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Meistens erfüllte Lilienduft den Raum, und wenn keine Lilien da waren, roch der Raum, der einst eine Kapelle gewesen war, dennoch nach Kirche.
Glenncullen House war ein georgianischer Herrensitz in den Bergen vor Dublin, den Lord Charles Fitzmaurice im 19. Jahrhundert einem Nonnenorden vermacht hatte. Der Adlige war unter dem Einfluss von Kardinal Newman zum katholischen Glauben konvertiert, und da er keine Erben hatte, überließ er die Liegenschaft den Barmherzigen Schwestern als Exerzitienhaus. Umgeben von Wald und mit Blick über Dublin, bot es nun Becca de Lacy sowohl Abgeschiedenheit als auch Nähe zur Stadt. Und die Kapelle, die sie zu ihrem Schlafzimmer umgebaut hatte, war der Mittelpunkt von Beccas Welt.
Ein dreiteiliges Fenster mit einer Glasmalerei des irischen Künstlers Harry Clarke über ihrem Bett illustrierte Verse aus dem Gedicht »La Belle Dame Sans Merci« von Keats, in dem ein Ritter in den Bann einer Frau aus dem Jenseits gerät. Das Mittelglas wurde von der aufwendig gekleideten Zauberfee aus dem Gedicht dominiert, mit ihren wallenden, rötlich-goldenen Haaren, den fiebrigen Augen und den bleichen Gesichtszügen. Eines der Seitenfenster zeigte den Ritter, wie er über das verwüstete Land streift, das andere die Geisterkönige und -prinzen seines Traums, die ihn vor der Macht der schönen Frau warnen. Lilien und Rosen umrahmten jede Szene. Das antike Fenster war in London versteigert worden, und Becca ließ es anstelle des viktorianischen Bibeltriptychons einsetzen, das ursprünglich seine düsteren Schatten in die aufgegebene Kapelle im Nordflügel des Hauses geworfen hatte. Nun zauberte die Sonne tagsüber glitzernde Sprenkel von Clarkes leuchtend buntem Glas auf Decke, Wände und Fußboden; nachts konnte Becca langsam kreisende Scheinwerfer an den Außenmauern einschalten, um einen ähnlichen Effekt zu erzielen.
Die gegenüberliegende Wand war kahl und weiß bis auf eine Skizze, die der französische Maler Gustave Moreau für sein Gemälde der vor Herodes tanzenden Salome angefertigt hatte. David hatte sie zu dem Kauf überredet, da er meinte, die Skizze sei ein guter Ausgleich zu dem Belle-Dame-Fenster mit seinen geisterhaften Kriegern im Banne der Elfenschönheit; Johannes der Täufer sei ein Mensch aus Fleisch und Blut gewesen, ein Asket, der weiblicher Sinnlichkeit widerstanden und so dem Fleisch seinen Sieg über den Geist verweigert habe. Salome hatte Lilien in der Hand. Gelegentlich fiel ein rubinroter Strahl aus dem Fenster auf die Zeichnung und ließ sie noch mehr wie das Gemälde aussehen, dem sie vorausging.
An den anderen Wänden hatte Becca die mit Schnitzereien verzierte Holzverkleidung der alten Kapelle belassen. Es gab Lampen von Tiffany und den Gebrüdern Daum und Vasen von Galle, in denen immer Lilien standen.
Aus den angrenzenden Räumen war unter anderem ein in Marmor und Eiche gehaltenes Badezimmer geworden, in dem Becca ihre kostspieligen Öle und Parfüms aufbewahrte, und ein Aufnahmestudio und Büro mit allem, was sie zum Kontakt mit der Außenwelt brauchte. Im Südflügel, auf der anderen Seite des Treppenabsatzes, hatte sie ein Wohnzimmer mit getönten Panoramafenstern eingerichtet, von dem sie einen Blick über das Grundstück und die Stadt dahinter hatte, ohne dass sie selbst gesehen werden konnte. Hier oben servierte ihr Molly, die Köchin und Haushälterin, ihre Mahlzeiten, aber sie aß wenig, und sie ging, außer zu Besuchen im Studio oder bei ihrer Plattenfirma, selten aus dem Haus – höchstens an einem frostigen Herbstmorgen oder an einem Sommerabend, nachdem es geregnet hatte.
