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ER STEHT am Fenster seines Hotelzimmers. Draußen wird es langsam dunkel, die Spitzen des Gebirgsmassivs ziehen sich hinter die dunkelgrünen Wälder zurück und verblassen, und das starke, monochrome Grün der welligen Wiesen löst sich in der Dämmerung auf und verschwimmt.
Er denkt an die Lektüren, die er mit nach München bringen wird. Anfangen wird er mit Katharinas Aufzeichnungen, er wird sie mehrmals lesen, langsam und gründlich, und er wird sie später in kurze Bruchstücke zerlegen und diese Bruchstücke dann wieder zu einer fortlaufenden Erzählung zusammensetzen. Was Katharina dagegen über die Begegnungen mit ihm notierte, wird er zunächst separat lesen und später einmal auch Jule zu lesen geben. Vielleicht helfen ihm ihre Eindrücke, den Menschen, der er einmal gewesen sein soll, besser zu verstehen. Irgendwann wird er versuchen, auch diese Texte umzuschreiben und sie neu zu arrangieren, er wird sich dafür aber Zeit lassen und sich vorher ausgiebig mit dem »Archiv seiner Kindheit« beschäftigen.
Er freut sich, morgen mit so vielen guten Projekten nach München zurückzukehren, die Blockade, mit der er in dieses Hotel gekommen war, ist längst überwunden. Blockaden entstehen anscheinend, wenn der Kontakt und die Nähe zu Themen und Dingen verlorengegangen sind, dann nämlich schreibt man ins Leere, und das Geschriebene hat keinerlei Verbindung mehr zu den eigenen Wahrnehmungen und Gefühlen. Sätze aufzuschreiben, die nicht durch die eigenen Gefühle gestützt und von ihnen getragen werden, führt nicht weiter. In solchen Notfällen ist es am besten, mit der Beschreibung der erstbesten Details zu beginnen, zu denen zumindest noch eine geringe Gefühlsbeziehung besteht.
Ohne es zu ahnen, hat er das während dieses Hotelaufenthaltes genau richtig gemacht. Wer ist diese Schwimmerin? – eine so schlichte Frage fixierte sein Interesse an einem solchen Detail. Es bestand zunächst nur als Interesse an einigen farblichen Reizen und an gekonnter, gezielter Bewegung, dann aber vergrößerte es sich und entpuppte sich schließlich als gesteigertes Interesse an einem Körper und an einer Person, die er von da an nicht mehr aus den Augen verlor.
Er setzt sich an den Schreibtisch und notiert noch einige weitere Überlegungen, die ihm dazu durch den Kopf gehen. Er schreibt ruhig, aber rasch mit der Hand, den Laptop hat er vorher geschlossen und beiseitegestellt. Als er fertig ist, nimmt er zwei Zitronen aus der Schale mit Früchten und durchschneidet sie mit dem Obstmesser. Er drückt ihren Saft in die Karaffe mit frischem Wasser und schaut zu, wie der trübe Saft sich in kleinen Wolken und Schlieren in der glasklaren Flüssigkeit ausbreitet. Er trinkt aber noch nicht, sondern nimmt sich vor, zunächst das Zimmer aufzuräumen und bereits die Koffer und Taschen für den Aufbruch morgen früh zu packen.
Er geht ins Bad und räumt die dort liegen gelassenen Utensilien zusammen. Dann geht er in das große Zimmer und widmet sich dem Schreibtisch. Wenn er gleich hinunter ins Foyer und weiter ins Gartenhaus geht, möchte er ein fast leeres, komplett aufgeräumtes Zimmer zurücklassen, das so aussieht, als würde es nicht mehr benutzt. Er hat mit diesem Zimmer abgeschlossen, im Grunde ist er kein Hotelgast mehr, innerlich ist er bereits aus dem Hotel ausgezogen.
Als er mit den Aufräumarbeiten und dem Packen fertig ist, stehen sein Koffer, seine Reisetasche und die Kiste mit Unterlagen und Arbeitsgeräten im dunklen Eingangsbereich des Zimmers. Er trägt eine schwarze Hose, ein dünnes, weißes Hemd mit kurzen Ärmeln und flache, leichte Schuhe. Er geht noch einmal ans Fenster und schaut lange hinaus. Der allmähliche Übergang des Abends zur Nacht, die Einschwärzung der Erde, die Vertiefung der Schatten, das Verschwinden der großen Volumina – er verfolgt diese unmerklichen Bewegungen und trinkt währenddessen das kühle Zitronenwasser. Die Frische des Wassers, die leichte Säure – ein Vorgeschmack der tiefen Nacht.
