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ER NIMMT den Weg durch das Foyer, doch als er sieht, dass Lea noch immer an der Rezeption im Einsatz ist, geht er direkt auf sie zu. Er fragt sie, ob sie ihn für einen Moment nach draußen, ins Freie, begleiten könne, und er ist erleichtert, dass sie weder erstaunt ist noch nachfragt, warum sie das tun soll, sondern einfach hinter ihrem leicht geschwungenen Tisch hervorkommt und ohne ein weiteres Wort mit ihm nach draußen geht.
Er erzählt ihr, dass er bereits kurz nach seiner Ankunft eine junge Frau im Pool des Hotels habe schwimmen sehen, ausgiebig und konzentriert und dabei doch locker und vollkommen entspannt. Dann fragt er Lea, ob sie eine Ahnung habe, wer das gewesen sein könne.
Ja, aber sicher, Lea hat nicht nur eine Ahnung, sondern weiß ganz genau, dass es sich bei der Schwimmerin um Jule Danner gehandelt haben muss. Jule Danner ist, wie Lea weiter weiß, ebenfalls an diesem Vormittag hier im Hotel eingetroffen und ohne Zögern schwimmen gegangen, Jule geht nach jeder Ankunft in diesem Hotel sofort schwimmen, sie schwimmt auch tagsüber mehrmals in den verschiedenen Pools des Hotels, fast alle Angestellten wissen, dass sie auf Schwimmen geradezu versessen ist.
Er fragt, ob sie eine Sportlerin sei, aber Lea verneint das. Nein, sie sei keine Sportlerin, das nicht, niemand wisse aber im Grunde genau, welchen Beruf sie ausübe, sie habe nie darüber gesprochen und natürlich stehe es den Angestellten nicht zu, sie danach zu fragen. Er will von Lea weiter wissen, ob sie denn eine Vermutung habe, da antwortet sie, sie vermute, Jule sei eine Journalistin oder Fotografin. Jedenfalls habe sie Jule Danner schon mehrmals mit einem Aufnahmegerät, einer Kamera oder einem Fotoapparat im Freien gesehen, und das lasse sie eben vermuten, dass Jule an Artikeln oder Reportagen arbeite, vielleicht sogar an Artikeln über dieses Hotel.
Es beruhigt ihn sehr, mit Lea über die Schwimmerin zu sprechen, er hat dabei das Gefühl, sich der Fremden auf eine angemessene, vorsichtige Weise zu nähern, nein, er überstürzt nichts, er will sich nur ein genaueres Bild machen und der Faszination, die ihn nicht loslässt, einen Hintergrund geben.
Er geht mit Lea zurück ins Hotel, er dankt ihr für die Informationen und fügt noch hinzu, dass sie seine Nachfragen vertraulich behandeln solle. Dann aber entschließt er sich, auch noch die letzte, ihn beschäftigende Frage zu stellen, die Frage nach Jules Zimmernummer. Die dürfe sie ihm eigentlich nicht geben, antwortet Lea leise, aber dann schleicht sie hinter ihre Rezeptionstheke, schaut kurz nach und schreibt eine Nummer auf einen Zettel, den sie ihm ohne weiteren Kommentar zuschiebt.
Er schaut auf den Zettel, einen Moment lang kann er gar nicht fassen, so unkompliziert an eine wichtige Auskunft gekommen zu sein. Etwas hilflos steckt er den Zettel ein, verbeugt sich kurz, sagt aber nichts mehr, sondern geht durch das Foyer zum Lift. Er drückt den Liftknopf und lässt sich dann in das Stockwerk fahren, in dem sich das Zimmer der schönen Schwimmerin befinden muss.
