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ALS ER das Gepäck ausgepackt und alles in den Schränken und im Badezimmer untergebracht hat, wirft er noch einen letzten Blick auf den großen Schreibtisch. Der Laptop ist geöffnet und angeschlossen, steht aber ganz am linken Rand, während sich in der Mitte des Tisches ein Stoß weißer Blätter befindet, neben dem unzählige Stifte und mehrere Füller in Reih und Glied liegen. Am anderen Rand des Tisches aber sind Bücher und einige schwarze Notizkladden untergebracht, er schaut sich das alles an, als hätte nicht er selbst dieses Bild komponiert, sondern ein Fremder, dessen Arbeit er begutachten müsse. Schließlich steckt er eines der Notizhefte in die rechte Tasche seiner Jacke und nimmt noch zwei Stifte zum Schreiben mit: einen Bleistift und einen Kugelschreiber. Dann verlässt er sein Zimmer und geht hinunter ins Erdgeschoß, wo er sich auf die Suche nach der Buchhandlung begibt.
Wie schon bei seinem ersten Aufenthalt in diesem Hotel irrt er zunächst wieder ein wenig herum, weil er den Plan der Anlage noch nicht im Kopf hat. Das Ganze hier hat etwas Labyrinthisches, in dem er sich erst wieder zurechtfindet, wenn er alle Stockwerke einmal durchlaufen hat. Diesmal kommt er in der Lobby des Erdgeschosses an, wo die jungen Frauen an der Rezeption ihn etwas ratlos anstarren, weil er dort stehen bleibt und sich umschaut. Rasch tut er so, als betrachte er eines der Bilder an den Wänden, dann geht er vorsichtig weiter um eine Ecke und trottet dann leicht verlegen den Gang entlang. Er weiß wahrhaftig nicht, wo er jetzt landen wird, erst als er erneut um eine Ecke biegt, begreift er, dass er den richtigen, direkten Weg gewählt hat, denn nun sieht er von ferne bereits die großen Glasscheiben der Buchhandlung, die in einem der langen Hotelflure untergebracht ist.
Er geht langsamer und bleibt dann einen Moment stehen, er genießt es, Katharina, die Buchhändlerin, wiederzusehen, wie sie da in ihrem Lehnstuhl in einer eher dunkleren Ecke der Buchhandlung neben einem kreisrunden Tisch unter einer an einem Regal angebrachten Leselampe sitzt. Sie trägt ein langes, dunkelrotes Kleid, die schwarzen Haare hat sie hochgebunden, zum Lesen benutzt sie eine kleine, ebenfalls schwarze Brille, aber sie ist so in ihr Buch vertieft, dass sie nicht einmal aufschaut, als er den Raum betritt.
Er sagt zunächst nichts, er bleibt im Eingang stehen und schaut sie weiter an, sie ist eine schöne, bereits ältere Frau mit einem markanten, schmalen Gesicht. An der rechten Hand trägt sie einen Goldring, und auf dem kreisrunden Tisch steht eine Schale mit Tee, den sie gerade erst eingegossen zu haben scheint, denn auf der goldbraunen Flüssigkeit dreht sich noch eine kleine Dampfwolke.
Schließlich löst er sich vom Eingang und geht auf sie zu. Er begrüßt sie, da schaut sie auf und lächelt sofort. Sie legt das Buch beiseite, erhebt sich und kommt ihm entgegen, dann umarmen sie sich und verweilen in dieser Umarmung ein paar Sekunden.
– Ich habe uns einen Tee gekocht, sagt sie und lächelt weiter, ihm geht die herzliche Begrüßung etwas nach, deshalb antwortet er nicht gleich, vielmehr steht er da wie ein Kind, dem man erst erklären muss, was es als Nächstes zu tun hat.
– Was ist? Warum sagst Du denn nichts? fragt sie, er schluckt einen Moment und beginnt dann endlich zu reden. Er erzählt etwas umständlich von der Anfahrt und dass er sich reichlich Arbeit mitgebracht habe, sie nickt und holt eine zweite Schale, die sie mit dem noch heißen Tee füllt. Dann setzen sie sich beide an den kreisrunden Tisch und trinken, während er nun etwas freier zu sprechen beginnt.
Sie unterbricht ihn nicht, sie hört ihm eine Weile lang zu, dann erzählt sie von der Buchhandlung, sie arbeitet erst seit Kurzem in diesem Hotel, vorher hatte sie eine eigene Buchhandlung in München.
– Hier ist es natürlich viel ruhiger, sagt sie, und hier kann ich mir jetzt endlich auch ein viel kleineres Sortiment leisten. Nur Bücher, die ich selbst mag und von denen ich glaube und hoffe, dass die Hotelgäste sie auch mögen. Viele der Gäste kenne ich inzwischen schon gut, sie kommen zu mir in die Buchhandlung und erzählen mir ihre Geschichten und von ihren Sorgen, und dann überlege ich, welches Buch das richtige für sie wäre.
– Na so was, sagt er, eigentlich hattest Du doch immer eine Distanz zu allem, was mit Therapeutischem zu tun hat, Du hast darüber doch immer Deine Witze gemacht.
– Früher habe ich das, antwortet sie, aber je älter ich werde, umso mehr therapeutische Qualitäten entdecke ich an mir. Dabei sage ich den Hotelgästen ja gar nichts Besonderes, ich sage nur ein paar klare und vernünftige Dinge und überlege, wie ich selbst in dieser oder jener Situation handeln würde. Und genau das reicht vielen Gästen schon, denn sie schätzen die Eindeutigkeit und die Klarheit, und dass ihnen einfach mal jemand sagt: Das würde ich tun und das nicht, das mag ich, das nicht, und zwar aus diesen oder jenen Gründen. Daneben aber erfahre ich natürlich auch etwas über die Bücher, ich gebe vielen Gästen eine kleine Auswahl mit aufs Zimmer, sie lesen die Bücher an und erzählen mir dann, wie ihnen diese Buchanfänge gefallen haben. Inzwischen habe ich sogar begonnen, die Kommentare der Gäste auf kleinen Karteikarten zu notieren. Mit Datum und Namen, einfach nur das, was sie erzählen.
