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Dempsey war frustriert. Er kam sich vor, als versuchte er auf trockenem Land zu fischen.
In einer Nacht von Freitag auf Samstag war es schwierig, vom Außenministerium in Dublin eine Reaktion auf die Befürchtungen einiger polizeilicher Ermittler zu erhalten, die offenbar über ein Komplott zur Störung der Friedenskonferenz in Israel gestolpert waren.
Das Problem war nicht nur die nächtliche Stunde. Seit Wochen schon gab es beinahe täglich Drohungen gegen die Friedenskonferenz, und sowohl Israeli wie Palästinenser waren in erhöhter Alarmbereitschaft. Und in diesem Fall konnte man den zuständigen Behörden wenig mehr mitteilen, als dass eine irische Künstlerin, die bei einem Aufsehen erregenden internationalen Konzert mitwirkte, möglicherweise eine zwielichtige Figur in ihrem Gefolge hatte. Eine Streichung des Auftritts würde nach Überreaktion aussehen und dem Namen Irlands keinen Gefallen tun. Die Palästinenser wollten unbedingt zeigen, dass sie die Veranstaltung in Bethlehem im Griff hatten, und die Sicherheitsmaßnahmen dort und in Jerusalem waren vermutlich die besten, die man gegenwärtig weltweit treffen konnte. Am vernünftigsten war es, man überließ die Sache den Anti-Terrorkräften in beiden Ländern, die sich untereinander kurzschließen sollten. Und die Hauptsache war, besagte Person zu finden und zu vernehmen, und zwar mit möglichst wenig Aufsehen. So weit die politische Analyse.
Als dann aus Jerusalem die Nachricht kam, dass sich in Becca de Lacys Gefolgschaft keine der genannten Personen befanden, begann sich Dempsey Sorgen zu machen, dass eine von ihnen auf der Suche nach einem neuen Opfer durch die Straßen Dublins pirschen könnte. Streifenwagen und uniformierte Beamte zu Fuß wurden in die Stadtgebiete geschickt, in denen Prostituierte arbeiteten, um sie zum Verlassen der Straßen aufzufordern. Man warnte bekannte Massageclubs und Escortagenturen. Viele würden die Warnungen allerdings in den Wind schlagen. Prostituierte lebten zu jeder Zeit gefährlich.
Dempsey war noch immer nicht zufrieden und beschloss, ungeachtet der frühen Stunde Chief Superintendent McDonagh anzurufen. Er wusste, McDonagh war verstimmt, weil sich die Untersuchung so rasch von seiner Drogentheorie wegbewegte. Und vielleicht war das der Grund, warum ihm McDonagh erst jetzt mitteilte, dass ein hochrangiger Kontaktmann beim FBI zwar nichts von Drogenaktivitäten seitens der Sekte wusste, ihm aber vor einigen Tagen erzählt hatte, seine Behörde habe aus Sicherheitsgründen eine Liste mit Namen, die von Rawlings stammte, an die US-Flughafen weitergeleitet. Das FBI hatte die Hüter des Siebten Siegels weiter im Visier. Dempsey fluchte in sich hinein, als das Gespräch mit McDonagh beendet war. Er erfuhr sehr spät davon, aber es war immerhin etwas.
Sehr vieles an diesem Fall passte noch nicht zusammen, aber Dempsey war hundemüde; es war fünf Uhr morgens, und er brauchte ein paar Stunden Schlaf, bevor er mit frischer Kraft weitermachen konnte.
Jane fuhr so früh ins Krankenhaus, wie sie konnte, ohne das Personal zu stören. Sie war um acht Uhr aufgestanden, hatte geduscht, ihre Unterwäsche gewechselt und dann beschlossen, das grüne Kostüm noch einmal anzuziehen. Diesmal trug sie ihr Haar offen, aber sie hatte Make-up aufgelegt und weit mehr Parfüm benutzt, als sie es um diese Uhrzeit üblicherweise tat. Lag es daran, dass sie Lavelle besuchte? Als sie aus dem Auto stieg, wurde ihr plötzlich klar, was es war. Immer wenn ihre Regel bevorstand, neigte sie dazu, sich herauszuputzen, im Gegensatz zu manchen Frauen unter ihren Bekannten, die genau das Gegenteil taten. Ihr wurde leicht ums Herz. Sie war nicht schwanger. Obwohl ihr die Aussicht in ihrer jetzigen Gefühlslage gar nicht mehr so Furcht erregend erschien.
