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In der Eingangshalle des Krankenhauses stand Pfarrer Lyons vor einem öffentlichen Telefon und wählte eine Nummer, die er inzwischen auswendig kannte. Am Tag nach dem Fund von Sarah Glennons Leiche hatte ihn einer der Weihbischöfe der Diözese Dublin angerufen und gebeten, ihm ab sofort vertraulich vom Fortgang der Ermittlungen und insbesondere von Lavelles Aktivitäten zu berichten. Es war eine ungewöhnliche Bitte, aber sie war keineswegs beispiellos. Die Kirche brauchte überall Augen und Ohren. Und Lyons fühlte sich geschmeichelt.

Bischof Kennedy meldete sich sofort. Lyons erzählte ihm, was in den letzten Stunden durchgesickert war, und fasste den wesentlichen Inhalt der E-Mail zusammen, die er aus dem Kuvert genommen und gelesen hatte. Als er sagte, er sei auf dem Weg, um Jane Wade abzuholen, wurde der Bischof sehr interessiert und sagte ihm, was er zu tun habe. Lyons verließ das Krankenhaus hoch erfreut, weil man so viel Vertrauen in ihn setzte.

Eine Minute später kam Dempsey in die Eingangshalle. Er und Taaffe hatten zur gleichen Zeit versucht, miteinander Kontakt aufzunehmen. Eine Reihe von Prostituierten hatte tätliche Angriffe in den frühen Morgenstunden gemeldet. Taaffe war auf dem Weg zum Krankenhaus; von dort wollten sie zusammen ins Polizeirevier Harcourt Street fahren und die betreffenden Frauen vernehmen.

Jane machte sich keine Sorgen um ihre Person. Viel mehr war sie daran interessiert, was Hazel gesagt haben könnte. Und sie bemühte sich immer noch, das letzte Gedicht zu entschlüsseln.

DOCH WINDE VOM MEER HER AUFBRAUSEN… ALTE KNOCHEN…

(Das Beinhaus im Katharinenkloster auf dem Sinai? Eine Verbindung zum Turm?)

GESEGNETER NOCH DIESES TURMES WACHT…

Eine Weile hatte sie geglaubt, damit sei ein Kirchturm gemeint. Aber die erste Leiche wurde in einer Kirche gefunden, und es war sehr wahrscheinlich, dass es sich beim dritten Fundort um etwas anderes handelte. Ein Rundturm aus der Zeit der keltischen Klöster war eine offenkundige Möglichkeit, vielleicht allzu offenkundig, und auch diese Türme waren sakrale Gebäude. Yeats hatte in einer normannischen Burg gewohnt, die er als Turm bezeichnete, deshalb erwog sie die Möglichkeit, dass die nächste Prophezeiung in einer Burg erfüllt werden sollte. Dann hatte sie eine Idee. Ihr Exfreund Alastair war Architekt und kannte sich gut mit historischen Gebäuden aus. Einen Anruf bei ihm war die Sache wert. Sie benutzte ihr Handy, damit der Pförtner sie benachrichtigen konnte, wenn Lyons eintraf.

Alastair meldete sich sofort. »Jane, freut mich, von dir zu hören«, sagte er. »Heißt das, du hast es dir anders überlegt?«

»Nein, Alastair, ich will kein Treffen vereinbaren. Ich brauche deinen Sachverstand.«

»Und davon habe ich reichlich, wie du weißt.«

Sie hatte vergessen, was für ein Macho er sein konnte.

»Ich meine dein Wissen über Architektur, historische Gebäude. Ich kann dir nicht erklären, wozu, und du musst schnell überlegen.«

»Also gut. Was willst du wissen?«

»Türme. Burgen. In der Gegend von Dublin.«

»Das ist zu ungenau. Da reden wir noch, wenn der Mond aufgeht. Definiere es genauer, oder sag, was ich weglassen soll.«

»Okay. Keine Kirchen oder Rundtürme.«

»Immer noch zu viel. Darf ich einen Vorschlag machen: Türme oder Burgen? Was ist näher am Thema deiner Recherche?« Er nahm an, dass sie an einer Rundfunksendung arbeitete.

»Türme«, entschied sie.

