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In Liam Lavelles Haus läutete das Telefon, und das Geräusch drang in alle Räume, einschließlich des Gästezimmers, wo Charlie Plunkett betrunken in einem Schlaf lag, der einem halben Koma gleichkam. Es hatte in den vergangenen vierundzwanzig Stunden wiederholt geläutet, aber diesmal war der Anrufer geduldig, und schließlich zahlte sich seine Hartnäckigkeit aus. Charlie Plunkett schleppte sich murrend zu dem Telefon, das neben Lavelles Schlafzimmer an der Wand befestigt war. Ein Mann mit amerikanischem Akzent fragte nach dem Priester, und Charlie erklärte ihm gähnend und nuschelnd, der sei im Krankenhaus, aber auf dem Wege der Besserung.

Der Mann schien Charlies benebelten Zustand nicht zu bemerken, oder er verstand ihn falsch, denn er bat ihn, Pfarrer Lavelle auszurichten, dass in dessen Computer eine wichtige Nachricht warte. Es sei dringend, sagte der Mann. Charlie legte auf, und da er merkte, dass er eine volle Blase hatte, stolperte er zur Toilette. Bis er wieder draußen im Flur war, wusste er schon nicht mehr, was ihn geweckt hatte, und er ging zurück ins Bett, wo er einschlief, bevor sein Kopf das Kissen berührte. Lavelle konnte nicht schlafen, aber er hatte es aufgegeben, auf lateinisch von eins bis hundert zu zählen oder die Bücher des Alten Testaments in der richtigen Reihenfolge zu memorieren. Es war ein Jammer, dass die meisten Tricks, zu denen er bei Schlaflosigkeit griff, ihn irgendwie zu Religion führten, denn das war genau das Thema, über das er nicht nachdenken wollte. So vieles war in letzter Zeit geschehen, was seinen Glauben aushöhlte, und keines der Argumente, die ihn stützten, der Prinzipien, die er für sich in Anspruch nahm, half ihm.

Seine Gedanken drehten sich im Kreis.

Er holte im Dämmerlicht des Krankenzimmers Janes Discman aus dem Nachtkästchen, den er von der Polizei wiederbekommen hatte. Die CD darin hatte sie ihm gekauft – ein Sampler namens Geistige Lieder. Ich komme nicht los davon, dachte er resigniert.

Er setzte die Kopfhörer auf und wählte Tomaso Albinonis »Die Seligpreisungen« aus, den Anfang der Bergpredigt aus dem Matthäusevangelium. Auf dem Rücken liegend, übersetzte er sich die lateinisch gesungenen Worte, die jeder Christ kennt:

Selig die im Geist Armen, Denn ihnen gehört das Himmelreich…

So vieles von dem, was Jesus bei dieser Gelegenheit gesagt hatte, war auch heute noch radikal, überlegte Lavelle. Er pries die Tugenden der Demut, des Mitgefühls, der Sanftmut, des Strebens nach Rechtschaffenheit, die Arbeit der Friedensstifter. Und welche der Seligpreisungen war die Radikalste von allen? Diejenige, die am lächerlichsten klang, war letzten Endes:

Selig die sanftmütig sind, denn sie werden das Land erben.

Man brauchte einigen Glauben, um das zu unterschreiben. Und die Überzeugung, dass der Mann, der es gesagt hatte, gestorben und wiederauferstanden war. Aber der Glaube war eine Wahl, die man hatte, nicht das Ergebnis vernünftiger Argumentation. Man hatte die Wahl, zu glauben. Manchmal auch entgegen dem Augenschein.

Und von diesem Fundament aus begann er eine Leiter zu bauen, die ihn zu seinem Glauben zurückführte, und als die Musik zu Ende war, legte er die Kopfhörer beiseite, flüsterte »Danke, Jane« und schlief ein.

In Jerusalem träumte Becca de Lacy von einer monströsen Lilie, die aus einem dicken grünen Stiel wuchs, in dem das Blut zahlloser, die Pflanze nährender Leichen pulsierte, und Becca selbst saß anstelle der Jungfrau Maria auf dem Thron, und das Blut gelangte durch die fleischigen Blütenstängel in ihren Körper, und es floss auch wieder aus ihr heraus, aber da war es faulig und zähflüssig geworden. Und als sie ihre langen Gewänder öffnete und nach unten blickte, sah sie, dass sie rittlings auf dem Staubgefäß der Lilie saß, aber eigentlich war es ein verwesender Pilz, dessen eichelförmige Spitze gallertartig und klebrig von ihrer Körperausscheidung war. Insekten krabbelten darüber, und Maden bohrten sich hinein und tauchten wieder auf aus seinem Fleisch, und gerade als sie spürte, dass der aufsteigende Gestank sie zu überwältigen drohte, wachte sie auf.

Das Telefon neben ihrem Bett läutete. George Masterson rief aus der Hotelbar an, wo er sich noch spät einen Drink mit dem Tourmanager, den Musikern und anderem Personal auf Beccas Gehaltsliste genehmigte.

»Tut mir aufrichtig leid, dich zu wecken. Aber die Polizei von Dublin hat darauf bestanden, ist das zu fassen? Sie waren auf meinem Handy, Jessica muss ihnen die Nummer gegeben haben.«

»Schon gut, George, ich war ohnehin gerade aufgewacht. Was wollten sie?« Sie hatte nichts gegen die Störung. Es half ihr, nicht an die Traumbilder zu denken, die immer noch vor ihrem geistigen Auge tanzten.

»Sie haben gefragt, ob David hier bei uns oder sonst irgendwo in Israel ist. Er kommt nicht, oder?«

»Nein, nicht dass ich wüsste. Warum?«

»Keine Ahnung. Jedenfalls sagte ich, ich frage dich und würde sie zurückrufen, falls er hier ist. Außerdem soll ich dich fragen, ob in der Band oder in der Tourcrew Mitglieder einer Organisation namens… Moment, ich hab’s aufgeschrieben… Hüter des Siebten Siegels seien. Nie von ihnen gehört. Du?«

»Nein.«

»Kennst du jemanden, der Roberts oder Mathers heißt?«

»Nein.«

»Gut, dann muss ich sie nicht zurückrufen. Entschuldige nochmals die Störung, aber wenn ich dich nicht angerufen hätte, dann hätten sie es getan. Ich sagte, ein Anruf von der Polizei hätte dich wegen des Konzerts morgen ausflippen lassen. Aber was rede ich – es ist ja schon heute!«

»Und damit Zeit, dass alle ein bisschen Schlaf bekommen. Wer schlafen kann«, fügte sie ängstlich hinzu.

Sie legte den Hörer auf und wunderte sich, warum die Polizei nach David fragte. Sie hätte ihn jetzt selbst gebraucht. Er würde ihre sonderbaren Träume erklären können. Aber noch etwas anderes bereitete ihr Sorgen.

Etwas, das sie ihm versprochen hatte.