67

Es war dunkel. Jane streckte die Hand aus, um ihre Nachttischlampe anzuknipsen. Ihre Fingernägel kratzten über kalten Verputz. Sie setzte sich verwirrt auf und versuchte sich zu orientieren. Sie war im Haus ihrer Mutter, im vorderen Gästezimmer. Vorsichtig tastete sie nach der anderen Seite, fühlte einen Lampenschirm, darunter die Glühbirne und dann den Schalter. Sie blinzelte ein, zwei Sekunden in das blendende Licht, dann sah sie auf ihre Armbanduhr. Es war kurz nach sechs.

Sie stöhnte und schälte sich aus der Bettdecke. Ihre Jeans und der Pullover hingen über einer Stuhllehne, sie zog sie an und schüttelte den Kopf, um die Schläfrigkeit zu vertreiben, die immer noch auf ihr lastete. In der vergeblichen Hoffnung, ihre Uhr könnte falsch gehen, zog sie den Vorhang auf und sah die Bäume vor dem Haus dunkel vor einem lila Himmel aufragen, an dem die Sonne gerade hinter den Horizont schlüpfte.

Als sie nach unten kam, brannte Licht, aber in der Küche war niemand. Sie stellte sich mit dem Rücken zum warmen Herd. Vom Auto ihrer Mutter, das vorhin vor dem Fenster stand, war nichts zu sehen. Bestimmt holte sie Nick in der Stadt ab und hatte Janes Bitte, sie zu wecken, einfach ignoriert. Manchmal hätte sie die Frau erwürgen können!

Jane gähnte und streckte sich. Dann fiel ihr plötzlich die Neuigkeit über Hazel wieder ein, und sie war mit einem Ruck hellwach. Was sollte sie glauben? Aber jetzt war keine Zeit für langes Grübeln. Sie musste einfach weitermachen. Sie ging wieder nach oben, zog ihre Stiefel an und packte ihre Tasche zusammen.

Im Flur holte sie Notizbuch und Kalender heraus und suchte Raymond O’Loughlins Privatnummer. Dann griff sie zum Telefon auf der Garderobe und wappnete sich, während es läutete.

»Ja?«

»Raymond, hier ist Jane Wade… es tut mir so leid wegen Kara. Das muss schrecklich für Sie sein.«

»Jane Wade? Ach ja, danke.« Seine Stimme war traurig und tonlos.

»Haben Sie etwas von einem Pfarrer Lavelle und dem Fall in Kilbride gehört oder gelesen?« Sie hoffte, er hatte ihren Namen nicht in der Zeitung gesehen. Es wäre zu kompliziert, ihm alles zu erklären.

»Ich weiß nur, dass die Polizei nach einer Verbindung zwischen ihm und mir sucht, was ein gottverdammter Witz ist.«

»Ich weiß, aber hören Sie. Aus Gründen, auf die ich nicht näher eingehen kann, habe ich vielleicht die Möglichkeit, Sie beide zu entlasten. Aber fragen Sie nicht, wie, bitte vertrauen Sie mir einfach.«

»Wird mir wohl nichts anderes übrig bleiben.«

»Gut. Wenn Sie ein paar Minuten Zeit haben, hätte ich eine Frage an Sie. Ich versuche mir ein Bild von einem gewissen David Edwards zu machen, und ich dachte, Sie haben ihn vielleicht bei Becca de Lacys CD-Präsentation getroffen. Ich hatte den Eindruck, Sie und Kara wollten anschließend noch zu einer Party bei ihr zu Hause.«

»Er ist ein Wichser. Ein ausgemachter Kotzbrocken.« Das klang schon eher nach Raymond.

»Dann haben Sie ihn also getroffen?«

»Ja. Wir sind an diesem Abend noch mit George Masterson zu Becca gefahren. Sie selbst war allerdings nicht da.«

»Ich weiß. Sie ist in die Staaten geflogen.«

»Richtig. Sie hatte Masterson das Erdgeschoss überlassen, damit er einen Empfang für den türkischen Botschafter und Vertreter der Plattenfirma aus Istanbul geben konnte. Und für ein paar Kletten wie uns.«

»Und was ist passiert?«

»Ich hatte eine Auseinandersetzung mit Edwards, diesem arroganten Arschloch.«

»Wie kam es dazu?«

»Er ist ein Schleimer, wie er im Buche steht. Lauter bescheuerte Ansichten über Dinge, von denen er keine Ahnung hat. Er ist mir auf die Nerven gegangen. Ich war betrunken, deshalb weiß ich nicht mehr genau, was alles gesagt wurde.«

»Aber was hat den Streit ausgelöst?«

»Wir sind unten im Haus herumspaziert. Die Party fand nur im Erdgeschoss statt, niemand durfte nach oben ins Studio oder in die anderen Räume. Ich hatte beim Herumgehen das Gefühl, als befänden wir uns in einer Geschichtsausstellung. Falsches Mittelalter, elisabethanische Zeit, Art nouveau, all der Schnickschnack aus diesen verschiedenen Epochen. Und wir kamen gerade von der Präsentation eines Albums, das Byzanz nostalgisch verklärt. Eine elitäre Kultur, die ihre Bürger in Unwissenheit ließ. Jedenfalls wurde ich ärgerlich darüber, und Kara… Kara…« Er machte eine lange Pause.

