten war.
Taaffe legte die flache Hand an die massive Tür und drückte. Es klapperte. »Von innen verriegelt«, flüsterte er seinem Kollegen zu. »Wir brauchten eine Axt, um sie einzuschlagen.«
»Aber wir haben keine. Wir werden sie mit den Maschinenpistolen kurz und klein schießen müssen und dann von unseren kräftigsten Jungs eintreten lassen.«
»Scheiße. Bis wir da drinnen sind, hat er sie garantiert erledigt.«
»Wir haben aber kaum eine andere Wahl.«
Dempsey hatte ausdrücklich verboten, dass auf dem Weg nach Glencullen House Sirenen eingesetzt wurden oder dass Fahrzeuge weiter als bis zur Abzweigung von der Hauptzufahrt fuhren. Falls Jane Wade noch lebte, wollte er Edwards’ Handlungen nicht beschleunigen. Oder die Sache zu einer Belagerung werden lassen.
Von der Zufahrt aus waren sie zu Fuß weitergegangen. Lavelle, der bei ihrem Tempo nicht mithalten konnte, hinkte in Begleitung eines eigens von Dempsey abgestellten Beamten hinterher.
Sobald der Kornspeicher in Sicht kam, war Taaffe abrupt stehen geblieben. »Genau so einen hab ich schon mal gesehen«, sagte er, wobei er trotz seiner Überraschung flüsterte.
»Auf dem Landsitz Castletown, nicht weit von dort, wo ich aufgewachsen bin.«
»Den Turm, meinst du?«, »Ja. The Wonderful Barn – der hier sieht genauso aus. Unser Hof war ungefähr zwei Meilen entfernt. Als Kinder haben wir darin gespielt.«
»Dann weißt du also, wie man hineinkommt.«
»Schon, aber das wird nicht einfach. Im Wesentlichen war er als Getreidelager für den Winter gedacht. Aber er wurde eben auch so gebaut, dass er Plünderer abhielt.«
Dempsey machte ihm ein Zeichen, still zu sein. Der Kotflügel eines rückwärts an der Treppe geparkten Wagens glänzte im Mondlicht. Mit einer Handbewegung bedeutete der Inspector den Männern hinter ihnen, stehenzubleiben. Taaffe ging in die Hocke, kroch zu dem Fahrzeug und leuchtete vorsichtig mit einer Taschenlampe hinein, bevor er wieder zu Dempsey schlich.
»Jetzt wissen wir definitiv, dass sie da drinnen ist«, sagte er mit Blick zum Turm.
»Wieso?«
»Ihre Tasche ist im Wagen, sie liegt auf dem Rücksitz.«
»Also gut, Jack, denk genau nach. Wie kommen wir da rein?«
»Es gibt keine Fenster im Erdgeschoss, aber irgendwo müsste ein großes Scheunentor sein.« Er sah zum Turm. »Vielleicht auf der Rückseite. Die Treppe führt zu kleineren Türen auf den anderen sechs Ebenen, so wie die eine, die wir von hier aus sehen.« Sie blickten beide zum ersten Treppenabsatz.
»Aber falls die Türen verschlossen sind«, fuhr Taaffe fort, »kommen wir vielleicht durch eines der Fenster hinein.« Dempsey konnte eine Reihe dreieckiger Vertiefungen in jedem Stockwerk erkennen. »Früher waren das nur offene Schlitze, damit die Luft über dem Getreide zirkulieren konnte. Vielleicht sind manche noch im Originalzustand.«
Dempsey schickte sofort zwei uniformierte Beamte zur Inspektion des Turms, nachdem er ihnen rasch erklärt hatte, wonach sie Ausschau halten mussten. Nach wenigen Minuten erstatteten die Männer Bericht. Bei der Renovierung waren sämtliche Türen mit Steinblöcken, die zu dem ursprünglichen Material passten, versiegelt worden. Die einzige Ausnahme war die Tür, die sie sahen und die zu einer Wohnung führte, wie die Polizisten bestätigten. Und die Fenster hatte man nicht nur verglast, sondern zusätzlich vergittert.
Die Zeit lief ihnen davon. Lavelle hatte gerade den Turm erreicht und saß atemlos einige Schritte unterhalb der beiden Detectives auf der Treppe. Er kam sich nutzlos vor. Es musste doch irgendeine Möglichkeit geben, sie zu retten – anders als beim letzten Mal, dachte er wehmütig.