In diesen Räumen verbrachte sie den größten Teil ihrer Zeit, sie komponierte, lauschte Aufnahmen von Naturgeräuschen – Wind, Meer, Vogelgesang, Wale, Wasserfälle –, und in letzter Zeit las und diskutierte sie Texte, die ihr David vorgeschlagen hatte.
Am Abend vor der CD-Präsentation in Dublin hatte eine ihrer Unterhaltungen zu einer unerfreulichen Auseinandersetzung geführt, die sie nun, als sie auf der Fahrt zum Flughafen in Ruhe darüber nachdenken konnte, zutiefst beunruhigte. David hatte ihr bei der Vorbereitung ihrer Rede geholfen, und sie sprachen gerade über Yeats. Er wollte, dass sie ein bestimmtes Gedicht zitierte, aber sie war dagegen.
»Du musst, es ist die großartigste seiner prophetischen Äußerungen«, beharrte er. Er benutzte bisweilen gern den Begriff »Äußerung«, denn er sah in Yeats ebenso sehr den Propheten wie den Dichter.
»Aber warum?«, fragte sie noch einmal. »›Der Jüngste Tag‹ ist gar nicht auf dem Album. Es ist ohne Belang.« Sie mochte das Gedicht in letzter Zeit überhaupt nicht mehr, weil es in einer beunruhigenden Bildersprache den Zustand der Welt beschrieb, wenn die christliche Ära von einer neuen Epoche der Gewalt abgelöst werden würde. Das war nicht Beccas Vorstellung vom New Age, von einer neuen Zeit.
»Ohne Belang? Ohne Belang!« Er war wütend. »Es handelt davon, wozu wir da sind – und du wirst deinen Teil beisteuern!«
Mit diesen Worten stürmte er hinaus.
Sie fragte sich, was er gemeint hatte – sie würde ihren Teil beisteuern? Wollte er sie dazu zwingen, das Gedicht in ihre Rede aufzunehmen? Oder meinte er etwas anderes? Ein wenig beklommen versuchte sie, sich die letzten Zeilen von »Der Jüngste Tag« in Erinnerung zu rufen.
»Verzeihen Sie, Miss de Lacy?«
Ihr Chauffeur sah sie mit seitwärts geneigtem Kopf im Rückspiegel an. »Wir nähern uns dem Flughafen. Soll ich den Vertreter von Aer Lingus anrufen, damit er Sie abholt und zur VIP- Lounge bringt?«
»Ja, das wäre nett, danke.«
Woran hatte sie gerade gedacht? Ach ja – die unerfreuliche Geschichte mit »Der Jüngste Tag«. Später hatte sie David angerufen und versucht, die Wogen wieder zu glätten. Er sagte, sie solle das Gedicht vergessen.
»Was geschehen ist, ist geschehen«, sagte er, offenbar wieder milder gestimmt wegen ihrer Entscheidung. Doch dann fügte er mit Nachdruck hinzu: »Und was zu tun ist, wird getan werden, ist es nicht so?«
»Ich…« Wozu verlangte er nun ihr Einverständnis?
»Du wirst das Versprechen einlösen, das du mir gegeben hast?«
Jetzt wusste sie Bescheid. »Ja«, antwortete sie furchtsam. Das beruhigte ihn noch weiter. Und dann hatte sie die Übung vorgeschlagen, die ihnen größere Nähe und Harmonie zu bringen schien, hauptsächlich wegen des spirituellen Hochs, das er daraus bezog. Ihr Interesse daran war mehr fleischlicher Natur. Er war einverstanden, endgültig besänftigt nun. Und genau an diesem Punkt ging wieder alles schief. Grauenhaft schief.
Sie verbannte alle Gedanken daran aus ihrem Kopf und dachte an die Reise, die vor ihr lag.