Den Polizisten vor dem Krankenzimmer hatte man abgezogen, und als Jane eintrat, saß Liam im Bett und las. Er legte sein in Leder gebundenes Brevier beiseite, als sie sich auf den Bettrand setzte und ihn auf die Wange küsste. Dann zog er sie an sich, und sie umarmten sich, bis ihn seine Verletzungen schmerzlich zusammenzucken ließen.
»Liam, es tut mir so leid«, sagte sie und seufzte.
»Schon gut, ich bin nur noch ein bisschen empfindlich.«
»Nein, du Dummkopf«, lachte sie. »Ich meinte, es tut mir leid, dass ich an dir gezweifelt habe. Ich hatte einige ziemlich negative Gedanken, als ich Italien war.«
»Das ist verständlich. Unsere Freunde von der Polizei haben sich bestimmt alle Mühe gegeben, dich aus der Fassung zu bringen. Aber die Schwester hat mir deine Nachricht ausgerichtet. Das war genau das, was ich zu diesem Zeitpunkt brauchte – nicht nur die Tatsache, dass du einen Beweis gefunden hast. Hätte ich in diesem Moment mit dir reden können, dann hätte ich dir gesagt… dass ich genauso empfinde.«
Sie suchte in seinen Augen nach Bestätigung und fand sie. Die beiden hielten sich an den Händen, Jane drückte seine Finger an ihre Lippen und küsste sie, und dann machte er seine Hand frei und fuhr ihr durchs Haar. In diesem Augenblick wurden sie von einer Schwester gestört, die ins Zimmer kam. Sie lächelte ihnen wissend zu. Lavelle war erleichtert, dass es nicht diejenige war, die ihm neulich so zugesetzt hatte.
Jane nahm in einem Sessel Platz, während die Schwester nach der Stichverletzung sah. »Heilt ganz gut ab«, sagte sie.
»Ich glaube, den können wir wegmachen.« Sie löste vorsichtig den Verband und warf ihn in eine Metallschüssel, die sie anschließend hinaustrug.
Lavelle wollte nun unbedingt alles wissen, was seit Janes Rückkehr passiert war. »Die Polizei hat mir nichts erzählt, nur dass sie die Anklage nicht weiterverfolgen und dass Dempsey irgendwann im Laufe des Tages vorbeikommt.«
Jane erzählte ihm der Reihe nach die Ereignisse seit ihrer Entdeckung der Vision des Gorman, und sie hatte ihm die aktualisierte Website des Siebten Siegels als Ausdruck zum Lesen mitgebracht.
»Dann planen sie also etwas in Bethlehem«, sagte Lavelle, »wenn die dritte Bedingung erfüllt ist. Und genau dort hält sich Becca de Lacy auf. Es muss doch mit ihr persönlich zu tun haben. Denn in der Prophezeiung heißt es, das Tier wird von einer Frau losgelassen werden.«
»Das habe ich gesehen. Aber was soll das heißen – sie werde die drei Farben des Martyriums erfahren?«
»Noch ein Hinweis auf keltische Spiritualität. Die irischen Mönche behaupteten, Askese und Exil seien höchste Formen der Selbsthingabe, sie nannten sie grünes und weißes Martyrium.«
»Und die dritte?«
»Rotes Martyrium – Tod.«
Jane sah verwirrt aus. »Du glaubst doch nicht, dass Becca de Lacy sich auf der Bühne…?«
»Umbringen wird? Das bezweifle ich. Ich glaube, ›auf der Bühne sterben‹ bedeutet für Künstler etwas völlig anderes – vielleicht liefert sie ein lausiges Konzert ab.«
Jane lachte. Anscheinend entdeckte einer von den beiden noch in der düstersten Lage stets ein Quäntchen Humor. »Wollen wir hoffen, dass beides vereitelt wird, die Prophezeiung und was sie weiter im Schilde führen. Inzwischen mache ich mich auf den Weg, ich muss noch etwas erledigen. Ich brauche den Discman für ein paar Stunden. Dempsey hat mich gebeten, mir das letzte Gedicht noch einmal anzusehen und mir auch das Album anzuhören, für den Fall, dass wir etwas übersehen haben. Aber ich bin nicht weit weg. Ich fahre hinüber zum Rundfunkhaus und bin in ein paar Stunden wieder da.«
Lavelle reichte ihr den tragbaren CD-Player. »Du siehst übrigens umwerfend aus«, sagte er bewundernd.
