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SIE ERWACHT kurz vor sechs Uhr in der Frühe, sie bleibt noch einige Minuten in ihrem Bett und geht im Kopf schon einmal die weiteren Arbeitsabläufe ihres Projekts durch, mit dem sie gleich beginnen will. Sie ist ruhig und hat gut geschlafen, darüber ist sie ein wenig erstaunt, weil sie sonst vor dem Beginn eines Projektes in eine starke Unruhe gerät und mit lauter Zweifeln zu kämpfen hat. Diesmal aber ist sie ganz sicher, wie sie das Ganze anpacken wird, den gestrigen Abend hat sie nach ihrem langen Spaziergang allein in ihrem Zimmer verbracht und nichts anderes getan, als alte japanische Musik zu hören und die einzelnen Arbeitsschritte handschriftlich genau zu fixieren. Es geht um die »Kopfkissenbuch« -Performance, es geht darum, das »Kopfkissenbuch« zu inszenieren.


Sie steht auf und geht gleich ins Bad. Während sie sich die Zähne putzt, schaut sie ununterbrochen in den Spiegel. Sie beugt den Oberkörper vornüber und hält ihren Kopf unter einen Strahl lauwarmes Wasser. Dann schwingt sie zurück, sie steht jetzt aufrecht und gerade da und beginnt, ihre nassen Haare kräftig nach hinten zu bürsten. Ihre Haare sollen eng und glatt anliegen, nach einigen Minuten ist das geschafft, ihre Haare wirken jetzt streng und sachlich, sie cremt nun ihr Gesicht ein und verstärkt die Linien der Augenbrauen mit einem Stift.


Dann geht sie zurück in das Zimmer und entnimmt einem Koffer einen einteiligen roten Badeanzug, auf dessen Vorderseite einige asiatische Schriftzeichen zu erkennen sind. Sie zieht den Badeanzug an und tritt kurz vor den Spiegel, sie schaut sich in die Augen, sie blickt starr und konzentriert, bis auch die letzten Spuren einer Emotion getilgt sind. Kein Lächeln, keine Hingabe, keine Selbstbeobachtung – dieses Ritual verlangt das völlige Fehlen jeder äußeren Regung.


Sie zieht sich einen schwarzen Morgenmantel über, der vorn und hinten, etwa auf gleicher Höhe, mit dem Motiv eines kleinen roten Drachens bedruckt ist. Sie stellt sich noch einmal vor den Spiegel, zieht den schmalen Gürtel des Morgenmantels fest zu, bleibt eine Weile still stehen, öffnet den Gürtel und darauf den Morgenmantel und ist zufrieden darüber, wie die asiatischen Schriftzeichen sich plötzlich aus dem tiefen, matten Schwarz des Morgenmantels herausschälen. Sie schnürt den Gürtel wieder zusammen und schließt den Morgenmantel, die Garderobe erscheint ihr jetzt perfekt und stimmig. Sie hat all die Sachen über das Internet bestellt und viel Zeit darauf verwendet, bis die Details passten und ein starkes Bild ergaben. Dann holt sie die flachen japanischen Sandalen mit den beiden typischen Riemen hervor und schlüpft hinein.


Bleibt nur noch, die technischen Geräte in der Reisetasche zu verstauen, sie nimmt einen Beamer und die beiden Kameras mit, dazu den Laptop, schließlich schaut sie kurz auf die Uhr und greift nach ihrem Handy. Sie verschickt eine kurze Nachricht, die mit der exakten Zeitangabe beginnt, sie zögert keine Sekunde, sondern schreibt sofort, als hätte sie sich zuvor jedes Wort genau überlegt:

the artist is present 2: im japanischen Badehaus auf dem Dach


Wenige Minuten später kommt sie, nachdem sie den Lift benutzt hat, oben auf dem Dach an. Sie öffnet die Tür zum Eingangsbereich des Pools, den Schlüssel hat sie am Abend zuvor von der Hotelleitung erhalten. Etwa zwei Stunden hat sie nun Zeit für ihr Projekt, das ist nicht viel, aber sie hat den Ablauf genau vor Augen.


Sie streift die Sandalen ab und legt sie an einen Rand des im Freien liegenden Pools. Das Wasser ist stark erwärmt, kleine Nebelschwaden liegen wie feine Tücher aus dünner Seide auf der stillen Fläche. Aus einem schmalen Kamin an der Längsseite des Beckens kommt Rauch, der als runde wattige Säule aufsteigt und weiter oben, in der Höhe, eine Trichterform annimmt.


