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Das Byzantinische Reich bestand mehr als tausend Jahre lang. Sein Mittelpunkt war Konstantinopel (heute Istanbul). 330 von Kaiser Konstantin gegründet und nach ihm benannt, sollte die Stadt das »zweite Rom« werden. Byzanz entwickelte sich als eine Mischung aus griechischem Denken, römischer Organisationskunst und christlichem Glauben und erreichte unter Kaiser Justinian im sechsten Jahrhundert einen architektonischen und künstlerischen Höhepunkt. Während Justinians Herrschaft wurden drei Bauwerke errichtet, die für die religiösen Prinzipien stehen, aus denen sich mit der Zeit die griechisch-orthodoxe Kirche entwickelte: die »große Kirche der heiligen Weisheit« (Hagia Sophia) in Konstantinopel, das befestigte Katharinenkloster auf dem Berg Sinai in Ägypten und die Basilika San Vitale im italienischen Ravenna.
Jane lag im Bett und las einige Seiten, die sie sich am frühen Abend aus dem Internet heruntergeladen hatte. Sie hatte eigentlich nach Material über Verona gesucht, dann war Ravenna in ihr Blickfeld geraten, und das wiederum veranlasste sie, weitere Bezüge zu Byzanz auszugraben. Sie blätterte zu einem Abschnitt über byzantinische Kunst.
Heute kann man hier Fresken oder Mosaike sehen, in denen der Blick – ob von Heiliger oder Muttergottes, Engel oder Prophet, Christus oder Märtyrer – den Betrachter in ein Reich der geistigen Ruhe zieht. Kein Wunder, dass der Künstler in Byzanz ebenso hoch in Ehren gehalten wurde wie der Priester; sein Schaffen galt als heilige Verrichtung. Es ging ihm nicht um innovative Maltechniken oder naturalistische Porträts. In einem theokratischen Staat zählte nicht das Individuum, weder als Künstler noch als Gegenstand der Kunst, sondern viel mehr das Absolute und Übermenschliche in stilisierter Erstarrung.
Jane fragte sich, ob es das war, was die verschwundene Kultur von Byzanz so attraktiv für Becca de Lacy machte. Es war leicht zu verstehen, warum sie Yeats fasziniert hatte, einiges davon klang in seinen Gedichten »Byzanz« und »Meerfahrt nach Byzanz« an, die sie in der Nacht zuvor gelesen hatte. Er musste ein strenger, fast priesterlicher Mensch gewesen sein, der vielleicht die Bedeutung der Stellung eines Dichters in der Gesellschaft überschätzte. Priesterlich. Das hatte einen archaischen Beiklang. Unbekannte Rituale und geheimnisvolle Beschwörungsformeln. Das alte Ägypten. Die Azteken. Die keltischen Druiden. Aber Liam Lavelle? Er war jedenfalls nicht in diesem Sinne priesterlich.
Was war zum Beispiel der Unterschied zwischen ihm und Alastair? Sie dachte daran, wie ihr Alastair einmal Fotos gezeigt hatte, aufgenommen in einer mittelalterlichen Kirche in Kilkenny, die seine Firma renovierte. Es handelte sich um Wasserspeier, auch Sheela-na-gigs genannt, weibliche Skulpturen, die lüstern ihre Genitalien zur Schau stellten. Alastair machte derbe Bemerkungen darüber, es war seine Art, eine gewisse Form männlicher Verlegenheit zu verbergen. Aber Lavelle war anders. Er wirkte selbstbewusst, was seine Sexualität anging, weder prüde noch geil.
Und die Spur Arroganz, die sie am Anfang abstoßend fand, hatte in ihrem Gespräch über Paula eine Erklärung gefunden. Sie lächelte, als sie an ihre erste Begegnung dachte und wie sie ihn durcheinandergebracht hatte. Sie lächelte ziemlich viel in letzter Zeit, wenn sie an Liam Lavelle dachte.
Der Radiowecker neben ihrem Bett zeigte 23.55 Uhr. Sie wollte die Nachrichten um Mitternacht hören, deshalb las sie noch ein letztes Stück aus den Seiten, die sie sich zusammengestellt hatte.
