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ALS SIE zu ihrem Hotelzimmer zurückkehrt, ist der Reinigungsdienst schon auf dem Flur unterwegs. Sie spricht kurz mit der jungen Frau und sagt, dass sie das Zimmer nicht zu reinigen oder aufzuräumen brauche. Sie hat viel zu arbeiten, deshalb ist es am besten, wenn man ihr Zimmer überhaupt nicht betritt, sie hat ja alles, was sie braucht, und wenn etwas fehlt, wird sie sich melden. Die junge Frau nickt, es ist ihr anscheinend sehr recht, ein Zimmer weniger säubern und in Ordnung bringen zu müssen, zum Schluss des kurzen Gesprächs will sie aber noch wissen, ob ein Getränk in der Mini-Bar fehlt.
– Eine kleine Flasche Sekt, sagt Jule, und dann reicht ihr die junge Frau eine neue Flasche, und Jule nimmt sie in die linke Hand, während sie die Zimmertür aufschließt und dann mit ihrer Reisetasche im Innern verschwindet.
Sie muss das Gefühl haben, allein zu sein und nicht gestört zu werden, so etwas ist wichtig. Wenn sie das Rumoren der Reinigungsfrau hört und weiß, dass diese Frau irgendwann an ihrer Tür klopfen wird, kommt sie mit dem Projekt nicht voran. Das Projekt funktioniert nur, wenn ein vollkommener Rückzug garantiert ist. Keine Berührung mehr mit dem Außen, keine Eingriffe, keine Kontakte – am besten sollte es sehr still sein, so dass sie in Ruhe und ungestört darauf warten kann, was Geist und Körper als Nächstes hervorbringen. Denn darin besteht eben die Kunst: dem Geist und dem Körper die besten Bedingungen zu bieten, sie in eine gewisse Erregung zu versetzen, sie für sich arbeiten zu lassen und zu beobachten, was sie jeweils an Unerwartetem und Neuem kreieren, Punkt, fertig, los.
Im Zimmer öffnet sie die Minibar und schiebt den Sekt in das kleine Gefrierfach, dann packt sie die Geräte aus ihrer Tasche und schaut sich einige Minuten lang die Video-Aufzeichnung ihrer Performance an. Sie ist sehr zufrieden, das Cover des »Kopfkissenbuches« deckt die Wasseroberfläche bis zu den Poolrändern ab, und als Schwimmerin ist sie unterhalb dieser Oberfläche ebenfalls gut zu erkennen.
Auch der Geliebte fügt sich ideal in das Bild, wie er knapp an ihr vorbeigleitet und sich dabei genau im richtigen Tempo bewegt. So erscheinen sie wahrhaftig wie ein Paar, das mit jeder Bewegung den erotischen Index vergrößert. Vor allem darauf aber kommt es ihr an: auf eine erotische und beinahe unerträgliche Spannung, die auf einer streng eingehaltenen Distanz der beiden Liebenden basiert.
Aus genau solchen Momenten nämlich besteht in ihren Augen das »Kopfkissenbuch«, ja, so hat sie es gelesen, denn ihre Lektüre empfand sie als hochgradig erotisch, ohne dass sie genau hätte sagen können, wodurch diese Erotik entstand. Durchschaut hat sie diese Geheimnisse also noch nicht, gerade deshalb hat sie ja die Inszenierungen ihrer Performance entworfen. Sie will das »Kopfkissenbuch« mithilfe ihres eigenen Körpers lesen, sie will an sich selbst spüren, aus welchen Ingredienzen diese geheimnisvolle asiatische Lektüre-Mixtur besteht.
Sie lässt die Geräte stehen und liegen und holt die kleine Flasche Sekt aus dem Gefrierfach. Sie gießt den gesamten Inhalt wie bereits gestern in ein großes Wasserglas und nimmt einen kräftigen Schluck. Dann legt sie sich mit dem Rücken auf das breite Bett und versucht, ein wenig zu entspannen.
Wie seltsam, dass er derart perfekt seine Rolle gespielt hat! Sie brauchte ihm nicht die geringsten Anweisungen zu geben, er fand den Zugang zu ihrer Inszenierung anscheinend intuitiv. Sie hatte so etwas bereits vorher geahnt, ja, sie hatte sich vorgestellt, dass er als der gute und genaue Beobachter, für den sie ihn hält, so reagieren würde. Ein Zuschauer, der das Video später zu sehen bekommt, wird annehmen, diese Szenen seien lange geplant und geprobt worden. Nichts da, so war es nicht, sie hat einen Raum entworfen und mit lauter Hinweisen aufgeladen, und er hat diese Hinweise verstanden, kombiniert und sie als ein Ensemble gedeutet.
