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NACH DER Erschöpfung gerät sie immer wieder ins leichte Träumen, sie glaubt seine Stimme zu hören, die etwas vorliest, dazwischen entstehen kurze Pausen, in denen eine Musik sich aus weiter Ferne meldet.


Überhaupt erscheint ihr nun alles wie ein kleines Orchester, das die Bilder in den schimmernden Fenstern instrumentiert, sie sieht Vögel, die sich in geöffneten Käfigen auf und ab schwingen, und sie erkennt Details von Blumen, die gerade gezeichnet werden und dann wieder verschwimmen. Rücken die Bilder näher, schwillt die ferne Musik an, manchmal entsteht auch ein Sprachenorchester, als befänden sie sich in einem unterirdischen Versteck und als hätte sich über ihnen eine große Gesellschaft zu einem Fest versammelt.


Wenn sie wach sind, vereinigen sich ihre Körper immer von Neuem, sie brauchen dazu aber nichts zu tun, die Körper finden von selbst zusammen, und dann fallen sie in eine lange Erstarrung, als wollten sie diese Seligkeit möglichst bis zur Neige auskosten. Sie spürt seinen Körper in solchen Momenten wie eine anschmiegsame Decke, die ihrer Haut genau angepasst ist und jede ihrer Bewegungen mitmacht, und sie hält still, um das regelmäßige Pochen seines warmen Gliedes in ihrem Leib zu spüren, das ihr vorkommt wie das Luftschnappen eines schweren, regungslosen Fisches auf dem Grund eines dunklen Bassins.


Die Liebe der Körper hat mit Sex wenig zu tun, sie spielt mit diesem Satz und mit dem lästigen, aufdringlichen Wort, sie möchte es verscheuchen oder wegkicken, und sie möchte neue Worte und Metaphern erfinden, um dieses Spiel zu beschreiben. Einverständnis! Einklang! – wären das solche Worte? Nein, sie sind noch zu passiv, zu matt und vor allem zu blass! Die Liebe der Körper ist nichts Harmonisches, nein, diese Liebe entwickelt sich langsam und entsteht aus dem Spiel all der kleinen Feuer, die sich während der letzten Tage entzündeten.


In den Momenten des höchsten Glücks hat die Sprache sowieso nichts mehr zu suchen, nein, in solchen Momenten sind nur noch die Ur-Laute da, ein Lallen, ein Rufen, ein Bitten, ein Stammeln. Gegenüber solchen Lauten hat jeder Satz oder jedes Wort keine Kraft, sie kommen zu spät, sie stimmen mit der Empfindung nicht mehr überein, nein, sie haben etwas falsch Beschönigendes, Glattes.


Die Sprache der Glücksmomente ist aber in diesem Sinne nicht »schön«, sondern rau und abgründig, sie ist ein schallendes Echo des Körpers, sie ist seine Jägerin, die ihn belauert, verfolgt und schließlich stellt: orgiastisches Laufen, Verausgabung, ein lang anhaltender Taumel entlang der Grenzen zum Schmerz, der sich in pures Glück verwandelt, in reine Ekstase.


Als sie erwacht, ahnt sie nicht, wie spät es eigentlich ist. Die Lichtraster der Hotelfenster sind längst erloschen, und nur noch zwei weit voneinander entfernt liegende Fenster sind erleuchtet. Sie weiß, dass es die Fenster ihrer Zimmer sind, sie brüten nun entleert vor sich hin, während der Lichtstrom im Untergeschoss versiegt ist, als hätte ihn die Erde geschluckt.


Sie richtet sich auf, nimmt einen großen Schluck Wasser und breitet sich dann weit über ihm aus, sie ist jetzt ein Vogel mit großen Schwingen, der seinen Leib zu fassen bekommt und mit ihm davonfliegt. Nach langem, schönem Flug über die weißen Inseln werden sie irgendwo landen, wo sie endlich allein sind und keine aufdringlichen Laute sie mehr erreichen.


Sie öffnet eine Tür, und ein Kind spaziert herein, schaut sich um und betastet die Wände des leeren Raumes. Sie erkennt ihr Atelier, seinen glatten, glänzenden Boden mit den winzigen Furchen, seine warmen Zonen, in denen sie wie sonst nirgends sicher ist. Sie spielt mit ihrem Körper, sie tanzt, singt, springt, hüpft, in diesem Raum gibt es keinen Gegenstand, der ihr noch im Wege wäre. Und niemand beobachtet sie, niemand! Keine Stimme der Mutter, kein Rufen der Geschwister – sie ist allen entlaufen und hat diesen Raum ganz für sich. Dann und wann sinkt sie nieder und legt sich auf den Rücken, dann träumt sie mit offenen Augen von der Zukunft und den ersten Menschen, die ihr auf diesem Eiland begegnen.


Die Berge sind nicht mehr zu erkennen, vor den Fenstern schimmert ein Schwarz, das ausschaut, als wäre es aus flüssigem Wachs, die Wärme des Tages ist noch darin, und die Spuren der letzten Feuer zeichnen sich ab.


Sie bedeckt seinen Körper weiter mit Küssen, sie klettert mit ihren Lippen an ihm hinauf und schnürt ihn mit Küssen zu, dann streckt sie ihre Arme weit aus und passt sie seinen ebenfalls weit ausgestreckten Armen sehr genau an, sie sind jetzt verbunden, als würden sie von zwei starken Fesseln gehalten.


Keine Unterscheidungen mehr, keine Suche nach Abweichungen! Das Ende der ewigen Sucht nach einer Benennung der Differenz!


Wer spricht? Die Sprache der Liebe.