Eine Journalistin? Eine Fotografin? Ja, das hält auch er für möglich. Er kann sich aber nicht vorstellen, dass sie ihre Tage in einem Redaktionsbüro oder an einem anderen festen Arbeitsplatz verbringt, nein, er ist davon überzeugt, dass sie viel unterwegs ist, ja, er kann sich gut vorstellen, wie sie große Städte durchstreift und durchwandert, immerzu auf einer neugierigen und hellwachen Suche nach etwas Besonderem. Seltsam ist nur, dass er sich keine Begleitung für sie vorstellen kann, in seinen Phantasien ist sie allein unterwegs, allein, ganz allein. Plötzlich denkt er das mit starker Betonung, als müsste er es sich eintrichtern oder sich versichern, dass es so ist. So ist es, es ist bestimmt so, denkt er dann sogar immer wieder, er versteht nicht, was in ihn gefahren ist. Entwirft er ein Bild, so, wie es ihm gerade passt? Oder lassen seine ersten, noch flüchtigen Eindrücke wirklich den begründeten Schluss zu, dass sie allein lebt und viel unterwegs ist? Gerade diese Vermutung, denkt er weiter, trägt einiges dazu bei, dass er sich so stark für sie interessiert, ja, das stimmt, aber diese Phantasien über ihr Alleinsein reichen noch weiter, denn sie gaukeln ihm vor, dass sie den richtigen Begleiter noch nicht gefunden habe, und sie lassen ihn sogar davon träumen, dass genau er und niemand anderes dieser Begleiter sein könnte, ja sogar sein müsste. Dabei macht sie überhaupt nicht den Eindruck, unbedingt einen Begleiter nötig zu haben, ganz im Gegenteil, sie macht einen durch und durch selbständigen, souveränen Eindruck, als passe das Alleinsein zu ihr und als sei sie nicht aus einer Schwäche, sondern aus einer Stärke heraus allein. Also was nun und wie? Seine Gedanken bewegen sich im Kreis, er kommt nicht recht voran, einerseits beeindruckt ihn ihre offenkundige Selbständigkeit, andererseits stellt er sich vor, dass ausgerechnet er die richtige Person sein könnte, dieser Selbständigkeit noch einen neuen, starken Akzent hinzuzufügen. Für wen hält er sich eigentlich?
Als er sich ihrer Zimmertür nähert, sieht er plötzlich, dass die Tür weit offen steht. Er verlangsamt seinen Schritt, er kann sich nicht vorstellen, dass Jule Danner ihre Mittagsmahlzeit unterbrochen hat, nein, das wird auch nicht so sein, denn er erkennt jetzt einen kleinen Wagen mit Getränken, der etwas im Abseits, in der Nähe der Tür, steht. Anscheinend ist eine der Hotelangestellten dabei, die Getränke der Minibar nachzufüllen, er nähert sich vorsichtig der geöffneten Tür und schaut dann hinein in das große Zimmer, ja, richtig, die Minibar wird gerade nachgefüllt, genau, wie er es sich gedacht hat.
Er grüßt die junge Frau und bleibt in der Tür stehen, er unterhält sich mit ihr und schaut dabei in das Zimmer, um sich möglichst viele Details einzuprägen. Auf dem Schreibtisch entdeckt er ein Aufnahmegerät, daneben steht ein großes Wasserglas zusammen mit einer wohl vor Kurzem geleerten kleinen Sektflasche. Weiter rechts liegt eine dicke, mit einem großen Stapel Schreibpapier gut gefüllte Schreibmappe, einige Briefumschläge quellen aus ihr heraus, das Ganze macht einen irgendwie satten, üppigen Eindruck, wie auf einem Stilleben eines barocken Meisters.
Das breite Bett wird von einem hellgrünen Bademantel mit weit ausgebreiteten Ärmeln bedeckt, es sieht beinahe so aus, als hätte dieser leblose Gegenstand menschliche Züge und wartete begierig darauf, jemanden umarmen zu dürfen. Weiter bemerkt er zwei Koffer, eine große Reisetasche und eine schmale Aktentasche, er ist sich jetzt ganz sicher, dass Jule Danner eine leidenschaftlich Reisende ist, eine Frau auf Reisen, wie er es insgeheim nennt, um dann noch zu ergänzen, dass sie eine allein reisende Frau auf Reisen ist, kein Begleiter hat je diese Koffer und Taschen getragen, nein, ganz ausgeschlossen, sie würde niemand anderem den Zugriff auf diese Gegenstände gestatten.
– Wonach riecht es denn hier? fragt er die junge Hotelangestellte.
– Es riecht nach Pfirsich, antwortet sie.
– Stimmt, das ist Pfirsich, sagt er verwundert und fragt die junge Frau, ob sie Jule Danner kenne.
– Ja, antwortet sie, ich weiß, wen Sie meinen, aber ich habe noch nie mit ihr gesprochen.
– Ich möchte ihr eine Nachricht hinterlassen, sagt er und fragt nach, ob es möglich sei, dass er einen Zettel auf dem Schreibtisch hinterlege.
– Ja, antwortet die junge Frau, warum nicht? Soll ich Ihnen ein Blatt Papier geben?
– Neinnein, vielen Dank, sagt er, ich habe Papier dabei, ich notiere die Nachricht kurz und Sie legen den Zettel dann auf den Tisch. Ist das in Ordnung?
– Natürlich, antwortet die junge Frau, geben Sie mir den Zettel, ich lege ihn dann auf den Schreibtisch.
