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Irgendwo über Kanada geriet Becca de Lacys Flugzeug in Turbulenzen. Sie wurde aus einem Traum gerissen, einem Traum von Buntglaslandschaften und geisterhaften Gestalten, die endlos Verszeilen intonierten, mit denen sie vergeblich versuchten, die unsagbare Trauer ihres Schicksals auszudrükken, eines Schicksals, das sie dazu verdammt hatte, auf ewig in einer kristallinen Wildnis dahinzusiechen.

Diese Träume befielen sie seit ihrem Abflug von Irland, und Becca wusste, sie entsprangen dem Vorfall von der Nacht vor der CD-Präsentation. Nach dem Streit mit David wegen des Gedichts hatte sie versucht, ihn zu beschwichtigen, indem sie eine spirituelle Übung vorschlug, die er »Das Schwert der Begierde« nannte. Und dabei war alles fürchterlich schief gelaufen.

»Du bist zu meiner anamchara, meiner Seelengefährtin, geworden«, hatte David eines Abends mitten im Sommer gesagt, als sie im Salon saßen. Draußen vor dem Fenster flogen Geschwader von Saatkrähen zu ihren Schlafplätzen in den Bäumen. »Deshalb kann ich dir jetzt von der äußersten Prüfung erzählen, der ich mich unterziehe.«

Er neigte zu einer geschraubten Sprechweise, an die sie sich jedoch gewöhnt hatte.

»In dieser Welt, in der alle Wünsche umgehend befriedigt werden, muss derjenige, der sich über die schmutzige Flut des Lebens zu erheben trachtet, fähig sein, sich zu bezähmen. Der Körper lässt sich zwar durch Fasten und Bußübungen unterwerfen, aber dennoch bleibe ich ein Opfer der sinnlichen Begierde, getrieben vom Verlangen nach körperlicher Vereinigung mit einer Frau, denn dieses – wie der Mönch Evagrius uns lehrt – ›befällt mit größerer Heftigkeit jene, die Enthaltsamkeit üben, weshalb du dich schulen musst wie ein gewandter Athlet, um ihm zu widerstehen‹.«

Dann erzählte er ihr von einer höfischen Liebestradition, bei der ein Ritter und seine unerreichbare, weil einem anderen versprochene Dame sich vor Verlangen brennend nebeneinander legten, getrennt von einem Schwert, das zum einen die Kluft symbolisierte, die zwischen ihnen herrschen musste, zum anderen die Gefahr, die ihrer Reinheit, ihrem Leben gar, drohte, sollten sie diese missachten.

»Das sind zwar nur Märchen«, sagte er, »aber richtig verstanden, kann das Schwert der Begierde eine mächtige Waffe im Kampf gegen unsere verderbte Natur sein. Kannst du mir folgen?«

Er sah Becca forschend an. Sonst führte er seine Bußübungen immer allein aus. Nun bat er sie, an einer teilzunehmen. Aber es hörte sich ein wenig lächerlich an. Sie wollte ihn allerdings nicht verärgern. »Das klingt nach einer äußerst raffinierten Anmache«, wich sie aus, »aber du weißt, ich habe nicht vor, dich zu verführen, das ist nicht mein –«

Er brachte sie mit einer Geste zum Schweigen. »Ich habe dich viele Dinge gelehrt und meinerseits viel aus deiner Aufmerksamkeit gelernt, aber du vergisst im Augenblick die Ehrerbietung, die wir uns schulden – das ist kein Kinderspiel hier.« Ein Aufblitzen von Zorn, ein Anflug jener düsteren Stimmung, bei der sich Becca vor Angst immer die Eingeweide zusammenzogen. »Du hast mich von den Erwählten sprechen hören und dass ihnen Sex und Ehe nicht bestimmt sind. Ich weiß, keine Frau ist weniger zügellos als du, ich habe es in deinen blassen Zügen gesehen, als wir uns kennen lernten. Aber du bist dennoch begehrenswert für mich. Und wenngleich Sonne und Mond nie vereint sein können, sind doch manchmal beide am Himmel zu sehen… und wie schön ist das.«

Sie ließ sich erweichen. »Was soll ich tun?«

»Wir werden von Zeit zu Zeit beisammen liegen. Du darfst mich mit deinem Fleisch in Versuchung führen, wenn du es wünschst, aber wenn wir reden, dann nur von geistigen Dingen.

