18
Am nächsten Morgen nahmen Lavelle und Dempsey an Sarah Glennons Begräbnis teil. Auf den Hügeln war noch Schnee zu sehen, ein beißender Wind blies über den Friedhof. Auf dem Rückweg vom Grab überraschte ein plötzlicher Regenguss die Trauernden, und die beiden Männer suchten unter einem Baum Schutz. Lavelle bemerkte, wie tapfer sich Sarahs Eltern und Angehörige hielten, wenn man ihren Schmerz und ihre absolute Bestürzung über das bedachte, was ihrer Tochter zugestoßen sei.
»Gott stehe ihnen bei«, sagte Dempsey. »Ich weiß nicht, wie es mir ginge, wenn es meine Grainne gewesen wäre. In gewisser Weise ist es wahrscheinlich leichter zu ertragen, wenn man weiß, dass der Mörder und das Opfer in irgendeiner Beziehung standen. Aber so… aus heiterem Himmel. Irgendein Verrückter fallt dein Kind an… und du darfst dir gar nicht ausmalen, welche Qualen und Todesangst sie durchgemacht hat – das ist zu viel.« Er schaute, ob der Regen schon nachließ.
Eine schwere Wolke ließ einen weiteren Guss befürchten, aber dann war der Schauer so schnell vorüber, wie er gekommen war. Die Sonne schien hinter der Wolke hervor und tauchte die Ränder in ein gleißendes Licht. In den Bäumen begannen Amseln zu flattern und sich zu zanken, und die beiden Männer gingen weiter.
Ihre Autos hatten sie neben einem Pub auf der anderen Straßenseite abgestellt. Während sie darauf warteten, den glitzernden Asphalt überqueren zu können, holte Dempsey sein Telefon aus der Tasche und wählte.
»Irgendwelche Neuigkeiten wegen Turner, Jack?«
Lavelle schlenderte zu seinem Wagen mit dem Nummernschild von 1999, während Dempsey ein Stück zurückblieb. Der Hit von Prince kam ihm in den Sinn. Komisch, wie weit in der Zukunft 1999 zu liegen schien, als die Platte herauskam. Jetzt war es Vergangenheit. Er hörte den Detective im Hintergrund murmeln.
»Scheiße… wann?… Ja, ja… Mhm. Okay.«
Dempsey steckte sein Telefon weg und holte Lavelle ein.
»Turner ist in London… er ist gestern abgereist und bleibt mindestens einen Monat weg, weil er an einer Reihe von Konferenzen und Kundgebungen in Großbritannien teilnimmt – so weit die schlechte Nachricht. Die gute Nachricht ist, dass wir drei von diesen Gewandnadeln aufgespürt haben. Sie wurden vor etwa einem Jahr zu einem Mann namens Mathers nach Sligo geschickt. Der Laden, der sie verkauft, hat seitdem keine mehr vorrätig. Die Schmuckstücke sind von Hand gefertigt, und die Künstlerin, die sie herstellt, war in letzter Zeit im Ausland. Das könnte also eine viel versprechende Spur sein. Das einzige Problem ist, dass die Adresse von diesem Mathers wie eine Nachsendeadresse aussieht, die Polizei von Sligo kümmert sich darum. So oder so werde ich hinfahren müssen, wahrscheinlich nach dem Wochenende, falls sich inzwischen nichts Neues ergibt.« Er sah auf die Uhr. »Es ist gerade halb eins vorbei, wie wär’s mit einem Sandwich?« Er deutete mit dem Daumen zum Pub.
»Gut, ich komme mit. Ich muss zwar noch eine Messe im Mädchencollege von Kilbride lesen, aber erst um drei.«
Sie bestellten am Tresen Suppe und Sandwiches und setzten sich in eine Ecke der Kneipe. Dempsey zündete sich eine Zigarette an, während sie auf ihr Essen warteten.
Lavelle nutzte die Gelegenheit zu einem privaten Gespräch mit dem Polizisten. »Wie viele Kinder haben Sie?«, fragte er.