Schließlich schaut er sich noch einmal in dem großen Raum und im Bad um, dann verlässt er das Zimmer und geht ins Foyer. Das Foyer wirkt verlassen und still, nur eine einzige Frau steht hinter der Rezeption und ordnet Papiere, ohne sich weiter um ihn zu kümmern. In den Restaurants wird längst gegessen, er hört jetzt das konstante Rumoren der Tischgesellschaften, von denen die meisten ihr letztes Menü genießen, bevor sie morgen früh wieder in alle Richtungen aufbrechen. Dann macht er sich auf den Weg ins Gartenhaus.
Als er die große Freifläche und die anschließenden Wiesen erreicht hat, sieht er, dass der kleine Raum anscheinend von Kerzen oder Öllampen erhellt wird, das Licht flackert jedenfalls so durch die Fenster, dass er eine solche Beleuchtung vermutet. Er geht entspannt auf das Haus zu und bemerkt, dass einige der Möbel draußen stehen. Der Schreibtisch, der runde Esstisch und ein Korbsessel befinden sich jetzt rechts vom Gartenhaus und bilden dort eine fast rührende Trias. Die Tür des Hauses steht offen, er geht aber nicht sofort hinein, sondern bleibt im Eingang stehen, weil ihn der Anblick des Raumes verblüfft.
Das Zimmer hat sich stark verändert, es wirkt jetzt nicht mehr wie ein kleiner Wohnraum, sondern wie ein weiter, offener Raum, in dem sich kaum noch größere Gegenstände befinden. In seiner Mitte ist auf dem Boden eine Schlafstätte aufgebaut, in deren Nähe zwei sehr niedrige, runde Tische mit Obst, Käse, winzigen Broten und Weinkaraffen stehen. Das Obst und der Käse sind bereits geschnitten und in kleine Portionen zerlegt, und in den Karaffen leuchten ein weißer und ein dunkelroter Wein, während die größte Karaffe anscheinend mit frischem Wasser gefüllt ist. Die altjapanische Musik im Hintergrund ist sehr leise und erst richtig zu hören, wenn man den Raum betritt und sich auf sie konzentriert.
Wo aber ist Jule? Er überlegt nicht weiter, sondern streift die Schuhe ab und nimmt auf der Schlafstätte Platz. Er schaut sich noch einmal genau um und betrachtet das Obst und die vielen Sorten Käse. Er überlegt sich, wovon er als Erstes probieren wird, dann legt er sich mit dem Rücken auf die sehr breite und bequeme Schlafstätte und blickt gegen die Holzdecke.
Es dauert nur wenige Minuten, bis Jule erscheint. Sie bringt zwei große Kissen mit, die sie in der frei gewordenen, linken Hälfte des Raumes auf dem Boden dicht nebeneinander platziert. Dann geht sie zu ihm und reicht ihm eine Hand, um ihn von der Schlafstätte hochzuziehen. Er geht auf das Angebot ein, und als sie dicht voreinander stehen, legt sie ihre beiden Arme um seinen Hals und gibt ihm einen Kuss. Er umarmt sie ebenfalls und küsst sie, sie küssen sich aber nicht wie zwei, die sich nach langer Zeit wiedersehen, sondern wie zwei, die nur kurz voneinander getrennt waren und sich nun wieder begrüßen. Ihre wohltuend warmen Lippen schmecken etwas nach Küche und fremden Speisen, und ihr Körper wirkt leicht und geschmeidig, als käme sie direkt von einer ihrer Schwimmorgien. Er fühlt sich ebenfalls leicht, und sein Körper ist ihr vollkommen zugetan, es gibt nur noch die schöne Gegenwart der Berührung und des gegenseitigen, starken Kontakts.
Nach der Begrüßung kümmert sie sich um das Essen. Sie stellt die beiden niedrigen Tische dicht nebeneinander, legt auf mehrere Teller kleine Portionen mit Käse und Obst und füllt einige schmale Bastkörbe mit den kleinen Broten. Dann schenken sie sich gegenseitig etwas Wein und Wasser ein, eine Weile sind sie damit beschäftigt, lauter Gläser zu füllen. Das Obst, der Käse, das Brot, der Wein und das Wasser – all das bildet schließlich ein großes Ensemble von Tellern und Gläsern, die den Eindruck erwecken, als wäre für eine größere Tischgesellschaft gedeckt. Er betrachtet das schöne Bild einen Moment, ja, er hat verstanden, diese Mahlzeit ist so vorbereitet, dass man sich von allem jederzeit einen Bissen oder einen Schluck nehmen kann.
Sie rückt die beiden großen Kissen in die Nähe der gedeckten Tische, dann geht sie zum Schrank und holt zwei Kimonos heraus. Sie reicht ihm einen dunkelroten und geht etwas zur Seite, um sich zu entkleiden und ihren Kimono überzustreifen. Er zieht sein Hemd und die Hose aus und zieht ebenfalls den Kimono an, dann nimmt er auf einem der Kissen Platz, während sie die beiden Öllampen, die bisher in den beiden hinteren Winkeln des Raumes brannten, etwas näher an den Essplatz heranrückt.
