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Sarah Glennon wurde seit zwei Tagen vermisst. Sie war auf dem Fest zum einundzwanzigsten Geburtstag einer Freundin gewesen, in einem Hotel im Norden der Stadt.« Detective Inspector Kevin Dempsey unterrichtete die drei Priester der Gemeinde Kilbride in Liam Lavelles Wohnzimmer vom Stand der Dinge. Er war ein kräftiger Mann mit kurz geschnittenem grauem Haar, das eine tonsurförmige kahle Stelle einrahmte, und trug einen blauen Regenmantel, aus dem er gerade einen Spiralblock gezogen hatte.
Lavelle hatte Dempsey einen Lehnstuhl angeboten und sich selbst auf den zweiten gesetzt, während sich die beiden anderen Priester die Couch vor dem leeren Kamin teilten. Es war Mittag, im Haus lief keine Heizung, und alle vier froren. Lavelle war außerdem übermüdet – er hatte nicht geschlafen, seit er die Leiche in der Kirche gefunden hatte. Die Priester waren schon am Morgen einzeln vernommen worden, aber sie hatten kaum Informationen zu dem Fall erhalten, der ihre Gemeinde in die Schlagzeilen brachte. Deshalb hatten sie Dempsey um diese Unterredung gebeten.
»Sie teilte sich mit zwei Freunden ein Taxi in die Stadt, um den Nachtbus noch zu kriegen – die drei trennten sich, und sie stieg in den Bus nach Ballinteer, das liegt auf dem Weg in die Hügel vor Dublin. Wir wissen, dass eine junge Frau, auf die ihre Beschreibung passt, dort in eine durchgehend geöffnete Tankstelle gegangen ist; wahrscheinlich wollte sie ihre Eltern anrufen und sich abholen lassen, aber das Telefon war defekt. Vermutlich beschloss sie dann, die anderthalb Kilometer zu ihrem Elternhaus zu laufen, das außerhalb der Siedlung liegt, an der Straße in Richtung Ticknock. Danach wurde sie nicht mehr gesehen. Wir sind zunächst der Möglichkeit nachgegangen, dass ein Angreifer ihr vom Bus oder der Tankstelle aus gefolgt ist. Inzwischen ist klar, dass sie entführt und ermordet wurde, aber wo und zu welchem Zeitpunkt nach ihrem Verschwinden, kann ich nicht sagen.«
»Hören Sie, Inspector«, knurrte Paddy Quinn, der silberhaarige Gemeindepfarrer. Er trug als Einziger unter Dempseys Zuhörern ein vollständiges schwarzes Priestergewand. »Haben Sie eine Erklärung dafür, warum eine junge Frau, die unseres Wissens keine Verbindung zu Kilbride hat, ausgerechnet in unserer Pfarrkirche tot aufgefunden wird?«
»Nein. Hat jemand von Ihnen eine?«
Lavelle beobachtete, wie der Polizist sie alle drei rasch der Reihe nach ansah, wobei er den Eindruck hatte, dass sein Blick eine Spur länger auf ihm selbst verweilte. Dempseys Augen waren klein für sein Gesicht, oder sie wirkten klein, weil sie über einem Paar feister Wangen saßen, aber sie waren lebhaft und wachsam. Lavelle überlegte, dass sein Bart, die Lederjacke und der offene Hemdkragen ihn in den Augen des Detective nicht nur räumlich von den beiden konventioneller aussehenden Priestern auf der Couch abhob.
Niemand hatte eine Idee.
»Sie sagen, sie wurde ermordet«, wandte sich Conor Lyons, der jüngere der beiden Kuraten, wichtigtuerisch an den Detective. »Auf welche Weise?«, Lyons trug einen leuchtend grünen Golfpullover mit V-Ausschnitt, der ein pastoralgraues Hemd mit Priesterkragen sehen ließ. Sein Gesicht war rosig und glänzte, als hätte er es den ganzen Morgen heftig geschrubbt.