Schade, dass er nicht auch die entsprechende asiatische Kleidung trägt, schade aber auch, dass sie ihn nicht in seinem Zimmer oder anderswo filmen kann, wenn er allein ist. Sie möchte ihn filmen, wie er das Bad betritt, duscht, sich ankleidet, etwas frühstückt. Sie möchte seine Haare streng nach hinten kämmen, so wie sie ihre eigenen Haare streng nach hinten gekämmt hat, und sie möchte, dass er einen schwarzen Kimono trägt.
Sie ist von dieser Idee so besessen, dass sie die Rezeption anruft und nachfragt, ob es möglich ist, einen schwarzen Kimono zu beschaffen. Die Frau an der Rezeption ist überhaupt nicht erstaunt, sondern bittet um ein wenig Geduld. Kaum fünf Minuten später meldet sie sich zurück mit der Nachricht, dass es im Hotel Kimonos in den verschiedensten Größen gebe, leider aber keine schwarzen. Stattdessen gebe es dunkelblaue und dunkelrote, sie ist begeistert und bittet darum, ihr eine kleine Kollektion in das Zimmer zu legen, sie brauche die Kimonos für ihre Arbeit.
Sie trinkt das Glas Sekt aus und legt sich noch einmal aufs Bett. Ihre Ideen gehen jetzt mit ihr durch, sie kommt kaum hinterher und steht schließlich auf, um sich einige Notizen auf einem rasch herbeigeholten Block zu machen. Sie entwirft Szenen und Rollen, die ihr Geliebter spielen könnte: Der Geliebte schreibt einen Brief, der Geliebte wartet auf die Geliebte, der Geliebte durchstreift auf der Suche nach der Geliebten die Flure dieses Hotels, der Geliebte tritt mit einem kleinen, weißen Teller an ein Büffett und belegt den Teller mit Speisen, die er für die Geliebte sorgfältig ausgewählt hat, der Geliebte schickt ihr Musik, der Geliebte entfernt sich von diesem Hotel und ruft sie aus der Ferne zu sich, der Geliebte sitzt an der einen Seite eines großen, leeren Gastraumes und sie an der anderen, der Geliebte sucht die Toilette des Gastraumes auf, sie tut dasselbe, und sie küssen sich zum ersten Mal im Keller der Gaststätte, er ist auf dem Rückweg von der Toilette, sie auf dem Hinweg …
Halt, stopp, es geht viel zu schnell. Sie atmet tief durch und ermahnt sich zur Konzentration. Es ist gut und schön, so viele Ideen zu haben, aber sie darf sich jetzt nicht allzu lange in ihnen verlieren. Vor allem aber darf sie sich nicht an ihnen festkrallen und jetzt laufend darüber nachdenken, wie sie im Einzelnen zu verwirklichen wären.
Das Projekt sollte seine Leichtigkeit und Lockerheit bewahren, und diese Vorgabe hat zur Folge, dass sie ihrem Geliebten auf keinen Fall von diesen Ideen berichtet. Ihr Geliebter sollte kein Schauspieler sein, das auf keinen Fall, ihr Geliebter sollte vielmehr hier und da eine Rolle in ihren Inszenierungen spielen, das aber nur, weil er eben kein Schauspieler, sondern ihr Geliebter ist.
Sie will den Körper ihres Geliebten zusammen mit ihrem eigenen Körper zum Einsatz bringen, so versteht sie nun, nach einigem Nachdenken, ihr Projekt. Nicht einen Moment lang hatte sie bei ihrem Herkommen daran gedacht, dass es diese schöne Wende nehmen und sich auf diese Weise verändern und erfüllen würde. Sie hatte vorgehabt, das Projekt als Geschichte einer einsamen Frau zu inszenieren, die sich nach nichts mehr sehnt als nach der Gegenwart eines Geliebten. Nun aber bringt sie diese starke Sehnsucht zugleich mit ihrer möglichen Erfüllung ins Spiel, das ist etwas anderes, Größeres, von dem freilich noch nicht gesagt ist, ob es gelingt. Und wenn es gelingen würde?
Sie durchkreist unruhig den Raum und schüttelt sich, durchströmt von einer kleinen Ekstase. Ja, sie spürt richtiggehend die heftigen Schauer, die diese Gedanken und Empfindungen in ihr auslösen. Denn wenn dieses Projekt gelingen würde, natürlich, wenn es gelingen würde …, dann wäre ihr Geliebter am Ende des Spiels nicht mehr der Geliebte des »Kopfkissenbuchs«, sondern ihr einziger, wahrer Geliebter, dessen Einzigkeit und Wahrheit sich im gemeinsamen Spiel bewiesen hätte.