Konstantinopel war eine Stadt sagenhaften Reichtums, außerordentlicher Schönheit und imposanter Macht. In seiner Blütezeit gab es angeblich Häuser mit Türen aus Elfenbein, hinter denen die Bewohner in juwelenverzierten Betten schliefen. Durch die Entwicklung einer eigenen Form kirchlicher Organisation und religiösen Ausdrucks kam es zu einer allmählichen Lockerung der Bindungen an Rom, die ihren Höhepunkt im großen Schisma von 1054 erreichte. Nach der Abspaltung von der lateinischen Kirche wurde Byzanz zur lohnenden Beute für die Kreuzfahrer; im Jahr 1204 nahmen sie Konstantinopel ein und schlachteten viele Einwohner ab. Sie plünderten Kirchen und Paläste, schmolzen Statuen ein, um Münzen daraus zu machen, verfrachteten unbezahlbare Kunstschätze nach Europa und setzten sich selbst als Herrscher ein. Unter ihnen erlitt Byzanz einen steilen Niedergang; es kam zwar noch einmal zu einem letzten Aufblühen seiner früheren Pracht, doch bald traten die Kräfte des Islam auf den Plan. Da die Westchristen das Schicksal Konstantinopels nicht kümmerte, wurde es 1453 von den ottomanischen Türken unter Sultan Mehmed II. schließlich erobert. Der letzte Kaiser, mit dem passenden Namen Konstantin, fiel kämpfend auf den Mauern der Stadt.
Jane legte die Seite auf die Bettdecke und schaltete das Radio ein. Dann stand sie auf und ging in die Küche hinunter, um sich ein Glas Wasser zu holen. Als sie die Treppe heraufkam, hörte sie, wie die Kurznachrichten begannen: »Streit um die Tagesordnung der Friedens und Versöhnungskonferenz, die übernächste Woche in Israel beginnt… Zwei Menschen sterben bei Autounfall auf der M 50… Leiche einer Frau in der Church Street in Dublin gefunden. Sie soll in der Kunstgalerie gearbeitet haben, in der sie entdeckt wurde…«
Jane machte lauter, als eine Kunstgalerie erwähnt wurde, aber es kamen keine weiteren Einzelheiten. Sie kannte nur eine Galerie in der Church Street, aber vielleicht hatte sie sich ja verhört.
Sie nahm ein weiteres Blatt zur Hand, diesmal eine einzelne Faxseite mit einem Zeitungsartikel, und stieg wieder ins Bett. Trotz der Unmengen von Cocktails an ihrem Valentinsabend hatte Debbie Young nicht vergessen, den Artikel für sie herauszusuchen. Das Fax war schon am Nachmittag ins Radio Centre gekommen, aber Jane hatte nicht die Zeit gefunden, mehr als einen flüchtigen Blick darauf zu werfen.
EIN HAUCH VON SKANDAL
In der Yeats-Sommerakademie in Sligo gab es diese Woche rote Ohren – oder vielleicht sollte man sagen: blaue. Passend zum diesjährigen Thema – französische Poeten, die Yeats beeinflussten – hatte der Verlag von Hilary Lawsons neuer englischer Übersetzung von Baudelaires Gedichtband Les Fleurs du Mal beschlossen, ihr ein teures Parfüm aus reinem Veilchenöl zu schenken; es sollte bei einem Empfang anlässlich der Buchveröffentlichung im Sligo Park Hotel überreicht werden. Doch als Hilary die Veranstaltung verließ, entdeckte sie, dass das Geschenketui sans parfum war. Ein Teilnehmer des Empfangs hatte das duftende Präsent mitgehen lassen. Offenbar wurde daraufhin beschlossen, keinen Stunk zu machen, und die Polizei wurde nicht alarmiert. Mancher Teilnehmer hätte sicher die Nase gerümpft über das Ansinnen, ihn zu durchsuchen. Wie ein Witzbold meinte, wäre die Angelegenheit ohnehin ein Fall für Spürhunde gewesen.
Zweifellos amüsant. Aber hatte die Sache auch eine düstere Bedeutung? Lohnte es sich, den Artikel ihrer Sammlung von Notizen beizufügen?
Da war doch noch etwas über Yeats gewesen, etwas, das sie erledigen wollte… Jeremy Swann! Sie musste sich Fragen für ihr Treffen überlegen, das sie auf den nächsten Tag vorverlegt hatte. Von ihrem Arbeitsplatz waren es zehn Minuten Fahrt nach Rathgar. Sie hatten sich für Janes Mittagspause verabredet.
Das Telefon auf ihrem Nachttisch läutete.