Der Pool ist randvoll mit warmem Wasser, an den Rändern läuft das Wasser fast über, dazu kommt es aber nicht, obwohl jeder Beobachter glauben wird, dass es in jedem Moment so weit sein müsse. Der Blick auf dieses Phänomen faszinierte sie schon während ihrer früheren Aufenthalte. Die stille, glatt gestrichene Wasserfläche erweckt einen Eindruck von schwebender Kraft und Verhaltenheit, und die morgendlichen Nebelschwaden geistern auf ihr herum wie eine tanzende Schar. All diese Momente zusammen erschienen ihr von Anfang an asiatisch, zunächst empfand sie das nur intuitiv, als sie sich jedoch mehr mit diesen Themen beschäftigte, wurde das Ganze allmählich zu einer festen Gewissheit. »Badehaus, japanisch« , so nennt sie im Stillen diesen Ort, seit Wochen ist sie besessen von der Idee, hier einen Teil ihrer »Kopfkissen« -Performance zu realisieren und aufzuzeichnen.


Sie arbeitet schnell und zügig, nach etwa einer halben Stunde sind die wichtigsten Elemente der Inszenierung aufgebaut. Der Beamer wirft das Cover des »Kopfkissenbuches« auf die Wasseroberfläche, und aus dem Laptop ertönt der Klang einer altjapanischen Trommel. Sie fotografiert den Pool und installiert dann die Video-Kamera auf einem Stativ am Querrand des Pools. Dann stellt sie sich im Morgenmantel und in Sandalen vor der Video-Kamera auf. Sie lässt die Kamera laufen und blickt etwa dreißig Sekunden unbeweglich und konzentriert in die Kamera. Danach schaut sie sich die Aufnahme an, ja, die Bilder inszenieren den Raum genau so, wie sie es sich vorgestellt hat.


Fertig, sie ist jetzt bereit. Sie tritt zum zweiten Mal vor die laufende Kamera und blickt ruhig hinein, dann öffnet sie den Morgenmantel und lässt ihn zu Boden gleiten. Sie dreht sich um die eigene Achse und streift die Sandalen ab, kurz darauf springt sie kopfüber in den Pool und zerteilt mit ihrem ins Wasser eintauchenden Körper das auf die Wasseroberfläche projizierte Cover des »Kopfkissenbuches« .


Im nächsten Augenblick, so hofft sie, wird sich das Buch in zwei neue Körper verwandeln. Es wird flüssige, dampfende Masse, und diese Masse gerät nun durch ihre Schwimmbewegungen in unaufhörliche Bewegung. Sie hat diese Bilder vor sich, obwohl sie die Augen geschlossen hat. Was für ein Gefühl! Sie empfindet ihre Bewegungen als erotisch, ja, diese ganze Konstellation ist sogar hoch erotisch: das in Bewegung geratende Wasser, die Einbuchtung, die ihr Körper im zitternden Bild des Covers hinterlässt, ihr sanftes, langsames Gleiten durch dieses Bild und dazu die unmerklich lauter werdenden, monotonen Rhythmen der Trommel.


Sie darf nicht zu schnell schwimmen, und sie muss versuchen, unter der Oberfläche dahinzugleiten, als würde sie zu einem lebendigen Organ des Buches, das sich in seinem Innern bewegt, um es zu erkunden. Sie zählt ihre Schwimmstöße und bemüht sich, vom Rand des Beckens zur gegenüberliegenden Seite auf immer die gleiche Zahl zu kommen. Während sie weiter und weiter schwimmt, memoriert sie einige Textpartien, sie fängt immer wieder von vorne an und memoriert sie in der gleichen Reihenfolge.


Schließlich bemerkt sie, wie das Sonnenlicht allmählich in die Szenerie bricht. Langsam ziehen die Nebelschwaden seitlich ab, nur der Kaminrauch bleibt noch eine konstante Säule, die wie schwerer Pfeifenrauch in die Luft steigt. Das Sonnenlicht ist matt, es bringt die Cover-Farben zum Leuchten, in einer Stunde wird das alles vorbei sein, und das Licht wird alle Nuancen abtöten.


Sie schwimmt und zählt ihre Bahnen. Sie memoriert weiter den Text. Sie wartet darauf, dass er erscheint.