»Zwei Söhne, Phelim und Cormac, und dann noch Grainne, unsere Jüngste, sie ist neunzehn.«
»Und was treiben sie alle?«
»Gehen alle aufs College, übers ganze Land verteilt. Susan und ich haben das Haus jetzt wieder für uns allein, jedenfalls während der Woche. Am Wochenende hat man das Gefühl, als würde die halbe Studentenschaft Irlands bei uns wohnen, sie bleiben die ganze Nacht auf, schlafen den ganzen Tag und fressen uns die Haare vom Kopf. Wir genießen es trotzdem, vielleicht weil wir wissen, dass sie Sonntagabend alle wieder verschwinden.«
Ein Barkeeper kam mit ihrer Bestellung. Dempsey drückte seine Zigarette aus. »Bedauern Sie es, keine eigene Familie zu haben?«
»Manchmal«, sagte Lavelle, »wobei das den meisten Männern nicht unbedingt als Erstes in den Sinn kommt, wenn sie sich zu einer Frau hingezogen fühlen, das ist bei mir nicht anders. Was Kinder angeht, habe ich genügend Neffen und Nichten, die mich auf Trab halten, und vielleicht wird es Priestern ja schon in naher Zukunft möglich sein, zu heiraten – falls bis dahin noch welche von uns übrig sind, denn wenn uns nicht der Mangel an innerer Berufung aussterben lässt, dann sind es die Pluralisten, die uns in etwa mit Medizinmännern gleichsetzen.«
Sie aßen einige Minuten schweigend, dann sprach Dempsey aus, was ihm durch den Kopf ging.
»Ich denke, wir wurden beide im Laufe der Jahre von gesellschaftlichen Veränderungen berührt, guten wie schlechten. Für mich war die negative Seite die allgemein zunehmende… Grobheit im Verhalten gegenüber anderen, in der harmlosesten Form ist es Rüpelhaftigkeit, in der schlimmsten ein Mangel an Achtung vor dem Leben oder vor dem, was wir früher als die ›Unantastbarkeit‹ des Lebens bezeichnet haben.«
»Da haben Sie wohl Recht. Aber jemand, der uns zuhörte, würde vielleicht sagen, dass man von einem Priester und einem Polizisten nichts anderes erwarten kann. Die müssen ja von Berufs wegen über einen Verfall der Sitten jammern.«
»Nur dass wir auf unserem Gebiet tatsächlich Spezialisten sind, in meinem Fall sind es Verbrechen, in Ihrem christliche Werte. Unser Blickwinkel beruht auf Erfahrung.«
»Womit stützen Sie also Ihre Behauptung – Statistiken, Studien und dergleichen?«
»Lassen wir den wissenschaftlichen Kram beiseite. Aus Zahlen können Sie immer dies oder jenes herauslesen. Ich rede nur über meine persönliche Sicht der Dinge. Ich habe erlebt, wie in den letzten zwanzig Jahren Grenzen überschritten wurden. Ich glaube, die Gewalt im Norden hat viele davon niedergerissen. Zum Beispiel dieser Zwischenfall in Belfast in den Achtzigern, als ein paar getarnte britische Soldaten mit ihrem Wagen versehentlich in ein IRA-Begräbnis gerieten und von der wütenden Menge angegriffen wurden. Erinnern Sie sich an das Foto, auf dem einer von ihnen tot und fast nackt auf der Erde liegt? In einem Moment bist du noch in deinem Auto, um dich herum ein kreischender Pöbel, Fernsehkameras nur ein paar Meter entfernt… fünf Minuten später liegst du zusammengeschlagen und ohne Kleider da, dein Henker setzt dir eine Waffe an den Kopf, und die ganze Welt kann dich in diesem bemitleidenswerten Zustand sehen… das hat gezeigt, wie rachsüchtig und bösartig wir sein können.«
Das Bild hatte sich auch in Lavelles Gedächtnis eingebrannt. Er sah den toten Soldaten auf dem Rücken liegen, die Arme ausgestreckt wie Christus am Kreuz. Und jemand beugte sich auf dem Foto über ihn. »Wissen Sie noch, da war auch ein Priester auf dem Foto«, erinnerte er Dempsey. »Alex Reid, der dem armen Mann die Sterbesakramente gespendet hat.«