»Die amtliche Pathologin wird in etwa einer Stunde mit der Obduktion beginnen, aber ihre vorläufige Untersuchung weist auf einen Zusammenbruch aller Körperfunktionen infolge massiver Blutung hin – Sarah wurde ausgeblutet… sie hatte kaum noch einen Tropfen Blut in den Adern.«
»O Herr, steh uns bei!«, platzte Lyons heraus.
Lavelle schloss die Augen, um einen Blickkontakt zu verhindern, bevor Lyons ihn ebenfalls zu einer melodramatischen Reaktion auffordern konnte. Kein Blut mehr in ihr. Wobei war das eine Bedingung? Bei einem Opfer.
»Es sieht aus, als hätten wir es mit einem Ritualmord zu tun«, sagte Dempsey zu Quinn, ohne auf Lyons zu achten.
»Erinnert es Sie an irgendeine Zeremonie – eine Schwarze Messe vielleicht?«
»Ich bezweifle, dass einer von uns hier je Zeuge einer Schwarzen Messe oder sonstigen satanischen Treibens war, aber die Verwendung eines weiblichen Körpers in Blasphemien wie der Gnostischen Messe ist bekannt… allerdings handelt es sich dabei meines Wissens um eine lebende Person, nicht um einen Leichnam. Habe ich Recht, Liam?«
Pfarrer Lavelle, der zusammengesunken in seinem Lehnstuhl saß und die Augen geschlossen hatte, nickte zerstreut. Welches Datum war heute? Der 1. Februar. Der Frühlingsbeginn in der Natur, und demzufolge…
Dempsey wandte sich wieder an Quinn.
»Wurden die Kirche oder der Friedhof in letzter Zeit geschändet?«
»Wissen Sie, Inspector, wir leben in einer Zeit, die keinen Respekt mehr kennt vor Dingen, die früher einmal heilig waren«, sagte Quinn mit einiger Leidenschaft. »Sie benutzen die Kirche als Toilette, sie feiern Trinkgelage auf dem Friedhof, sie rauben sogar den Opferstock für die Kerzen!«
Kerzen. Ganze Reihen von Kerzen, letzte Nacht in der Kirche. Wozu?
»Ich meinte richtige Sakrilege. Gestohlene Hostien, Zeichen von Teufelsanbetung…«
»Die Kerzen!« Lavelle schien aus einer Trance zu erwachen.
»Das Ritual hat mit Feuer, mit der heiligen Brigitta und mit…
Reinigung zu tun!«
Er setzte sich aufrecht und fuchtelte mit den Armen in Quinns Richtung. »Wessen Fest ist heute, Paddy?«
»Das der heiligen Brigitta.«
»Und was feiern wir morgen?«
»Die Darstellung Christi im Tempel oder, wie es in meiner Jugend hieß, das Fest Mariae Reinigung.«
»Aber es gibt einen noch älteren Namen dafür.«
»Du meinst Lichtmess?«
»Richtig. Lichtmess. Gefeiert mit brennenden Kerzen. Und woran genau erinnert das Fest?«
»An den Besuch der Heiligen Jungfrau im Tempel, vierzig Tage nach Jesu Geburt. Sie ging hin, um sich reinigen zu lassen und um Opfer darzubringen. Soll das eine Bibelstunde werden, Liam, oder worauf willst du hinaus?«
»Nur einen Moment Geduld, bitte. Heute ist der 1. Februar. In Irland nennen wir ihn La Fheile Bride – das Fest der heiligen Brigitta. Wir befinden uns im Dorf Kilbride – Cill Bride heißt die Kirche der heiligen Brigitta –, und unsere Kirche ist ihr ebenfalls geweiht. Dann die Kerzen. Der Zusammenhang ist folgender: Brigitta ist nicht nur eine christliche Gestalt, es gab auch schon vorher eine Brigida, eine mächtige keltische Göttin, die im Mittelpunkt eines Feuerkults stand. Außerdem gibt es eine Volkssage, an die ich mich nur noch teilweise erinnere, wie die heilige Brigitta mit einer Krone aus Kerzen auf dem Kopf die Heilige Jungfrau in den Tempel begleitet. Kennst du die Geschichte, Paddy?«