Dempsey sah wieder durch das Fenster. »Was ist das für ein komischer Apparat dort drüben bei der Falltür?«, fragte er seinen Kollegen.
Taaffe spähte ins Halbdunkel. »Eine Winde«, antwortete er.
»Davon gab es früher auf jeder Etage eine, damit sie das Getreide heraufholen konnten. Edwards hat Wade wahrscheinlich damit nach unten abgeseilt.«
»Ich sehe außerdem eine Leiter da drin, die von der Wohnung in das Stockwerk darüber führt«, sagte Dempsey. »Vermutlich kommt er also mit Hilfe einer weiteren Leiter hinab ins Erdgeschoss, und das heißt, wir kommen ebenfalls hinunter.«
»Wahrscheinlich gibt es auf jeder Ebene eine«, sagte Taaffe.
»Das sind Inspektionsleitern.« Erinnerungen an ein Spiel seiner Kindheit stiegen in ihm auf.
»Also gut, holen wir die Artillerie herauf«, sagte Dempsey und wollte den wartenden Detectives mit ihren Maschinenpistolen ein Zeichen geben.
Aber Taaffe packte ihn am Arm. »Verdammt, ich hab’s, Kevin. Wenn es tatsächlich Leitern zwischen allen Ebenen gibt, dann müsste ich hineinkommen. Aber ich muss ganz nach oben.«
»Wir haben keine Zeit mehr«, sagte Dempsey.
Lavelle hörte sie flüstern. Zeit. Zeit schinden. Er winkte Taaffe zu sich. Der Detective Sergeant kam ein paar Stufen herab und kauerte sich neben ihn.
»Ihr Notizbuch«, flüsterte Lavelle. »Die Nummer, die Ihnen Lyons gegeben hat. Mir ist da was eingefallen.«
Taaffe begriff sofort, was Lavelle vorhatte, und riss die Seite mit der Nummer aus seinem Buch. Dann leuchtete er dem Priester mit der Taschenlampe, während dieser die Nummer in sein Handy eintippte.
Taaffe gesellte sich wieder zu Dempsey.
»Was ist los?«, fragte der Inspector irritiert.
»Lavelle ruft ihn an – um Zeit zu schinden. Gib mir ein, zwei Minuten, bis ich ganz oben bin, dann ruf mich auf dem Handy an, und ich sag dir, was los ist. Wenn ich glaube, dass ich es nicht schaffe, kannst du die Jungs holen, damit sie die Tür zu Kleinholz schießen.«
Dempsey wölbte die Hand über seine Uhr und stellte die Stoppuhr ein. »Also gut, zwei Minuten. Und keine Sekunde länger. Wie viele Stufen sind das?«
»Ungefähr hundert.«
»Dann musst du noch schneller sein, als du als Junge warst. Los jetzt!«
Taaffe streckte Lavelle einen erhobenen Daumen entgegen und rannte mit eingeschalteter Taschenlampe los.
Lavelle drückte die Ruftaste auf seinem Handy. Es läutete. Dempsey konnte ganz schwach das Telefonklingeln im Turm hören. Dann sah er einen Schatten im Licht schwanken, das durch die Falltür kam. Es funktionierte. Edwards war auf dem Weg nach oben.
Dempsey rückte vom Fenster weg und sah auf seine Uhr. Eine Minute war vorbei. Er rief den Detective Sergeant an, der schwer atmend antwortete. »Ich bin fast oben… Ich habe bei den meisten Stockwerken hineingesehen… die Leitern scheinen bis ganz hinauf zu gehen.«
Dempsey drückte das Gesicht wieder an die Scheibe. Im Halbdunkel des Raums sah er gerade noch, wie eine Gestalt in weißem Gewand aus seinem Blickfeld ging.
Lavelle hörte, wie das Telefon abgenommen wurde. Er holte tief Luft.
»Michael. Hier ist Liam Lavelle.«
Taaffe vollendete die letzte Windung der Treppe zur Spitze des Turms, die von einer Brüstung mit Zinnen gekrönt war. In der Ferne sah er die Lichter der Stadt und davor die Silhouette einer hölzernen Winde, zwei Pfosten mit einer Seiltrommel dazwischen. Einige leere Zementsäcke lagen herum und der zerbrochene Stiel eines Pickels. Offenbar hatten sich die Bauarbeiter bei der Renovierung das jahrhundertealte Prinzip zunutze gemacht, um Material auf den Turm zu schaffen. Aber Taaffe suchte nach etwas anderem.