»Was natürlich gut gemeint war«, sagte Dempsey, »aber von manchen dazu benutzt wurde, den Vorwurf der blanken Barbarei abzuschwächen – ›Seht her, im Grunde sind wir ganz anständig.‹ Zufällig spielt bei dem anderen Beispiel, an das ich oft denke, ebenfalls ein Priester eine Rolle. Das war, als Mitte der neunziger Jahre Brendan O’Donnell diese Künstlerin, ihren kleinen Sohn und den örtlichen Kurat in den Wäldern von Galway erschoss… vorsätzlich, einen nach dem anderen und jede Sekunde auskostend.«
Der Fall hatte die Nation schockiert und unter Lavelles Zeitgenossen eine große Debatte darüber ausgelöst, ob O’Donnell das personifizierte Böse oder das verdorbene Produkt einer lieblosen Erziehung sei. »Er war doch wohl verrückt, oder? Er wusste gar nicht, was er tat.«
»Nein, er war nicht verrückt«, beharrte Dempsey. »Er war wirr, gestört… aber er wusste genau, was er tat, er kannte seine Opfer, und er empfand keine Reue, weil er sie getötet hatte. Bis zu einem gewissen Maß war er das hässliche Entlein des flotten neuen Irland, das damals auftauchte – egoistischer, zu beschäftigt, um sich um andere zu sorgen. Der entscheidende Punkt ist aber, dass er auf einen Streich sämtliche Tabus gebrochen hatte – die Mutter, das Kind und den heiligen Mann. Das war für mich das Ende einer bestimmten Art von Irland – das Land, in dem ich aufgewachsen war, gab es nicht mehr.«
»Und es war auch denkwürdig, dass die Frau, Imelda Riney, eine Vertreterin der New-Age-Gemeinschaft war, die in diesem Teil Irlands lebte, während Joe Welsh, der Priester, die katholische Tradition repräsentierte«, sagte Lavelle.
»O’Donnell selbst behauptete ja, dass Pfarrer Welsh, kurz bevor er ihn umlegte, noch sagte: ›Erschieß dich nicht, Brendan.‹ Er wusste, der Typ war so durchgeknallt, dass er sich womöglich selbst umbrachte. Bewundernswert, wenn man bedenkt, dass der arme Mann in irgendeinem abgelegenen Waldstück kniete und kurz vor seiner Hinrichtung stand.«
»Ja. Ich weiß nicht, ob ich das fertig bringen würde«, sagte Lavelle. »Aber was ist mit dem Mord an Sarah Glennon, wie passt der in Ihr Schema?«
»Ich glaube, das ist wieder ein Schritt weiter – das Opfer ist nur ein Werkzeug, mit dem der Mörder seine Botschaft ausdrückt, ihre Identität ist völlig gleichgültig, jede beliebige Frau hätte den Zweck erfüllt, und damit ist auch jede Frau in Gefahr, falls er – oder sie – beschließt, erneut zu töten.«
»Hmm…« Lavelle suchte nach den richtigen Worten, um den Sachverhalt auf seine Weise zusammenzufassen. »Dann war Sarahs Tod kein Zweck an sich, sondern ein Mittel zum Zweck, und während O’Donnells Opfer für sich genommen Symbole waren, diktiert uns Sarahs Mörder die Bedeutung ihres Todes?«
»Ja, so könnte man sagen. Und er hat uns entweder Hinweise gegeben, die bei richtiger Deutung zu ihm führen, oder er will uns verwirren und in eine falsche Richtung schicken. So oder so ist dieser Mordfall schwer zu lösen, falls er nicht mit uns kommuniziert und dies oder jenes verrät. Und sollte dazu ein weiterer Mord gehören, dann hätten wir es mit einem Serienmörder zu tun, und das wäre Neuland für mich. Deshalb möchte ich, dass Sie mir etwas Schriftliches an die Hand geben, sobald Sie dazu kommen.«
»Etwas Schriftliches? Sie meinen eine Art Bericht… Theorien… was genau?«
»Einfach Ihre Gedanken zu dem, was Sie als ›Reinigungsritual‹ bezeichnet haben. Führen Sie das näher aus, was Sie bereits gesagt haben. Warum ist dieses oder jenes Element enthalten? Was könnte im Kopf des Täters vorgegangen sein? Lassen Sie nichts aus, man weiß nie, was von Belang ist.«
Der Barkeeper kam und fragte, ob sie Tee oder Kaffee wünschten. Lavelle bestellte ihn schwarz, Dempsey bat um Milch. Als der Mann wieder hinter der Theke verschwunden war, sagte Dempsey, er habe noch eine Frage an Lavelle.