›Augen können wegblicken von ihren Verlockungen, aber Ohren können ihre Worte nicht aussperren.‹ Und unsere Körper dürfen sich nicht berühren. Niemals.«

Becca hatte nur wenige, flüchtige Beziehungen gehabt. Sie empfand kaum Vergnügen an körperlicher Intimität mit Männern oder Frauen. Und sie glaubte, dass David auf seine Weise jene Überwindung des Verlangens anstrebte, die das Fundament des wahrhaft Geistigen ist. Er hatte auch ihren jüngsten Ausbruch von Kreativität angeregt.

»Ist das dein Ernst?«, fragte sie.

»Nie war mir etwas so ernst. Sind wir uns einig?«

Beim ersten Mal hätte sie beinahe losgelacht, als er mit einem weißen Gewand bekleidet in ihr Schlafzimmer kam. Es erinnerte sie an die Leinengewänder, die Priester bei der Messe unter dem farbigen Ornat tragen. Und er hatte ein weiteres über dem Arm hängen, das sie anziehen sollte. Aber mit ihrer Leichtfertigkeit war es vorbei, als sie sah, wie er ein Schwert in einer Bambusscheide unter der Robe hervorzog. Sie erkannte die orientalische Herkunft, nicht nur wegen der Scheide; als er es ihr zeigte, sah sie auch, dass das lange Heft lackiert und mit seidenen Troddeln verziert war.

Er zog das Schwert mit seiner leicht gekrümmten Klinge aus der Scheide und erklärte stolz: »Als Yeats 1920 zu Besuch in den Vereinigten Staaten war, schenkte ihm Seine Exzellenz Junzo Sato, der japanische Honorarkonsul, diese alte Samuraiwaffe. Sie soll zwischen uns liegen, um uns vor uns selbst zu schützen.« Er bat sie, das Gewand anzuziehen. »Und schau in deinem Kleiderschrank nach einem seidenen Halstuch«, fügte er an.

Auf den Rückweg vom Badezimmer wühlte sie in einer Schrankschublade und fand ein Halstuch. Wozu er das wohl brauchte – für irgend ein albernes Sexspiel? Nein, nicht David.

»Nun gib Acht«, sagte er und nahm ihr das Halstuch ab, als sie zu ihm vor das Podest trat, auf dem ihr breites Bett stand. Er warf das Tuch in die Luft, und als es abwärts schwebte, drehte er die Schwertklinge mit der scharfen Seite nach oben und hielt die Waffe vor sich gestreckt. Das Halstuch landete auf der Klinge, wurde für einen winzigen Moment in seinem Fall aufgehalten und sank dann in zwei Hälften auf den Boden. Becca war beeindruckt.

»Die Schneide ist so fein, dass sie in dieser Welt fast nicht existiert«, sagte er bewundernd. »Zu schieren Stahlatomen geschliffen von einem Krieger, der auch ein geistiger Lehrer war. Ein Zeremonienschwert, das zu unserer Übung passt.«

Er nahm sie bei der Hand und führte sie die zwei Stufen auf das Podest hinauf zum Bett. Dann legte er das Schwert auf den purpurnen Satinbezug, streckte sich auf einer Seite des Bettes aus und bedeutete ihr, sich ebenfalls hinzulegen.

Zuerst lag sie steif da, dann entspannte sie sich und fühlte die Wärme seines Körpers, der ihrem nahe war, ihn aber nicht berührte. Sie sandte keine Signale in seine Richtung aus, deshalb handelte es sich als Übung im Widerstehen von Versuchung schwerlich um eine echte Herausforderung, es sei denn, er war sehr leicht erregbar.

Nach einigen Minuten des Schweigens begann er über die Askese der Wüstenmönche zu sprechen, über die Versuchungen des heiligen Antonius und die klösterlichen Disziplinen Ägyptens, die von der frühen keltischen Kirche übernommen wurden. Becca wurde schläfrig und bekam nur noch einzelne Brocken seines Monologs mit, bei dem er es irgendwie schaffte, Yeats und den Fortgang der Weltgeschichte mit einzubeziehen. Etwa eine Stunde später wachte sie auf und merkte an dem noch warmen Körperabdruck neben ihr, dass er soeben den Raum verlassen und das Schwert mitgenommen hatte.

Die nächste Gelegenheit, bei der sie das Lager teilten, war an einem warmen Abend im Spätsommer. In der duftgeschwängerten Luft des Raumes war selbst das Leinengewand zu heiß, und Becca verschaffte sich Erleichterung, indem sie es vorn aufknöpfte und öffnete. Sie merkte, dass er den Kopf auf ein Kissen gestützt hatte und sie ansah.