»Jane – Liam hier. Es hat noch einen Mord gegeben.«
»Der in der Church Street? Ich habe es gerade in den Nachrichten gehört…«
»Ja, aber das Entscheidende ist – unser Mörder hat wieder zugeschlagen. Ich meine der Mörder von Sarah Glennon.«
»Das ist ja schrecklich. Woher wissen Sie das?«
»Von Dempsey. Er hat doch tatsächlich Detective Sergeant Taaffe zu mir geschickt, und ich musste Rechenschaft darüber ablegen, was ich heute Abend gemacht habe. Ich ließ mich aber nicht beeindrucken und habe ihn angerufen. Er wollte nicht viel herausrücken, aber ich habe zwei und zwei zusammengezählt. Das Opfer heißt Kara McVey, so viel hat er mir immerhin verraten.«
»Dann ist es die Riverrun Gallery. Kara ist Raymond O’Loughlins Freundin. Ich habe erst vor zwei Wochen ein Interview mit ihr gemacht. Wie furchtbar.«
»Ich glaube, sie halten ihn fest und verhören ihn.«
»Was? O’Loughlin? Er ist niemals der Täter. Ich kenne ihn, mehr oder weniger.«
»Jedenfalls liege ich mit meinem Vorschlag, was den Zeitpunkt angeht, nicht völlig daneben.«
»Ich dachte, Sie sprachen von… Ostern?«
»Ja, aber heute ist der erste Tag der Fastenzeit. Aschermittwoch, Vierzig Tage von jetzt bis Ostersonntag. Es passt irgendwie.«
»Moment mal. Ich will etwas nachsehen.« Sie zog ein bestimmtes Buch aus einem Stapel neben ihrem Bett. Einige Seiten waren mit gelben, selbst klebenden Zetteln markiert.
»Ich habe hier das zweite Gedicht von Yeats, das auf Becca de Lacys Album auftaucht. Der Titelsong ›Byzanz‹, der mit dem Video. Sie verwendet ein paar Zeilen daraus:
Kuppel im Mond und Sternenglanz verschmäht Die Menschlichkeit, Alle Verflochtenheit, Wie Wut und Schlamm der Menschen Adern bläht.
Ein Bild vor mir, ists Mensch ists Schatten, Mehr Schatten wohl, mehr Bild als Schatten, Denn Hades Spindel tief im Mumientuch Wahrt vor Labyrinthes Trug.
Ein Mund, der weder Feuchte bat noch Hauch; Hauchloser Mund ruft um – Heil! Übermenschentum, Todleben, Lebentod nenn ich es auch.«
Damit lässt sich nicht viel anfangen«, sagte Lavelle.
»Außer Folgendem: Raymond O’Loughlins Spezialität sind anatomische Exponate, und seine Ausstellung heißt ›Cryptology‹, wie Sie wissen, was er in dem Interview allerdings nicht erwähnte, ist, dass die Galerie direkt neben der Kirche St. Michan liegt.«
»St. Michan. Die mit den konservierten Toten in der Krypta… Mumien.«
»Jetzt haben Sie’s. Dann geben Sie mir also Recht, was die Gedichte betrifft?«
»Ja. Und ich glaube, es ist Zeit, dass wir mit alldem zu Dempsey gehen. Er wird uns für verrückt halten, aber das sind inzwischen zu viele scheinbar zufällige Übereinstimmungen, als dass wir weiter darüber hinwegsehen könnten. Ich rufe ihn morgen an.«
»Warten Sie erst noch mein Treffen mit Jeremy Swann ab. Ich bin morgen Mittag mit ihm verabredet.«
»Rufen Sie mich an, wenn Sie was Neues haben, dann besuchen wir Dempsey.«
Er legte auf, bevor ihm Jane von Debbies Fax erzählen konnte. Sie würde es ihm am nächsten Tag sagen.
Sie wollte gerade die Nachttischlampe ausmachen, als das Telefon erneut läutete.
»Jane«, sagte Lavelle, »es ist unglaublich, aber es gab noch einen Mord.«
Sie setzte sich mit einem Ruck im Bett auf. »Guterson hat mir eine E-Mail geschickt. Ich habe sie jetzt erst geöffnet. Dieses frühere Mitglied des Siebten Siegels, Jerry Rawlings, der Cultwatch Informationen über die Sekte geliefert hat – er wurde am Valentinstag von einer Briefbombe getötet. Das FBI untersucht den Fall.«