»Ich verstehe, wie schwierig das für Sie ist, Raymond. Ich kann morgen wieder anrufen.«

»Nein, schon gut. Wo war ich? Ach ja, Kara bat mich, ruhig zu bleiben, sie wies mich darauf hin, dass zwischen dem vielen Kitsch auch echte Gemälde und Möbel seien. Wir waren also in der Halle unten, am Fuß dieser großen Treppe, und ich glaube, es ging um Gotik oder diese Scheiß-Neogotik, hol’s der Teufel, und dieser ganze Mist noch dazu in einem echten georgianischen Herrenhaus. Jedenfalls hing so ein religiöses Gemälde an der Wand, eine Märtyrerin, der man die Brüste abschneidet, so viel ich mich erinnere. Muss aus der Zeit übrig geblieben sein, als den Nonnen das Haus gehörte. In diesem Moment kommt Edwards die Treppe herunter und führt sich auf wie ein echter Gutsherr. ›Wundervolles Gemälde, finden Sie nicht?‹, meint er, worauf ich sage: ›Wenn ich sadomasochistisch veranlagt wäre, würde ich Ihnen vielleicht zustimmen.‹ Darüber ist er sehr eingeschnappt und fragt mich, worum es meiner Meinung nach bei Kunst gehe. ›Kommen Sie in meine Ausstellung‹, sage ich. ›Wenn Sie das Innere von echten Leichen, wenn Sie die Realität eines gewaltsamen Todes sehen würden, vielleicht wären Sie dann nicht mehr so fasziniert von diesen glorreich gefolterten Märtyrern und dem ganzen Mist.‹ An diesem Punkt hat sich Kara eingemischt, sie meinte, ich sei ein bisschen betrunken, und hat mich weggezogen.«

Jane hatte den Telefonhörer in die Halsbeuge geklemmt und bemühte sich, möglichst viel mitzuschreiben. Sie hatte eigentlich nur gehofft, ein Bild von der Persönlichkeit des Mannes zu erhalten, aber sie bekam mehr, viel mehr. »Und war es das? Oder haben Sie noch einmal mit ihm gesprochen?«

»Ja. Wir hatten wie gesagt einen Streit. Ich weiß noch, dass ich von der Toilette zurückkam, die Party war noch in vollem Gange, und ich konnte Kara zunächst nicht finden. Dann sehe ich sie in einer Ecke sitzen, und Edwards beugt sich über sie und redet mit ihr. ›Raymond‹, sagt sie, ›dieser nette Herr hat mir einen Stuhl besorgt, damit ich mich setzen kann.‹ Er hat dieses affektierte Grinsen im Gesicht und sagt: ›Man muss sich um eine Dame kümmern, wenn sie in diesem Zustand ist.‹

›Ihr Zustand geht Sie nichts an‹, sage ich. Zu diesem Zeitpunkt war ich schon sternhagelvoll, und es hat mich geärgert, dass Kara ihm von ihrer Schwangerschaft erzählt hat. Er dreht sich also zu jemandem neben ihm um und meint auf mich bezogen:

›Manche Leute haben eben keine Manieren.‹ Ich gehe hin zu ihm und sage: ›Sie sind ein verdammter Faschist, genau wie Yeats ein Faschist war. Aber der hatte wenigstens Talent. Sie sind bloß ein Opportunist und ein Schnorrer.‹ Wahrscheinlich habe ich noch einen Haufen anderes Zeug gesagt, aber das ist alles, woran ich mich erinnere.«

»Aber warum waren Sie so aggressiv gegen ihn? Gut, Sie hatten viel getrunken, aber war das wirklich alles?«

»Er strahlte diese… Arroganz aus. Ich weiß, ich kann stur und alles sein, aber die Haltung von diesem Kerl hat mich gereizt. Und ich hasse diese aalglatten Verkäufertypen, die mit ihrer verlogenen Spiritualität hausieren gehen und sich an reiche Leute heranmachen. Sie sind das Äquivalent zu diesem nachgemachten Kitsch. Es geht nur darum, alte Glaubensüberzeugungen auf ihre gemütlichen Bestandteile hin zu plündern.« Jane fand, das war ein seltsamer, wenngleich interessanter Standpunkt. Doch ironischerweise lag »gemütlich« wahrscheinlich weit daneben, was Edwards Überzeugungen betraf.

»Ich danke Ihnen, Raymond. Ich weiß, die Polizei hat Sie verhört, und es muss schrecklich für Sie gewesen sein, bei aller Trauer auch das noch ertragen zu müssen.«

Draußen vor der Haustür ging ein Licht an, offenbar kamen ihre Mutter und Nicky nach Hause. »Ich muss los. Danke noch mal.«

Sie wollte sofort aufbrechen, deshalb holte sie ihre Autoschlüssel aus der Küche und traf die beiden beim Hinausgehen in der Tür.

»Ich mach mich auf den Weg, Mutter. Hallo, Nicky, tut mir leid, dass ich nicht bleiben kann. Ich sollte eigentlich schon vor drei Stunden fahren. Mutter erklärt dir alles.«

Am Tor hielt sie noch mal kurz an und schaltete die Innenbeleuchtung ein. Sie überprüfte die Nachrichten auf ihrem Handy. Dempseys kummervolle Stimme drängte sie, unverzüglich mit ihm oder der Polizei in Lucan Kontakt aufzunehmen. Er hatte mehrere Telefonnummern hinterlassen. Sie rief seine Mobilnummer an.

»Detective Inspector Dempsey.«

»Hier ist Jane Wade. Hören Sie genau zu. Ich möchte, dass Sie mich heute Abend treffen. Ich habe wertvolle Informationen. Aber es gilt folgende Abmachung: Sie kommen um zehn Uhr zu mir nach Ryevale, nicht früher. Wenn Ihre Leute mein Haus im Augenblick überwachen, sollen sie sich zurückziehen. Ich muss einige Zeit ungestört sein.«

Sie legte auf, bevor er antworten konnte.