»Du brauchst wegen deiner Nacktheit keine Zurückhaltung zu üben«, sagte er. »Wenn du glaubst, ich bedarf weiterer Prüfungen, so hast du als meine Seelengefährtin das Recht dazu. Aber du darfst mich nie berühren oder dich mir hingeben. Das wäre… unser Ende.«

Und dann erzählte er ihr von seiner Bewunderung für den Gelehrten Orgien, den größten Denker der frühen griechischorthodoxen Kirche, der sich kastrieren ließ, damit er Frauen unbefangener als Priester dienen konnte, und sie erfuhr, dass die Mönche einen Gürtel um ihre Lenden trugen, der ihre Ablehnung alles Unreinen ausdrücken sollte.

Tonfall und Klang seiner Stimme, mit der er nüchtern Beispiele für die Unterdrückung der Sexualität psalmodierte, wirkten seltsam erregend auf Becca. Diesmal schlief sie nicht ein, und nach einer Stunde der Stille bemerkte sie, dass sein Atem tief und gleichmäßig ging, als befände er sich in Trance. Irgendwann stöhnte er, und seine Hand krallte sich in das Laken, auf dem sie beide lagen. In Becca flackerte eine Empfindung auf, die wie ein Fangarm nach ihr zu greifen schien. Kurz darauf stand er auf und verließ den Raum. Von da an freute sie sich auf ihre Begegnungen.

Manchmal trug sie das Gewand, manchmal trug sie nichts, manchmal befühlte sie ihren Körper durch das Material hindurch oder ließ ihre Hände darunter gleiten und berührte die Rundungen ihrer Brüste, ihren weichen Bauch, oder gleich neben sich den flachen, unnachgiebigen Stahl des Samuraischwerts. Manchmal stöhnte sie auch vor Lust.

Davids Reaktion war stets dieselbe. Obwohl sie ihn niemals nackt sah und obwohl er bisweilen sogar knurrte wie ein Tier, glaubte sie nicht, dass er körperlich erregt wurde. Ihr selbst aber hatte das »Schwert der Begierde« einen Zugang zu ihrer Sinnlichkeit eröffnet.

In jener Nacht jedoch, nachdem sie sich gestritten hatten, ging etwas schief. Vielleicht hatte sie ihr Bemühen übertrieben, ihn für die vorhergehende Auseinandersetzung zu entschädigen.

Sie wusste, je mehr sie ihn in Versuchung führte, desto größer war seine Leistung, wenn er nicht reagierte. Auf diese Weise wurde der geistige Nutzen gemessen.

Becca war parfümiert und in einem seidenen Kimono in dunkelstem Rosa aus dem Badezimmer gekommen. Am Fußende des Bettes streifte sie das Kleidungsstück ab und stand in hauchzarter Unterwäsche vor ihm, dazu Strümpfe, die ihre milchigen Schenkel sehen ließen. Mit überkreuzten Armen zog sie das Spitzenhemd über den Kopf, entblößte langsam ihre Brüste mit den rosigen Warzen. Dann stellte sie abwechselnd ein Bein aufs Bett und rollte die Strümpfe nach unten auf, bevor sie ihm den Rücken zuwandte, mit den Händen die Hüfte hinab in ihren Slip fuhr und ihn auf halbe Schenkelhöhe schob; schließlich bückte sie sich und zog ihn ganz aus.

Er beobachtete sie, sein Blick schien eine Mischung aus Faszination und Beunruhigung auszudrücken. Dann schloss er die Augen.

Beccas eigene Erregung hatte inzwischen einen Punkt erreicht, der nach einem Ventil verlangte. Doch sie widerstand und reizte sich noch weiter, indem sie das Schwert vom Bett aufhob und mit dem kalten Stahl über die Innenseite ihrer Schenkel und über ihre Brüste strich, um ihn schließlich an ihre Lippen zu führen und diese lasziv, gefährlich über ihm zu schließen.