– Ja genau, antwortet er, legen Sie ihn auf den Schreibtisch, und legen Sie ihn bitte auf die Mappe mit den Briefbögen.
– In Ordnung, sagt die junge Frau und beginnt selbst, auf einem Formular die Getränke zu notieren, die sie gerade in die Minibar gestellt hat.
Er nimmt sein Notizbuch aus der Jackentasche und presst es gegen sein rechtes Knie. Gebückt, tief nach unten gebeugt, schreibt er:
Feldsalat mit Steinpilzen. Stockfisch mit gegrilltem Gemüse. Ein großes Helles.
Ein Espresso. Und ein Gespräch – aber worüber?
Er reicht der jungen Angestellten die Notiz und gibt ihr ein kleines Trinkgeld.
– Das wäre nicht nötig gewesen, sagt sie.
– Doch, sagt er, das geht schon in Ordnung. Sie haben mir geholfen, ganz einfach und unkompliziert. Vielen Dank!
Er wendet sich ab und geht den schwach erleuchteten Flur zum Lift zurück. Er fährt hinunter in das Stockwerk, in dem sich sein eigenes Zimmer befindet. Es kommt ihm so vor, als spielte seine mächtig arbeitende Phantasie jetzt mit ihm verrückt, denn er glaubt fest, nach dem Öffnen seiner Zimmertür, einen hellgrünen Bademantel auf seinem Hotelbett vorzufinden: mit weit ausgebreiteten Armen!
Er schwitzt etwas, er wischt sich mit den Fingerkuppen die Stirn, und sofort ist das Bild der feinen Schweißperlen da, die er auf der Stirn der schönen Schwimmerin entdeckt hat, als sie gemeinsam den Lift benutzten. Ich bin etwas verrückt, flüstert er und schüttelt den Kopf. Seit er in diesem Hotel eingetroffen ist, hat ein unheimlicher Zauber von ihm Besitz ergriffen, längst ist er nicht mehr ganz Herr seiner selbst, nein, er ist nur noch Teil einer verwirrenden Geschichte, an der ein anderer oder etwas anderes schreibt. Ja, wahrhaftig, er kommt sich vor wie eine Romanfigur, deren Bewegungen von einem fernen Erzähler gelenkt und bestimmt werden. Ach was, so ein Unsinn! Natürlich hat er die Geschichte im Griff, jederzeit kann er aussteigen, jederzeit kann er seine Sachen packen und dieses Hotel verlassen!
Aber warum denkt er an Aufbruch und Abfahrt? Denkt er etwa an eine Flucht? Ist es schon so weit mit ihm, dass er sich vor der Schwimmerin zu fürchten beginnt und dass sie ihm unheimlich wird? Ja, so weit ist es anscheinend bereits, aber gerade weil es bereits so weit ist, könnte er der Sache auch eine andere Richtung geben: Vielleicht befreit ihn diese Geschichte Schritt für Schritt von all den Gedanken und Befürchtungen, mit denen er hierhergekommen ist, vielleicht ist diese Geschichte dazu bestimmt, ihn abzulenken oder sogar einige der Fragen zu beantworten und ein paar jener Probleme zu lösen, mit denen er sich nun schon so lange herumgeschlagen hat.
Er öffnet die Tür seines Hotelzimmers und schaut sofort auf sein Bett. Na bitte, kein dunkelgrüner Bademantel, nichts davon, ein Stückchen Vernunft und Klarheit sind ihm also immerhin noch geblieben! Er setzt sich an den Schreibtisch und öffnet den Laptop. Nach einer Weile tippt er den Namen von Katharinas Mann in das Suchfeld einer Suchmaschine und widmet sich dann den Links, die auf dem Bildschirm erscheinen. Er geht sie kurz durch und speichert die Informationen in seinem Gedächtnis. Katharinas Mann ist also vor etwa drei Jahren gestorben, sogar das genaue Datum ist zu finden und außerdem die genaue Todesursache: Herzversagen. Er stöbert noch ein wenig in den verschiedensten Artikeln und Nachrichten herum, dann rekapituliert er: Katharinas Mann Georg ist an einem plötzlichen Herzversagen gestorben, es war während eines Aufbruchs zu einer Reise nach London, anscheinend ist er in einem Taxi gestorben, völlig unerwartet.