»Bewohnbare oder Monumente?«

»Bewohnbare.«

»Leuchttürme? Martellotürme?«

Obwohl das Meer in der zweiten Zeile vorkam, hatte Jane das Gefühl, wegen des erwähnten Berges müsse der Ort weiter landeinwärts liegen. Die Martellotürme, die man in napoleonischer Zeit überall in der Bucht von Dublin gebaut hatte, waren außerdem eckig, und sie stellte sich etwas anderes vor. »Weder noch. Geh ein bisschen weiter landeinwärts…«

Sie wollte gerade auf die Berge zu sprechen kommen, als er sagte: »Pass auf, ich nenne einfach wahllos ein paar Gebäude. Wie wär’s mit The Wonderful Barn auf dem Gut Castletown?«

»Was ist das?«

»Ein steinerner Getreidespeicher in der Form eines Turms. Eine gewisse Lady Conolly hat ihn im achtzehnten Jahrhundert errichtet. Ungewöhnliches Gebäude, fast flaschenförmig… konisch, mit einer Treppe, die wie eine Spirale außen herum führt.«

Jane wurde neugierig. Konisch. Eine Wendeltreppe. Ein Kreisel?

»Wo, sagst du, liegt der?«

»Etwa zehn Meilen außerhalb von Dublin, in der Grafschaft Kildare. Im Grunde gar nicht weit von dort, wo du wohnst.«

»Also nicht auf einem Berg, oder?«, sagte sie enttäuscht.

»Wohl kaum, in Kildare. Aber Lady Conollys Schwester hat sich eine exakte Nachbildung auf ihrem Landsitz in den Dubliner Bergen errichten lassen.«

»Wie heißt er?«

»Dreimal darfst du raten: The Granary – der Kornspeicher. Nahe liegend, oder?«

»Nein, ich meine den Landsitz.«

»Ach so – Glencullen House.«

Jane blieb fast das Herz stehen. Becca de Lacys Herrensitz!

»Und… steht der Kornspeicher noch?«

»Ja, er wurde sogar kürzlich renoviert. Worum geht es hier eigentlich? Hast du eine Phallusfixierung? Vermisst du das Original?«

»Alastair, du bist ein aufgeblasenes Arschloch, aber im Moment verzeihe ich dir alles. Mach’s gut.« Sie legte auf, ohne eine Antwort abzuwarten.

Jane tippte die Information in ihre Computernotizen und klickte auf Drucken. Sie stand gerade auf, als das Telefon läutete. Der Wachmann am Empfang teilte ihr mit, dass ein Pfarrer Lyons sie abholen komme. Sie schaute auf die Uhr. Er hätte bereits vor einer halben Stunde hier sein müssen. Was für ein Glück, dass er sich verspätet hatte, dachte sie, schaltete den PC aus und hängte sich ihre Tasche um.

Am Empfang saß nur der Wachmann hinter seinem Schalter. Er sagte, der Priester würde draußen auf dem Parkplatz warten.

»Sie sehen seine Standlichter da drüben«, fügte er an. Obwohl es erst auf die Dämmerung zuging, war es dunkler als normal, weil eine Wolke, die sich auftürmte wie eine gelblich graue Aschensäule bei einem Vulkanausbruch, die untergehende Sonne verdüsterte und einen unheimlichen Schatten auf die Erde warf.

Als sie auf den Wagen zuging, wurden die Scheinwerfer aufgeblendet, und hinter dem Steuer winkte ein Mann zum Zeichen, dass er sie erwartete. In diesem Augenblick ging Jane durch den Kopf, dass sie Pfarrer Lyons noch nie begegnet war. Aber der Priesterkragen leuchtete weiß aus dem Halbdunkel, als er sich über den Beifahrersitz streckte und ihr die Tür öffnete. Sie stieg ein.

Er ließ den Motor an und sagte: »Tut mir leid wegen der Verspätung. Ich bin auf dem Weg aus dem Krankenhaus noch einem Bekannten begegnet.«

Jane war beruhigt.

Die Parkplatzausfahrt führte vom Radio Centre weg an einigen leeren Nebengebäuden vorbei. Vor einem davon bremste er, holte ein Taschentuch hervor und sagte: »Entschuldigen Sie, ich bin böse erkältet.« Jane stieg ein Hauch von Menthol in die Nase, als er sich mit dem starren Lächeln einer Bauchrednerpuppe zu ihr umdrehte.

Jetzt niest er gleich, dachte sie.

Er stürzte sich auf sie, presste ihr mit einer Hand das Tuch auf Mund und Nase und packte sie mit der anderen an den Haaren. Sie versuchte, sich zu wehren und zu schreien, aber er drückte sie mit seinem Körpergewicht fest in den Sitz, und ihre Augen starrten panisch in ein Gesicht, das sie sehr wohl kannte.