Sie erhebt sich und verschwindet hinter einem kleinen Vorhang. Dann taucht sie wieder auf und winkt ihn zu sich heran. Er kommt zu ihr und schaut in die kleine Kammer, die sich hinter dem Vorhang befindet. Auf den Regalen stehen lauter Karteikästen mit Hunderten von Karteikarten, anscheinend in den verschiedensten Farben beschriftet.
– Das ist mein geheimes Archiv, flüstert sie, und er muss nun doch darüber lächeln, wie sie das alles mit beinahe kindlichem Stolz präsentiert.
– Darf ich mal hineinschauen? fragt er sofort.
– Vielleicht später einmal, antwortet sie.
Dann aber schließt sie die Kammer wieder ab und zieht den Vorhang hinter sich zu, sie nimmt ihn für einen Moment an die Hand und geht mit ihm zum Eingang.
– Komm, sagt sie, wir laufen ein paar Schritte, Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie ich mich darauf gefreut habe, mit Dir ein paar Schritte zu laufen.
Sie holt ein kleines Schild aus ihrem Schreibtisch und hängt es an einem Haken an der Innentür auf: Ich bin gleich wieder da, steht darauf, und weiter: Wenn Sie es eilig haben, rufen Sie folgende Nummer an …
– Du benutzt jetzt ein Handy? fragt er.
– Ja, antwortet sie, während sie die Buchhandlung abschließt, ich sagte doch, ich bin jetzt auch eine Therapeutin, und Therapeutinnen sollten eben gleich zur Stelle sein.
Sie verlassen das Hotel und biegen auf einen Spazierweg ein, der in die nahen Wälder und weiter hinauf bis ins Gebirge führt. Er ist von ihrem Projekt, Karteikarten mit Notizen über die Lektüren ihrer Kunden anzulegen, beeindruckt, er fragt sie, warum sie nicht schon während ihrer gemeinsamen Telefonate in den letzten Wochen davon erzählt hat.
– Weil ich mir nicht sicher war, ob ich das Projekt durchhalten würde, antwortet sie. Hätte ich das Projekt aber nicht durchgehalten, hätte ich Dir auch nichts davon erzählt, nein, bestimmt nicht, das wäre mir zu peinlich gewesen.
– Ich erzähle Dir immer von meinen Projekten, antwortet er, Du bist der einzige Mensch, dem ich davon erzähle, das weißt Du, Du bist in diesen Dingen meine wichtigste Vertrauensperson. Immer, wenn ich ein Projekt habe oder an einem schwierigen oder heiklen Punkt angekommen bin, spreche ich mit Dir. Das hilft, ja, es hilft wirklich fast immer.
– Und, wie steht es? fragt sie, bist Du wieder an einem heiklen Punkt angekommen und brauchst meine Hilfe?
– Ja, sagt er, Du vermutest richtig, ich brauche Deine Hilfe.
Sie hakt sich bei ihm ein, sie gehen nun den ockergelben Spazierweg entlang, und er spricht sie noch einmal auf ihr Notierprojekt an. Er kommt nicht von diesem Thema los, es erstaunt ihn, dass sie derart konsequent an diesem Projekt gearbeitet hat, ein so unermüdliches Notieren und Schreiben passt eigentlich gar nicht zu ihr, während ihrer Münchener Jahre hat sie nie von so etwas gesprochen.
Während sie weiter davon erzählt, denkt er darüber nach, ob sie sich verändert hat. Ja, wahrhaftig, es kommt ihm so vor, als hätte sie sich gegenüber ihrer Münchener Zeit stark verändert und als wäre sie ruhiger und entschiedener geworden, vielleicht ist ihr das gar nicht so genau bewusst, er selbst empfindet die Veränderungen an diesem Vormittag aber ganz deutlich. Er sagt nichts und denkt vorerst auch nicht weiter darüber nach, stattdessen hört er ihr genau zu, bis ihr Handy sich plötzlich durch ein lautes Summen bemerkbar macht.
– Aha, sagt er, leicht ironisch, das ist wohl ein Notfall?
Sie lächelt und meldet sich an ihrem neuen, winzigen, in ihrer Hand beinahe verschwindenden Handy. Sie geht ein paar Schritte zur Seite und spricht sehr leise, nach dem kurzen Gespräch kommt sie wieder zu ihm.
– Ich gehe zurück in die Buchhandlung, sagt sie, ich möchte einen lieben Kunden nicht länger warten lassen.
– Weißt Du schon, mit welchen Texten Du ihn ruhig stellen wirst? fragt er.
– Du hast mein Projekt anscheinend noch nicht richtig verstanden, antwortet sie, Du wirst es aber sehr bald verstehen, da bin ich sicher.
Sie umarmt ihn kurz, dann dreht sie sich um und geht eilig den Feldweg zurück. Er überlegt, ob er allein noch weiter in die Höhe gehen soll, aber nein, dazu hat er jetzt keine Lust, und so macht auch er kehrt und geht langsam zurück zum Hotel. Dort durchquert er die Lobby und das Hotelrestaurant, bis er auf der anderen Seite des Flügels die Liegewiesen erreicht, die sich direkt an das Hotel anschließen. Er geht bis zu ihrem Rand, wo eine einzelne Bank steht, er setzt sich und schaut hinab auf das im Sonnenlicht hell vibrierende Wasser des Pools unten in der Schlucht.