Sie legte das Schwert aufs Bett, stieg selbst hinauf und kniete sich rittlings über Davids Unterschenkel, wobei sie darauf achtete, ihn nicht zu berühren. Nun begann sie sich zu streicheln, nur leicht zunächst, dann heftiger und schneller, während sie immer feuchter, voller und weicher wurde. Sie verdrehte die Augen nach oben, zu dem von hinten angestrahlten Fenster und sah die Inschrift:

Sie tat sehr lieb und süß fing sie Zu klagen an Becca verlor sich in einer ansteigenden Flut von Empfindungen. Ihre eigene Wellenbewegung war zunächst die Einzige, die sie wahrnahm, aber dann durchlief ein Beben das Bett, und sie sah, dass Davids ganzer Körper wie in einem Krampf zuckte. Sein Atem ging im Gleichklang mit ihrem eigenen, der immer schneller wurde, bevor Wogen der Lust sie laut aufschreien ließen. Gleichzeitig stieß er ein fürchterliches Heulen aus, zog die Beine unter ihr hervor und presste die Hände in den Schritt… und nun sah sie zunächst nur einen Punkt und dann einen sich ausbreitenden Blutfleck durch sein weißes Gewand dringen. Bestürzt rückte sie von ihm ab. Er wälzte sich auf allen vieren vom Bett auf den Boden und stolperte halb kriechend aus dem Zimmer. Kurz darauf hörte sie, wie die Haustür krachend zugeschlagen wurde.

Nach einer Nacht, in der sie immer wieder aus düsteren Träumen aufschreckte, erwachte sie schließlich, als ein fahles Licht durch das Buntglasfenster strömte. In den Morgenstunden war Schnee gefallen und hatte sich wie eine Decke über Rasen und Bäume gelegt. Becca hüllte sich in einen schwarzen Umhang, nahm das Schwert in seiner Scheide mit und verließ das Haus. Sie ging ein Stück die Allee entlang über den jungfräulichen Schnee, dann bog sie auf einen breiten Pfad ab, der sie an immergrünem Lorbeer und dunklen Stechpalmendickichten vorbeiführte, in denen noch vereinzelt Beeren hingen.

Sie hatte sich seit einem Vorfall im letzten Herbst nicht mehr auf diesen Pfad gewagt. An einem Nachmittag voller honigfarbenem Licht hatte sie einen Spaziergang über den Landsitz gemacht. Da sie wusste, dass David an diesem Tag nicht da war, schlug sie den Weg zu dem ehemaligen Kornspeicher ein, in dem seine Wohnung lag. Das Summen von Insekten hoch droben in den Bäumen zog sie vorwärts. Es war ein Geräusch, das sie möglicherweise auf ihrem Album verwenden konnte. Je weiter sie vordrang, desto lauter wurde das Summen und Surren um sie herum. Dann stieg ihr ein süßlicher Geruch in die Nase. Sie blieb stehen und wollte herausfinden, welche spätblühende Pflanze hier ihren leicht widerwärtigen Duft in die warme Nachmittagsluft verströmte. Unmittelbar neben ihr schwebten Insekten über der freiliegenden Wurzel eines Baumes. Ein Fliegenpaar landete mit wütendem Gesumme auf ihrem Schuh. Sie zuckte mit dem Fuß und trat versehentlich gegen das, woran sie sich gütlich getan hatten. Zunächst hielt sie es für ein Stück morsches, ausgebleichtes Holz. Dann verpestete ein süßlicher, Ekel erregender Gestank die Luft, eine Mischung aus verdorbenem Fleisch und überreifem Obst. Auf dem Laubhaufen zu ihren Füßen lag etwas, das wie ein vertrockneter Phallus aussah. Es war eine Stinkmorchel, deren übel riechendes, schleimiges Fleisch die Fliegen ausgehöhlt und zernagt hatten. Dann traf Becca der Gestank erst richtig, und sie machte sich, mit Übelkeit kämpfend, auf den Rückweg. Doch nun hatte der Schnee die Landschaft neu geformt, sie befand sich in einer Welt des reinsten Weiß, und die Luft war schneidend kalt und klar. Es half ihr, die Erinnerung an den grotesken Pilz und seinen widerwärtigen Geruch abzuschütteln. Hinter den Stechpalmen schwankten die kahlen Äste von Linden und Buchen mit ihrer weißen Kruste im eisigen Wind. Becca zitterte, sie war es nicht gewöhnt, im Freien zu sein. Molly hatte ihren freien Tag, das hieß, sie und David waren die einzigen Menschen auf diesem windgepeitschten Berghang. Als sie um eine Kurve bog, flogen drei große Vögel auf, die im Schnee gepickt hatten, und suchten flügelschlagend Zuflucht in den Bäumen. Dann sah sie das Blut.