Katharina und Georg scheinen keine Kinder gehabt zu haben, jedenfalls ist von Kindern nirgends die Rede. Sonderbar, dass er mit Katharina nie darüber gesprochen hat, sie haben nie über ihren Mann oder über etwas Familiäres gesprochen, nein, sie haben sich nie allzu privat unterhalten. Aber worüber haben sie sich dann unterhalten? Über Bücher, vor allem darüber, und dann und wann über das, was Katharina meist Das Aktuelle vom Tag genannt hat. Das Aktuelle vom Tag – das waren neue Nachrichten von Theateraufführungen, Musik oder auch Filmen. Katharina mag es sehr, sich mit ihm darüber zu unterhalten, und vor allem mag sie es, seine Meinung zu hören. Na los, raus damit! sagt sie in solchen Fällen, und dann freut sie sich, wenn er mit einer möglichst eindeutigen und prononcierten Meinung auftrumpft, mit ein paar zupackenden Sätzen, mit etwas Forschem oder Harschem, mit ein paar Bemerkungen, die sie zum Lachen bringen oder ihren Widerspruch provozieren.
Mit niemandem hat er sich so gestritten wie mit Katharina, sie haben es beide immer genossen, das heftige, scharfe Streiten, das Auf-die-Spitze-Treiben eines Disputs, und sie haben dabei oft Tränen gelacht, weil sie das Ganze immer auch als eine Inszenierung begriffen haben, als theatralische Szene, als große Bühne, Oper, als Schlachtfest der Worte!
Er hält inne und starrt auf den Bildschirm. Warum eigentlich hat er jetzt gerade begonnen, einige Auskünfte über Katharinas Mann einzuholen? Vielleicht, weil er auf diesem Weg einer Spur folgt, die zu Katharinas Privatleben führt. Und warum interessiert ihn plötzlich dieses Privatleben, das ihn doch früher nie interessiert hat, um seine Verbindung zu Katharina damit nicht zu belasten? Es interessiert ihn, weil er den Verdacht nicht los wird, dass Jule Danner mehr ist als Katharinas gute Bekannte. Gerade eben, im Hotelflur, auf dem Weg zu ihrem Zimmer, hatte er einen Moment sogar den Verdacht, sie könne Katharinas Tochter sein, so verwandt und miteinander vertraut erschienen ihm die beiden. Anscheinend ist das nun aber doch eine falsche Fährte, ja, er hat sich wohl etwas vorgemacht, oder besser, die Szene draußen im Freien hat ihm wohl etwas vorgemacht.
Er nimmt sich vor, Katharina möglichst bald danach zu fragen, ob sie Kinder hat, hier draußen in der Einsamkeit herrschen andere Regeln und Gesetze, hier geht es nicht um Das Aktuelle vom Tage, sondern hier geht es um Tieferes, um die letzten Geheimnisse! Er lacht kurz auf, als er das denkt, er kommt sich wahrhaftig wie ein Spurensucher auf labyrinthischen Wegen vor, und er glaubt jetzt zu ahnen, dass diese Wege letztlich auch etwas mit ihm zu tun haben. Das alles ist aber vorläufig noch reine Spekulation, ja er weiß nicht einmal, was er als Nächstes tun könnte, um die labyrinthischen Wege ein wenig mehr zu erhellen. Er nimmt sich vor, auch weiterhin nichts zu übereilen, sondern Schritt für Schritt vorzugehen und dabei seiner Intuition zu folgen.
Langsam greift er wieder nach seinem Notizbuch, fährt den Laptop herunter, schiebt ihn beiseite und notiert: Katharinas Mann Georg ist vor etwa drei Jahren an plötzlichem Herzversagen gestorben. Anscheinend passierte das alles in einem Münchener Taxi, während eines Aufbruchs zu einer Reise nach London. Kurze Zeit später habe ich zum ersten Mal ihre Buchhandlung besucht. Sie trug wochenlang Schwarz, aber ich habe mir nichts dabei gedacht. Ich habe gedacht, sie möge Schwarz, ich habe damals gedacht, Schwarz sei ihre Farbe.
Er sitzt noch eine Weile still am Schreibtisch und liest in den Notizen, die er sich seit seiner Ankunft in diesem Hotel gemacht hat. Das liest sich beinahe wie eine Geschichte, denkt er, aber ich verstehe noch nicht, wie ihre Figuren miteinander zusammenhängen. Darum sollte ich mich als Nächstes kümmern, ja, ich sollte versuchen, etwas über diese Zusammenhänge herauszubekommen.
Er steht auf und geht ans Fenster. Durch den dünnen Vorhang blickt er hinunter auf die weiß gedeckten Tische und die orangefarbenen Sonnenschirme. Katharina sitzt jetzt allein am Tisch, anscheinend hat Jule Danner die Mahlzeit bereits beendet. Er steckt das Notizbuch in seine Tasche, zieht die Jacke über und verlässt sofort den Raum.