Sie fragt sich, ob er das »Kopfkissenbuch« eigentlich kennt, ja, wie wäre es, wenn er es überhaupt nicht kennen würde? Er muss es nicht lesen, das nicht, aber er sollte den Entwurf des Projektes in seinen wichtigsten Zügen doch kennen. So hätte er die Chance, die von ihr entworfenen Szenen und Räume rascher zu verstehen und auf sie zu antworten. Was also soll sie tun? Sie denkt kurz nach, dann fällt es ihr ein: Sie wird ihm einen Brief schreiben, und sie wird das Schreiben dieses Briefes als eine weitere Szene ihres Projekts gestalten. Also los, also voran.
Sie räumt das Zimmer auf und achtet darauf, dass kein einziger Gegenstand vom Thema ablenkt. Kein Glas darf mehr auf der Tischplatte stehen, keine Blumen in einer Vase, und natürlich darf erst recht keine Schale mit Obst die Blicke auf sich ziehen. Die Möbel müssen ebenso unberührt und kahl erscheinen wie der Boden, keine Dekoration, keine Accessoires.
Sie überlegt, ob sie weiter den Morgenmantel tragen soll, ja, der Morgenmantel passt doch genau, dann stellt sie den Schreibtisch schräg vor eines der Fenster, um den Lichteinfall zu verbessern. Sie legt einige Bögen Briefpapier auf die linke Seite der leer geräumten Schreibtischplatte und entnimmt einem Schreibetui einen Stift, dessen Spitze nicht aus einer Mine, sondern aus einer dünnen, pinselartigen Verdickung besteht. Sie legt den Stift in die Mitte des Tisches und postiert dann die Video-Kamera in einer Ecke des Zimmers. Sie schaut durch den Sucher, ja, so ist es richtig, ein eher fahles Licht fällt auf den Schreibtisch und setzt einen kleinen Akzent. Dann schaltet sie die Kamera ein und geht langsam hinüber zum Schreibtisch.
Sie setzt sich an den Tisch, sie ist jetzt eine einsame Hofdame am japanischen Kaiserhof, die einen Brief an ihren Geliebten schreibt. Sie nimmt den Stift in die Hand, wie schön er sich anschmiegt! Dann greift sie nach einem Bogen Briefpapier, fährt mit der linken Hand noch einmal glättend darüber und beginnt vorsichtig, mit dem Stift die ersten Sätze zu malen:
Das »Kopfkissenbuch« ist eine Sammlung von Aufzeichnungen der Hofdame Sei Shonagon, die am japanischen Kaiserhof lebt. Auf den ersten Blick macht Sei Shonagon diese Aufzeichnungen nur für sich, in Wahrheit aber schreibt sie für ihren Geliebten. In jeder ihrer Zeilen ist der Geliebte präsent und spürbar, obwohl sie nur selten direkt von ihm spricht. Wenn sie von schönen Kohlenbecken und Kiefernbäumen spricht, spricht sie von den Räumen, in denen sie ihren Geliebten erwartet. Wenn sie von der Schönheit der Flöte spricht, spricht sie von der Flöte, die der Geliebte spielt. Und wenn sie vom Flug der Wildgänse spricht, spricht sie davon, wie dieser Flug die Sehnsucht nach ihrem Geliebten weckt.
Sei Shonagon schreibt keine Erzählungen, sie entwirft kleine Szenen und Räume. In diesen Architekturen sitzt sie meist allein, als eine geduldige Beobachterin, die auf die unmerklichen Zeichen des Lebens achtet. Ihr Feingefühl ist nicht zu überbieten, und es erstreckt sich auf alles Sichtbare, auf die schönen wie die hässlichen Dinge, auf die Natur wie auf die Menschen.
In der späten Nacht und am frühen Morgen schreibt sie und lauscht, ob der Geliebte kommt oder wohin er gerade gegangen ist. So trägt alles Geschriebene die Zeichen ihres Geliebten, und so ist ihr Schreiben nichts als ein Ausdruck ihres unstillbaren Verlangens.
Sie legt den Stift zur Seite und greift nach einem Briefbogen, sie hält ihn sich vor die Augen und liest, was sie geschrieben hat. Ja, diese Andeutungen reichen, so könnte es gehen. Sie schwenkt den Bogen hin und her und wartet, bis die Schrift getrocknet ist. Dann faltet sie den Bogen zusammen und steckt ihn in einen Umschlag. Sie steht auf und geht langsam auf die Kamera zu, sie schaltet die Kamera ab und atmet tief aus.
