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Die Schwester, die sich um Lavelles Verbände kümmerte, hatte einen harten Gesichtsausdruck und erfüllte ihre Aufgabe mit wenig Feingefühl. Er zuckte zusammen, als sie den Versband über der Stichwunde an der Seite grob wegriss.
»Tut weh, was?«, fragte sie. »Gut so.«
Sie war Ende Dreißig, etwa so alt wie er selbst.
»He, was haben Sie für ein Problem?«, fuhr er sie an.
»Priester«, antwortete sie und legte hastig einen neuen Verband über die Wunde. »Priester haben früher dieses Land beherrscht. Und Nonnen. Nonnen in Krankenhäusern wie diesem hier. Oder Schulen. Wurde alles von Priestern, Brüdern und Nonnen geleitet. Dann kam man euch auf die Schliche. Sexueller Missbrauch, Prügel für hilflose Waisen in eurer Obhut, Kindern das ganze Leben ruiniert –«
»Jetzt mal langsam«, protestierte er, »das geht zu weit – wir haben schließlich auch das eine oder andere richtig gemacht.«
»Ach ja? Wenn das einer wie Sie sagt, muss es ja stimmen.« Sie brachte ihre Arbeit so rasch wie möglich zu Ende und ging. Seit er im Krankenhaus unter Bewachung stand, hatte ihn das Personal professionell, wenn auch nicht besonders freundlich behandelt. Nun hatte er eben seine erste Erfahrung mit offener Feindseligkeit gemacht, und sie erschütterte ihn. Klerusfeindlichkeit hatte sich in den letzten Jahren wie ein Unkraut in Irland breitgemacht. Und als Folge davon hatte Lavelle erlebt, wie die katholischen Laien ihren Glauben so schnell aufgaben, als wären sie gerade aus einem bösen Traum erwacht. Er wurde nun häufig von Menschen angesprochen, die plötzlich feuilletonistische Einsichten in ihre Religion gewonnen hatten. »Das ist alles nur ein Märchen, Herr Pfarrer – Jesus, die Wiederauferstehung, das ganze Zeug«, so lautete eine typische Aussage.
Ja, es hatte den äußeren Anschein eines Märchens, damit die Menschen die Sache verstehen konnten. Der religiöse Impuls, der offenbar in ihre Seele eingebrannt war, brauchte gewisse Konventionen – Rituale, die Möglichkeit des Transzendenten, ethische Erfordernisse und eine Geschichte, die es dem Einzelnen erlaubte, einen Sinn in seiner Existenz zu sehen. Das war die Stärke von Märchen und Mythen: eine Sammlung von Geschichten, die uns versichern, dass unsere Bemühungen einerseits alltäglich sind, andererseits aber doch zum außerordentlichen Abenteuer des Daseins gehören.
Die Geschichte von Jesus und seiner Wiederauferstehung zielte dagegen höher. Sie besagte, dass es wahrhaftig ein paralleles Universum gab, in dem die Leiden und Härten des Lebens eine Bedeutung erlangten, anstatt offen und unbeantwortet zu bleiben. Und dass Gott die Kluft zwischen diesen beiden Welten überbrückte, als hätte diese Welt im Augenblick Seines Todes einen Blick in das Wurmloch geworfen, das in die andere führte.
Aber das hörte sich vermutlich alles nur so gut an, wenn man bereits überzeugt war. Und war er noch überzeugt? Er würde genauer darüber nachdenken müssen, wenn er wieder kräftiger war.
Aber das Verhalten der Krankenschwester ging ihm nicht aus dem Kopf.
Das Ironische dabei war, dass Jane als Protestantin nichts von der Bitterkeit in sich hatte, die das Verhältnis zwischen der katholischen Geistlichkeit und ihrer Herde vergiftete. Kamen sie auch deshalb so gut miteinander aus? Weil sie keine Schwierigkeiten damit hatte, dass er Priester war? Keinen Argwohn, was seinen Charakter betraf? Immerhin heirateten die Pastoren der anglikanischen Kirche und hatten Familie. Wäre er ein Pastor, hätte er nun zweifellos ein passendes Bibelzitat zur Hand. Er dachte angestrengt nach. Jesus hatte da etwas gesagt… im Johannesevangelium…
Wenn die Welt euch hasst, dann wisst, dass sie mich schon vor euch gehasst hat.
Das genügte für den Augenblick.