»Ja, ich erinnere mich gut. Maria war sehr schüchtern und wollte nicht gesehen werden, und Brigitta mit ihren Kerzen lenkte die Aufmerksamkeit von ihr ab. Aus Dankbarkeit erlaubte sie Brigitta, ihren Festtag vor dem Fest Mariae Reinigung zu feiern… Aber ich weiß immer noch nicht, worauf du hinauswillst.«
»Aber verstehst du denn nicht? Eine Brigitta, die deutliche Züge der keltischen Gottheit trägt, zusammen mit der Jungfrau Maria in einer Geschichte, in der Kerzenlicht erwiesenermaßen das Vermächtnis der alten Religion ist. Göttin und Gottesmutter in einer Zeremonie vereint, die Feuer, Opfer und Reinigung beinhaltet. Das stellte das Ritual von letzter Nacht dar. Eine Verschmelzung von Lichtmess und Fest der Brigida. Genau das müssen der oder die Täter im Sinn gehabt haben. Was letzte Nacht drüben in der Kirche stattfand, war nicht nur Mord und Schändung… es war mehr.«
Er sank erschöpft in seinen Sessel zurück. Dann sagte er mit tonloser Stimme: »Mir ist noch etwas eingefallen. Es heißt, dass am ersten Tag des Frühlings die Göttin Brigida dem toten Winter neues Leben einhaucht. Die Geschehnisse der letzten Nacht in Kilbride haben selbst das noch pervertiert!«
»Ach, hör doch auf«, sagte Lyons nach einigen Sekunden Schweigen. »Dann soll also eine Bande Feueranbeter aus unserer Gegend ein Mädchen entführt und ermordet haben, um das Gegenteil von irgendeinem keltischen Quatsch zu feiern – jetzt lass mal die Kirche im Dorf, Liam!«
Lyons lachte über sein eigenes Wortspiel und brachte Quinn mit einem Augenzwinkern dazu, es ihm gleichzutun.
Lavelle achtete nicht auf ihn. »Ich war derjenige, der sie finden sollte«, sagte er mehr zu sich selbst und legte die Fingerspitzen an die Stirn.
»Apropos toter Winter – besteht die Möglichkeit, diesem Raum hier ein bisschen Leben oder Wärme einzuhauchen, Liam? Ich friere.« Lyons genoss seine Rolle als Spaßvogel.
Dempseys Handy piepste. Er holte es aus seiner Manteltasche. »Dempsey… gut, dann habt ihr also Eingang, Sakristei und Altar erledigt… Ja, alle Kirchenbänke und Beichtstühle, pudert alles ein… ja, die Empore ebenfalls.« Er steckte das Telefon wieder ein und setzte sein Gespräch mit den Priestern fort.
»Es scheint, als würden Sie alle hier davon ausgehen, dass mehrere Leute beteiligt waren und dass sie aus der Gegend sind.«
»Für eine Zeremonie braucht man zweifellos mehrere Personen – als ich das letzte Mal nachgeschaut habe, bestand ein Hexensabbat aus dreizehn«, sagte Lyons. »Und warum sollten sich Leute, die nicht aus der Gegend sind, unsere Kirche aussuchen? Wahrscheinlich weiß nicht mal die Hälfte der Gemeindemitglieder, dass sie überhaupt existiert, von Auswärtigen ganz zu schweigen!«
Lyons’ Albernheiten gingen Lavelle auf die Nerven.