Wie spät ist es? Sie schaut auf die Uhr und stellt fest, dass der Vormittag schon fortgeschritten ist. Was wird er jetzt tun? Wird er nach seinem Bad frühstücken gegangen sein? Nein, sie kann sich nicht vorstellen, wie er inmitten von vielen anderen Menschen in dem großen Frühstücksraum sitzt. Ob er spazieren gegangen ist? Auch das glaubt sie nicht, sie vermutet vielmehr, dass er sich wie sie in seinem Zimmer befindet und sich mit seiner Arbeit beschäftigt. Aber was wäre das, diese Arbeit?
Sie verbietet sich das weitere Grübeln und Nachdenken und entschließt sich, eine Auszeit von ihrem Projekt zu nehmen. Sie legt den Morgenmantel ab und zieht sich rasch an. Es kommt ihr jetzt nicht darauf an, welche Kleidung sie trägt, sie hat dies und das zu erledigen, und dieses Erledigen geht am schnellsten in Jeans und leichten Turnschuhen.
Wenige Minuten später gibt sie ihren Brief an der Rezeption ab und bittet eine der jungen Frauen hinter der Theke, ihn möglichst sofort an Johannes Kirchner weiterzuleiten. Dann geht sie hinüber in den Frühstücksraum, aus dem schon fast alle Hotelgäste abgezogen sind. Das lang gestreckte Büffett, das aus lauter kleinen Tischen besteht und sich in der Mitte des Raumes befindet, steht verwaist da, nur an zwei, drei Tischen sitzt noch ein Paar, das sich traut, so früh ein Glas Sekt zu trinken.
Wenn er jetzt hier wäre, würde sie mit ihm auch ein Glas trinken. Eins oder zwei? Ach was, sie würde mit ihm mehrere Gläser trinken, das ist doch klar. Sie geht zu einem kleinen Tisch ganz am Rand und holt sich eine Tasse starken Kaffee. Sie gibt eine winzige Menge Milch hinzu, aber keinen Zucker. Dann holt sie sich vom Büffett ein Croissant und isst es sehr langsam, wobei sie nach jedem Bissen einen kleinen Schluck Kaffee trinkt.
Sie fühlt sich entspannt und aufnahmebereit, all ihre Kräfte sind auf das Projekt konzentriert. Wie gut sie in diesen frühen Morgenstunden, als die meisten Gäste noch schliefen, schon damit vorangekommen ist! Die frühen Morgenstunden sind das Geheimnis der Arbeit. Wer sich dagegen auf die späte Nacht verlässt, so, wie viele Künstler es tun, ist schon verloren. Die späte Nacht ist nichts für Projekte, die späte Nacht ist die Zeit des Geliebten.
Sie lacht kurz auf, schaut sich aber sofort um, ob jemand dieses plötzliche Lachen bemerkt hat. Ja, eine der jungen Bedienungen hat es bemerkt und kommt auch sofort an ihren Tisch.
– Guten Morgen, Frau Danner. Ich sehe, es geht Ihnen gut.
– Ja, es geht mir gut. Sobald ich morgens zum ersten Mal einen starken Kaffee getrunken habe, passiert irgendetwas Gutes in meinem Gehirn.
– Sie frühstücken lieber spät?
– Ja, ich frühstücke meist spät, und ich frühstücke wenig. Ein Croissant, ein starker Kaffee. Und vorher vielleicht ein oder zwei Gläser Sekt.
– Sekt am frühen Morgen?
– Sekt am liebsten am sehr frühen Morgen.
– Aha, ich verstehe.
– Sie verstehen? Aber was gibt es da zu verstehen?
Sie lacht noch einmal kurz auf und macht sich nichts daraus, dass die Bedienung sie etwas fragend anschaut. Soll sie doch denken, was sie will, es ist ihr gleichgültig. Dann steht sie auf und macht sich auf den Weg zur Buchhandlung. Sie hat Katharina einiges zu erzählen, und sie ist gespannt darauf, wie Katharina auf ihre Erzählungen reagieren wird.
Wo ist er? In seinem Zimmer? In seinem Zimmer! Er wird ihren Brief jetzt vorgefunden haben, er wird ihn mehrmals lesen und überlegen, wie er auf diesen Brief antworten soll. Eine leichte Unruhe wird ihn befallen, vielleicht wird auch er ein Glas Sekt trinken, aber nein, keinen Sekt. Keinen Sekt, etwas anderes. Und was? Er wird am Fenster stehen und hinaus auf die im Sonnenlicht vibrierende Landschaft schauen. Die Kiefernbäume, die Flöte, die Wildgänse.