»Nachdem ich gesehen habe, wie gut Sie Bonners Kreuzworträtsel gelöst haben – ha, merken Sie’s: Kreuzwort!«, Dempseys eher kummervolles Wesen ließ selten eine flapsige Bemerkung zu, und wenn es geschah, dann wirkte es ziemlich schwerfällig. »Also, hier nun meine Frage an Ihr Allgemeinwissen: Haben Sie je von Lapislazuli gehört? Es ist kein Tipp für die Pferderennbahn, so viel kann ich verraten.«
»Na ja, ich weiß, dass lapis das lateinische Wort für ›Stein‹
ist. Bekomme ich einen halben Punkt?«
»Nicht schlecht. So heißt der blaue Edelstein, der in den oberen Teil der Keltennadel eingelegt ist. ›Lazuli‹ ist das Gleiche wie ›azur‹, wie ich mir sagen ließ, beide abgeleitet von – na? – einem arabischen Wort. Man lernt eben nie aus.« Er stand auf.
»Entschuldigen Sie mich, ich muss mal auf den Pott.« Dempsey machte sich auf den Weg zur Toilette.
Arabisch. Noch ein Pfeil, der in die Richtung zeigte, die Lavelle nicht einschlagen wollte. Sein Instinkt führte ihn woanders hin. Er holte einen Kugelschreiber aus seiner Jacke und begann auf eine Papierserviette zu kritzeln:
[Weihnachten – 40 Tage – Brigitta/Lichtmess/Reinigung/Tod/ Blutopfer] [Aschermittwoch – 40 Tage – Ostern/Osterkerze/ Reinigung/Tod/Blutopfer] ???
Beim Händewaschen in der Toilette las Dempsey geistesabwesend die Etiketten auf den Automaten für Zahnpasta und Kondome:
Gefühlsintensiver durch Noppen…
Statt des Warmluftstroms benutzte er ein Papierhandtuch zum Händetrocknen, und gerade als er das Papierknäuel in den Abfallbehälter werfen wollte, fiel sein Blick wieder auf die Kondomwerbung:
… durch Noppen… Noppen…
War das möglich? Ein Kondom, versehen mit Noppen, die aber nicht aus Gummi waren, sondern aus etwas… das eine Frau innerlich in Fetzen riss, während sie vergewaltigt wurde?
»Ich hatte eine wahrlich grauenhafte Idee, womit Sarahs Mörder sie vergewaltigt haben könnte«, sagte Dempsey, als er mit Lavelle das Pub verließ.
»Und ich habe ein paar Übereinstimmungen herausgefunden, die mit der zeitlichen Planung ihres Todes zu tun haben.« Er gab dem Polizeibeamten die Serviette. »Sollte es zu einem zweiten Mord kommen, dann weiß ich wahrscheinlich, wann er geschehen wird.«