»Ich habe mich schließlich mit einem sehr wichtigen Mann getroffen.« Es stimmte immerhin teilweise. Bei einem Blick aus dem Fenster sah sie, was für ein schöner Tag es geworden war. »Weißt du was, ich war seit Tagen nicht an der frischen Luft. Ich lasse mein Auto hier stehen und gehe zu Fuß zum Sender. So weißt du, dass ich auf jeden Fall zurückkomme.« Sie lächelte ihm zu und ging.
Lavelle schaltete das Fernsehgerät ein. Es gab eine ausführliche Berichterstattung von der Eröffnung der Friedens und Versöhnungskonferenz, und später am Abend würde das Konzert in Bethlehem live übertragen werden. Während er mit der Fernbedienung zwischen den Kanälen hin und her wechselte, kam die Schwester von zuvor wieder und sagte, ein Mann sei zur Station durchgestellt worden, und er hätte eine dringende Nachricht für ihn. Er solle bei sich zu Hause in Kilbride anrufen. Lavelle holte sein Handy aus dem Nachtkästchen. Das hatte ihm die Polizei zwar zunächst abgenommen, aber inzwischen zusammen mit Janes Discman zurückgegeben.
Charlie ging ans Telefon und erzählte ihm von dem Amerikaner, der angerufen hatte.
»Ist das Telefon im Arbeitszimmer schon repariert, Charlie?« Als Charlie bejahte, sagte Lavelle: »Dann möchte ich, dass du etwas für mich tust. Geh ins Arbeitszimmer und nimm den Apparat dort ab. Ich sag dir, wie du den Computer anmachst und an die E-Mail für mich kommst, okay?«
Eine Minute später ließ er Charlie den PC hochfahren. Dann bat er ihn, die Maus zu benutzen, so wie er es an dem Tag bei Lavelle gesehen hatte, als die erste Mitteilung von Brad Guterson kam. Er ermahnte ihn, nichts anzuklicken, bis sie gemeinsam festgestellt hatten, dass es sich um das richtige Symbol handelte. Die Prozedur dauerte eine Weile, aber schließlich waren sie in Lavelles Mail, und er musste Charlie nur noch die Nachricht aus Chicago auf den Schirm holen lassen.
»Jetzt lies mir ein paar Zeilen vor.«
Charlie las stockend ein, zwei Stellen aus der E-Mail vor, wobei er gelegentlich ein Wort buchstabierte, bei dessen Aussprache er sich nicht sicher war. So würde es eine ziemlich mühselige Angelegenheit werden, bis er Gutersons Nachricht verstanden hatte.
»Ausgezeichnet, Charlie. Jetzt schalte bitte den Drucker an, gleich neben dir.« In fünf Minuten war die E-Mail heruntergeladen und ausgedruckt. »Ich werde Pfarrer Lyons bitten, den Brief möglichst bald abzuholen. Kannst du so lange warten?« Charlie konnte. Lavelle fragte, wie es Pete gehe.
»Dem geht’s wunderbar. Er erzählt überall herum, dass er Pfarrer Lavelle das Leben gerettet hat, indem er einem Mann mit dem Spaten den Kopf abgehackt hat.«
»Sag ihm, ich bin ihm sehr dankbar, aber er muss dafür beten, dass der Mann wieder gesund wird. Und Charlie, ich weiß, ich wäre ohne dich und Pete jetzt tot. Ach ja, und danke, dass du dich um das Haus kümmerst, solange ich weg bin.« Ihm war klar, dass Charlie seine Abwesenheit ausgenutzt hatte, um im Haus zu schlafen, aber der Alte fühlte sich bestimmt besser, wenn er offiziell als Verwalter anerkannt wurde.
Zu Lavelles Erleichterung war Lyons daheim, als er anrief. Er bat ihn, so bald wie möglich zu seinem Haus zu fahren und den Brief ins Krankenhaus zu bringen. Der junge Priester versprach, binnen einer Stunde bei ihm zu sein.