Sie beginnen mit einem Schluck Wein, sie stoßen mit ihren Gläsern an, er sieht, wie hellwach und entspannt ihr Gesicht ist, sie schaut ihn an und lächelt, die Freude über das, was hier geschieht, ist so deutlich erkennbar, dass er sofort zurücklächeln muss. Einen kurzen Moment ist die starke Versuchung da, endlich ein Wort zu sagen, doch als er den Wein trinkt, konzentriert er sich auf diesen Geschmack und hält sich weiter an die Regeln.
Ihre Bewegungen sind jetzt sehr ruhig, jeder nimmt sich von Käse, Brot und Obst, sie essen und trinken sehr langsam, während im Hintergrund die Klänge der altjapanischen Musik zu hören sind. Schaut man durch die Fenster der Vorderfront, ist das Raster der vielen schwach erleuchteten Fenster des Hotels zu erkennen, unten, im Erdgeschoss, macht sich dagegen ein heller Lichtstrom breit, der einen ganzen Flügel des Hotels grundiert. Es kommt ihm aber nicht so vor, als stünde das Gartenhaus mit dem Hotel in Verbindung, nein, im Gegenteil, er hat das Gefühl, als rückte es mit zunehmender Dunkelheit auf Distanz zu den großen Gebäuden.
Sie essen und trinken eine Weile, sie geben sich ganz diesem Genuss hin, reichen sich gegenseitig von den Speisen und schenken nach. Die Leere des Zimmers, das Sitzen auf den großen Kissen, die auf dem Boden ausgebreitete Schlafstätte – das alles macht den Eindruck eines intimen japanischen Raumes, der nie von mehr als zwei Menschen benutzt und bewohnt wird. Schöne Einfachheit, denkt er, dieser Raum ist genau der richtige für unsere Begegnung, seine Leere belässt alles in der Schwebe.
Die Blumen hat sie aus dem Zimmer entfernt, ja, auch das ist richtig, denn jetzt ist dieses Zimmer nicht mehr der morgendliche oder mittägliche Raum der großen Mahlzeiten, sondern ein Raum der sich in der Nacht verlierenden Berührungen. Das Kosten, das Tasten, das Lauschen – sie hat es wahrhaftig geschafft, eine so konzentrierte und dichte Atmosphäre zu schaffen, dass man von nichts mehr abgelenkt wird.
Als sie gegessen haben, rückt sie die niedrigen Tische noch mehr in den Hintergrund und schenkt noch einmal Wein nach. Sie trinken beide fast zugleich einen Schluck, und sie nehmen sich beide zugleich an den Händen und wechseln dann rasch hinüber zur Schlafstätte.
Sie legen sich nebeneinander auf das große Rechteck, das von mehreren Decken und Kissen bedeckt ist. Sie achten darauf aber nicht, sondern strecken sich aus und schmiegen sich eng aneinander. Sie hält seinen Kopf mit beiden Händen, nähert sich aber nicht mit ihren Lippen, sondern schaut ihn nur aus geringer Entfernung an, ohne sich zu bewegen. Er sieht, wie ihr Blick sein Gesicht jetzt erforscht, und er hält still, während er selbst ganz aus der Nähe nun ihr blondes Haar und die leicht rötlichen Haaransätze erkennt. Dann führt sie ihre Lippen in unendlich langsamer, gedehnter Bewegung an seine Stirn.
Er spürt diese Berührung wie einen Schock, sie küsst seine Stirn, gleitet mit ihren Lippen dann aber weiter bis zu seinem Hals, während ihre beiden Hände weiter seinen Kopf halten. Er schließt die Augen und sieht sie trinken, sie trinkt seine Haut. Es ist etwas unendlich Befreiendes in diesem Gefühl, es ist, als kehrte sie mit jedem vorsichtig tastenden Kuss und mit jeder Berührung sein Innerstes ein wenig mehr nach außen. Nichts mehr denken, nur noch blicken und schauen …, wie die Schutzschicht der Haut sich in ein feines, poröses Gewebe verwandelt und die Adern plötzlich wieder zu spüren sind. Das Strömen des Bluts, der tiefer werdende Atem – als würden alle Lasten endlich verschwinden.
Er öffnet die Augen wieder und nimmt nun auch ihren Kopf in beide Hände, er berührt ihre Stirn und die dünne, glatte Haut unter den Augen mit seinen Lippen, dann öffnet er den Gürtel ihres Kimonos und gleitet mit einer Hand unter den sich aufwölbenden Stoff. Sie rührt sich nicht, wie erstarrt spürt sie den Bewegungen seiner Hand nach, die zu ihrem Rücken gleiten und ihn abtasten.