Dempsey fuhr geduldig fort. »Wenn ich recht verstehe, gab es also Ihres Wissens keine Anzeichen für Teufelsanbetung, okkulte Praktiken oder dergleichen in Kilbride, ja? Pfarrer Lavelles Idee mit den Festtagen ist demnach von Ihrer Seite die einzige Vermutung, was es mit diesem Ritual auf sich haben könnte. Ist das richtig?«
Die beiden Priester auf der Couch sahen einander an, dann gaben sie mit einem Achselzucken zu erkennen, dass sie ihm nicht widersprechen wollten.
»Wir wissen außerdem, dass Sarah bereits tot war, als sie hierher gebracht wurde. Bei all dem Blutverlust war sie noch leichter und sie war ohnehin ein zierliches Mädchen. Ein halbwegs kräftiger Mann könnte sie transportiert haben, zwei hätten mit Sicherheit keine Schwierigkeiten gehabt.«
»Aber wie hat es sich abgespielt… wie kamen sie in die Kirche… wie haben sie die Leiche transportiert?«, fragte Quinn.
»Gott, das ist wirklich wie bei Burke and Hare.« Lyons wieder.
»Wir reden hier vom Mord an einer jungen Frau, vielleicht auch von Folterung, Hochwürden. Um Leichenraub geht es jedoch nicht.« Offensichtlich ging Lyons auch Dempsey auf die Nerven. »Aber um Pfarrer Quinns Frage zu beantworten… Wir arbeiten an einer Reihe von Möglichkeiten.« Der Detective beugte sich vor und heftete den Blick auf den jungen Priester.
»Anscheinend wurde die Seitentür mit dem Reserveschlüssel geöffnet, der immer in der Sakristei hängt, und zwar von innen – er steckte noch im Schloss. Woher wussten die Täter, wo sie suchen mussten oder dass er überhaupt da war? Hat es ihnen jemand verraten?«
Lyons krümmte sich unbehaglich auf seiner Couch. »Sie meinen, einer von uns? Na ja, Paddy und ich waren gestern natürlich auf dem Land. Aber Liam war den ganzen Tag hier… in der Gemeinde…«
»Halt verdammt noch mal die Klappe, Conor! Ich kann für mich selbst reden«, brauste Lavelle auf.
Die beiden Priester auf der Couch waren verblüfft über Lavelles Heftigkeit.
»Kein Grund für so einen Tonfall, Liam«, rüffelte ihn Quinn.
»Nein? Ich bin hier nicht derjenige, der seine Sprache nicht unter Kontrolle hat«, sagte Lavelle und sah Lyons böse an.
Lyons zog eine Schnute. »Ich wollte doch nur sagen –« Dempseys Telefon läutete wieder. Er bat mit einer Handbewegung um Ruhe. »Ja, Jack… was, jetzt schon? Gut, sag ihr, ich bin unterwegs, und halt so lange die Stellung.«
Er stand auf. »Ich muss weg. Seien Sie inzwischen vorsichtig, was Sie zu Reportern oder überhaupt zu irgendwem sagen. Ich würde Ihre Diskretion begrüßen, und das gilt sicher auch für Sarahs Familie.« Er sah Lyons scharf an. »Und nur zur Erinnerung – wir versiegeln den ganzen Tatort, das heißt das Gebäude, die Außenanlagen und den Parkplatz, Sie müssen also für Ihre Gottesdienste in den nächsten Tagen anderweitig Vorkehrungen treffen. Und falls Sie Informationen haben, von denen Sie glauben, sie könnten uns nützen, hier ist die Nummer der Sonderkommission, die wir in Lucan eingerichtet haben.«
Er schrieb eine Nummer in seinen Notizblock, riss die Seite heraus und gab sie Pfarrer Quinn. Das Polizeirevier von Lucan war für die Ermittlungen bei Gewaltverbrechen im Westen Dublins zuständig und lag nur drei Meilen von Kilbride entfernt.
Als er bereits auf dem Weg zur Tür war, drehte er sich noch einmal zu Lavelle um. Er hatte noch eine Frage. »Warum glauben Sie, dass Sie das Mädchen finden sollten?«
»Ich weiß nicht. Ich glaube… ich bin wohl einfach nur müde.«