»Ich bin innerhalb der Brüstung… in der Mitte müsste eine Falltür sein. Wenn ich nach unten komme, mache ich Edwards’ Tür von innen auf und lass euch rein… Moment noch…«
Dempsey sah nervös auf die Uhr.
»Bingo!«, hörte er Taaffe rufen.
»Ach, Liam. Schlauer Einfall, mich anzurufen. Um Fürsprache für deine Konkubine einzulegen, nehme ich an. Und vom Krankenbett aus, wie rührend.«
Gut. Er hatte keine Ahnung, dass sie in der Nähe waren.
»Michael, wir wissen, dass du, Edwards und Mathers dieselbe Person seid.«
»Die eine Person, Liam. Nicht dieselbe, die eine. Wieso verfällst du in diesen Irrtum?«
Der Akzent war amerikanisch. Von der CD her bekannt. Aber wie hatte Roberts’ Stimme damals geklungen? Er erinnerte sich nicht mehr. Wie konnte er das Gespräch in die Länge ziehen? Er musste mit ihm debattieren.
Der Strahl von Taaffes Taschenlampe fand einen eisernen Riegel. Er schob ihn zurück, zog die Falltür auf und leuchtete hinab ins Dunkel.
»Verdammte Scheiße«, hörte ihn Dempsey fluchen. »Von hier geht keine Leiter nach unten. Bis zum Boden sind es mindestens fünf Meter. Mist.«
»Jack, er ist jetzt oben, wo wir ihn haben wollten. Schaff deinen Arsch hier runter. Wir gehen rein.« Er winkte den Männern unter den Bäumen, und sie strömten auf die Treppe.
»Nein, Kevin, warte. Ich komme trotzdem rein. Warte.« Taaffe ging zu der Winde und zog an einem herabhängenden Stück Seil. Es gab nicht nach.
Dempsey wich ein paar Stufen nach oben aus, während zwei Beamte der Garda sich in einigem Abstand vor der Tür aufbauten und ihre Automatikwaffen entsicherten. »Wir brauchen ein Loch, das so groß ist, dass man hineinlangen und den Riegel zurückschieben kann«, wies Dempsey sie leise an. »Wenn das nicht klappt, dann durchsiebt die verfluchte Tür einfach.«
»Deine so genannte Dreieinigkeit« – Lavelle hatte einen Ansatzpunkt gefunden –, »ist das so wie mit der ›Filioque-Klausel‹ im Nizäischen Glaubensbekenntnis? Eine dogmatische Spitzfindigkeit?« Zurück zu den gemeinsamen Tagen im Seminar.
Keine Antwort.
»Das griechische Schisma, Rom und Byzanz, weißt du nicht mehr?«, drängte Lavelle.
»Schisma? Ach ja, jetzt verstehe ich, Liam. Höchst passend. Vor allem, da ein Ereignis bevorsteht, das alle Schismen der Geschichte wie ein harmloses Kaffeekränzchen aussehen lassen wird. Lebwohl.«
Taaffe untersuchte mit Hilfe seiner Taschenlampe die Winde. Aus einem Sperrrad ragte ein Griff heraus, mit dem man die Trommel drehen konnte. Bevor er das Rad in Bewegung setzte, löste er noch einen Metallriegel, der es fixierte. Dann probierte er den Griff. Er ließ sich bewegen. Das Seil begann sich abzuspulen. Er steckte die Taschenlampe weg und sprach in sein Handy.
»Warte noch, Kevin.«
»Wir haben keine Zeit mehr. Er geht wieder nach unten. Wir schießen uns den Weg frei.«
»Nein, warte, das ist zu riskant. Der Scheißkerl bringt sie garantiert um.«
Taaffe spulte das Seil in ausreichender Länge ab, wie er hoffte, kniete neben der Falltür nieder und steckte den Kopf in die Öffnung. Dann warf er das Seil hinab. Er sah nicht, wie es sich entwirrte, aber er hörte es dumpf auf dem Boden aufschlagen. Er ging zur Winde und sicherte das Rad mit dem Sperrriegel.
»Kevin, hörst du mich? Ich versuche jetzt etwas…« Doch Dempseys Antwort war nicht mehr zu hören.