Er spürt, wie ein leichter Wärmezug zwischen ihren nackten Körpern entsteht, er schlägt seinen Kimono noch weiter zurück und führt ihre Körper dicht zueinander. Sie berühren sich, da durchfährt ihren Oberkörper ein Zucken, sie atmet tief durch und seufzt einmal kurz auf, dann reagiert sie schnell mit beiden Armen und umschlingt seinen Rücken so fest, dass er vor Überwältigung rascher zu atmen beginnt.
Die Bilder erreichen nun ein schnelleres Tempo, er sieht ihre vibrierenden Lippen und die feuchten Haarlocken, die auf ihre Stirn fallen, eine feine Ader an ihrem Hals pocht, und ihre Hände fassen immer wieder von Neuem nach seinem Rücken, als wollten sie ein immer größer werdendes Gelände zu fassen bekommen.
Auch seine Küsse werden rascher, als müssten sie die Körper für den immer intensiveren Kontakt präparieren: nichts auslassen, alles benetzen. Für einen Moment kann er sich nicht vorstellen, sich jemals wieder von diesem anderen Körper zu trennen, wie muss sich das anfühlen, sich wieder zu separieren und den Gedanken und Überlegungen langsam wieder Raum zu geben?
Im schwarzen Hintergrund der Nacht glaubt er einige ferne Bilder zu sehen, er erinnert sich an Bildsequenzen japanischer Holzschnitte, auf denen die nackten Körper unter schweren Drapierungen von Kleidern oder Decken versteckt waren und nur das Mienenspiel der Gesichter den Grad der Erregung verriet. Das Matterwerden der weiblichen Wangen, das heftige Verschließen der Augen wie kurz vor einem starken narkotischen Schlummer, der gestreckte, dünner werdende Hals, fiebernd wie der Hals eines Vogels, der sich zum Himmel reckt …
Da bemerken sie beinahe zugleich, wie der letzte Halt, den es in diesem Raum noch zu geben schien, nachgibt, die schwingenden, klirrenden Töne der Musik verebben, und eine große Stille breitet sich aus. Keine Klänge, keine Speisen mehr, die Zeit der Präparationen ist nun endgültig vorbei, ihre Körper sind nun ganz mit sich allein und wälzen sich wie in plötzlicher Gelöstheit und Verzückung auf dem breiten Lager.
Er sieht, wie sie ihre Beine spreizt und mit einer kurzen, raschen Bewegung seinen Rücken zu klammern beginnt, sein Oberkörper wird gehalten und ein wenig gedehnt, bleibt aber federleicht, als hielte sie ihn in einer luftigen Schwebe. Er stützt sich mit beiden Händen auf die Erde, damit sein Gewicht sie nicht belastet. Er sieht, wie empfänglich sie ist für diese unendlich sanfte Berührung der beiden Oberkörper, er konzentriert sich ganz auf diesen Kontakt und spürt, wie sie sich mit jeder kleinen Regung stärker ineinander verketten. Die Dehnung ihrer Waden, die Wölbung seines Rückens – die Ballung seines Oberkörpers, die Straffheit ihrer Brust.
Sie halten einen langen Moment inne, als wollten sie diese Anspannung regungslos und erstarrt erleben, sie lassen die Körper treiben … – als er erneut die Bilder der uralten Szenen erinnert. Die Leere eines altjapanischen Raumes, die ausschließliche Fixierung der Liebenden auf die Bewegungen ihrer Körper … – wie sie diese Bewegungen langsam und allmählich vorantreiben, wie sie ihre Bewegungen studieren und auf jeden Reflex eingehen!
Er dreht sich zur Seite und legt sich erneut dicht neben sie, er möchte ihr Gesicht wieder ganz nahe betrachten. Die großen Augen, den leichten Flaum über den breiten Lippen, die Haarsträhnen hinter den Ohren, das Zucken der Halsader, den dünnen, glänzenden Schweißfilm auf einer Seite des Halses. Er fährt mit seiner Zunge über ihren Hals, dann küsst er sie auf die Lippen. Ihre Zungen berühren sich, es ist, als schlügen sie leicht gegeneinander.
Erneut ein abruptes Erschrecken, ein Innehalten, eine Erstarrung. Minutenlang nur dieser Tanz der Zungen, ihr Nachfassen, ihre Panik.
Dann zum letzten Mal die uralten Bilder: Wie die Drapierungen der Kleider und Decken sich schließlich öffnen und die Unterleiber sich wie gescheckte Lemuren aus dieser Öffnung herausschälen, um das Spiel zu vollenden.