Leuchtende Spritzer davon tränkten den Schnee. Angst griff wie ein Schraubstock nach Becca. Die Vögel mussten… Ihr wurde schlecht bei dem Gedanken. Als sie langsam zu der von Blut befleckten Stelle vorrückte, fiel ihr auf, dass keine menschlichen Fußspuren zu sehen waren. Aber überall waren die Abdrücke der vierzehigen Vogelfüße. In der Mitte eines Flecks entdeckte sie etwas, das wie ein gelber Kiesel aussah – der Stein einer Beere. Die Vögel hatten die Beeren der Stechpalmen gegessen, und die hatten ihre Exkremente rot gefärbt!

Beunruhigt von diesem neuerlichen seltsamen Vorzeichen, näherte sie sich dem Getreidespeicher, einem zylindrischen Steinbau aus dem achtzehnten Jahrhundert. Er hatte sieben Stockwerke oder Ebenen; man erreichte sie über eine Treppe, die sich wie ein Korkenzieher außen um das Gebäude wand. Sie hatte es renovieren lassen und die ersten beiden Ebenen zu einer Wohnung für David ausgebaut. Durch den Schnee ringsum wirkten die Steine noch schwärzer als sonst und trugen zu der düsteren und bedrohlichen Atmosphäre des Ortes bei. Becca stieg eine Treppe hinauf und klopfte zaghaft an die Eichentür. Nach etwa einer Minute hörte sie, wie der Riegel zurückgeschoben wurde. David öffnete die Tür und stand in einem roten Talar vor ihr, ein Zorn so eisig wie der Morgen prägte sein unrasiertes Gesicht.

»Ist alles in Ordnung, David? Es tut mir leid wegen letzter Nacht, ich –«

»Was tust du hier? Wie kannst du es wagen, in meine Privatsphäre einzudringen!«, fauchte er sie an.

»Ich habe mir Sorgen gemacht… Ich dachte, du seist… verletzt. Dass vielleicht das Schwert…« Sie zog die antike Waffe unter dem Umhang hervor.

Er riss es ihr aus der Hand. »Du darfst nie davon sprechen, weder jetzt noch später. Und du musst… du musst dich selbst durch Gebet und Fasten züchtigen, wie ich es dir beigebracht habe… In uns beiden ist ein Übermaß an Blut.«

Er drehte sich abrupt um und schlug die Tür zu.

Verängstigt und gedemütigt kroch sie zurück zum Haus. Im Badezimmer erbrach sie heftig, und dann lag sie die nächsten Stunden auf ihrem Bett und grübelte darüber nach, wie ihre Gefühle immer mehr von Davids Launen abhingen. Im jetzigen Zustand fühlte sie sich der CD-Präsentation nicht gewachsen. Sie würde George Masterson anrufen und ihr Erscheinen absagen.

Vielleicht verschob sie sogar ihren Flug nach Los Angeles.

Aber am Nachmittag kam David zum Haus und flößte ihr, ohne die Ereignisse des Morgens oder der Nacht zu erwähnen, neue Zuversicht ein.

Nun, als sie im Flugzeug wieder in den Schlaf sank, stieg eine Flut von Bildern und Worten mit wachtraumhafter Klarheit in ihr auf. Salome, deren sinnliches Gesicht sich in die versteinerten Züge der Belle Dame verwandelt hatte, sprach zu ihr:

Die Lilie auf deiner Stirn Seh ich von Fiebern feucht und fahl, Und rasch auf deiner Wange welkt Das Rosenmal.

Salome hob den Kopf Johannes’ des Täufers von einem Silberteller und küsste die blutbefleckten Lippen, während drei Vögel Blutstropfen aufpickten, die in den Schnee spritzten. Die Ritter und Adligen mit ihren Leichengesichtern versammelten sich um sie und streckten die Hände nach dem tropfenden Ding aus. Becca spürte, wie eine eisige Hand nach ihr griff.

Die Stewardess hatte sie an der Schulter berührt. »Sie zittern ja. Darf ich Ihnen eine Decke bringen?«

»Wie… ? Oh, nein danke, es geht schon.«

Eine weitere Inschrift auf dem Fenster kam ihr in den Sinn.

Und Mund um Mund verging vor Gier Und klaffte warnend, weit und bang – Da fuhr ich auf und fand mich hier Auf dem kalten Hang.

Sie schloss wieder die Augen, elftausend Meter über der Nachtseite der Erde.