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BEVOR SIE leise aufsteht, blickt sie noch eine Weile still gegen die helle Decke. Er liegt noch immer dicht neben ihr und scheint zu träumen, sie dreht den Kopf ein wenig zur Seite und hat seine breite, offene Stirn und die dunklen Lippen ganz nahe vor sich. Sogar in dieser Ruhelage wirkt er noch aufmerksam und hellhörig, als entginge ihm auch im Schlaf nichts von dem, was um ihn herum passiert. Sie würde seinen Kopf jetzt gerne in die Arme nehmen oder auf ihren Schoß legen, es wäre schön, diese Lippen zu küssen, langsam und lange, bis sie wieder mehr an Leben gewännen.


Wild, Wacholder, Sellerie, Kohlrabi und Äpfel – sie zieht den Duft, der noch immer wie eine schwere Wolke im Zimmer steht, tief in sich hinein. Sie hat schon verstanden, dass er diese Mahlzeit eigens für sie gekocht und serviert hat, denn eine solche Mahlzeit würde man in den Restaurants dieses Hotels nicht bekommen. Es ist eine schlichte, reduzierte, puristische Mahlzeit, die auf den starken Eigengeschmack einfachster Nahrungsmittel setzt. So etwas hätte auch von ihr stammen können, obwohl sie sich vielleicht doch nicht getraut hätte, nur ein paar hauchdünne Selleriescheiben als Vorspeise zu servieren. Dabei war gerade das richtig, denn die Selleriescheiben schmeckten leicht, körnig und rauchig und waren deshalb der ideale Auftakt für den dann folgenden Rehrücken.


Sie betrachtet ihren Geliebten weiter, sie kann den Blick gar nicht abwenden, wie sein erhitzter Kopf auf der dunklen Decke liegt und ein schmales Rinnsal Schweiß sich von den Haarpartien hinter dem Ohr bis zum Hals zieht. Der Schweiß glänzt ein wenig, wie der Schweiß eines Sportlers im Wettkampf, wirkt aber auch ein wenig bedrohlich, wie eine Verletzung. Sie benetzt ihren Zeigefinger mit ein wenig Spucke und führt ihn vorsichtig an dem feuchten Rinnsal entlang, die Spitze des Fingers fängt den Schweiß etwas auf, so dass nur noch eine kleine, helle Spur auf der Haut übrig bleibt, die sofort eintrocknet.


Sie streckt ihre Hand aus und fährt ihm langsam über das Haar, sie möchte es nur berühren, sehr vorsichtig, sie möchte nicht, dass er es bemerkt. Sein Haar ist unglaublich dicht und fühlt sich warm an wie feiner Pelz, sie streift immer wieder darüber, als müsste sie ihn beruhigen oder trösten.


Dann schlägt sie die obere Decke ein wenig zur Seite, er liegt neben ihr wie ein übergroßer, schlanker Embryo, der in einem weiten, fernen Traumland schwerelos umhertreibt. Die sphärischen Klänge, die Herztöne, das Archiv vor der japanischen Küste – sie erinnert sich an das, was ihr am Vormittag alles durch den Kopf ging. Irgendwann möchte sie mit ihm an diese ferne Küste verreisen und sich auf die Suche machen nach Georgs Herztönen und nach ihren eigenen. Sie zieht ihre Knie an und dreht sich etwas auf der Stelle, dann beugt sie den Kopf hinunter und lauscht mit einem Ohr, ob sie sein Herz hören kann.


Das T-Shirt riecht nach Zwiebeln und Rauch, sie saugt auch diesen Duft ein und streift das Shirt dann mit aller Vorsicht ein wenig nach oben. Sie sieht seinen kleinen Nabel und würde ihn gerne küssen, tut es aber nicht, sie will ihn nicht wecken, denn sie vermutet, dass er bei einem allzu plötzlichen Aufwachen erschrickt. Vielleicht ist sie aber auch zu vorsichtig und sollte sich nicht derart beherrschen, eine angenehm späte Weinschwere lauert etwas lüstern in ihr, so dass sie daran denkt, wie es wohl wäre, sein nacktes Glied zu sehen und zu berühren.


Diese Fantasie hat sie vor Augen, als sie das Ohr an seinen Unterkörper legt und dann langsam mit ihm an seiner warmen Haut hinaufgeht, sie untersucht ihn, ja, sie horcht ihn ab, noch ist nichts zu hören, doch dann sind seine Herztöne plötzlich da. Sie ist von diesem leisen Trommeln und Schlagen derart überrascht, dass sie ihr Ohr dann dicht an seinen Körper hält, sie liegt jetzt mit ihrem Kopf auf seiner nackten Brust, und sie fährt mit den Fingern ihrer linken Hand behutsam über seine Haut, hin und her, als spielte sie wie ein Kind mit kleinen Wellen, die sie gegeneinander anrennen lässt, bis sie sich brechen.


Sie richtet sich auf und schlägt die Decke, die ihn noch an einer Seite bedeckt, ganz zur Seite. Er bewegt ein wenig den Kopf, erwacht aber nicht, sie beugt sich wieder über ihn und sieht, dass seine Lippen einen Spalt offen stehen. Sie kniet sich so hin, dass er jetzt mit seinem ganzen Körper unter ihr liegt, dann nähert sie sich mit ihren Lippen den seinen, sie riecht den Duft des schweren Rotweins, dann berühren sich ihre Lippen, und sie atmet mit ihm ein und aus, ein und aus, ganz in seinem Rhythmus. Nicht den geringsten Druck üben ihre Lippen aus, nein, sie bleiben vielmehr in einer Art Schwebe, ja, sie schweben und touchieren nur seine Lippen, es ist eine Art – wie soll sie es nennen? – eine Art Tuchfühlung.


»Tuchfühlung« – die seltsamsten Worte gehen ihr jetzt durch den Kopf, ihr Körper wirkt wie erhitzt, in ihrer Stirn pocht es ein wenig, und auf der Rückenhaut spürt sie plötzlich eine heftige Kälte, als flössen dort kleine Ströme von Schweiß. Sie richtet sich wieder auf und fährt sich mit der Rechten durchs Haar, Georg hat behauptet, diese Geste sei ihr angeboren, schon als kleines Kind habe sie sich immer wieder mit der Rechten durchs Haar gefahren. Diesmal ist diese Geste aber so heftig, dass wirklich ein kaum merklicher Regen von Schweiß auf seine nackte Brust niedergeht, sie sieht, wie seine Haut zusammenzuckt, aber er wacht noch immer nicht auf, nein, sein Träumen ist noch nicht zu Ende.


Die winzigen Tropfen, die sich auf seiner Haut abgesetzt haben, erregen sie, sie starrt auf diese Tropfen, der ganze Vorgang hat für sie etwas ungemein Sinnliches. Es fällt ihr immer schwerer, ihre Berührungen weiter so beherrscht und vorsichtig fortzusetzen, sie möchte sich ausziehen, sofort, sie zittert ein wenig, sie zögert, dann aber tut sie es wirklich und streift sich das T-Shirt über den Kopf. Sie trägt keinen BH, sie hat noch nie gerne einen BH getragen, in Gesprächen mit Georg hat sie sich oft über das blöde Kürzel, das noch eine Spur blöder als der dadurch bezeichnete Gegenstand ist, lustig gemacht. Wie kann es einer Frau Vergnügen machen, einen BH zu tragen? Sie verscheucht diese Fragen, sie stören ihre Konzentration, denn sie will jetzt, dass er ihre Brustspitzen küsst, ja, genau das will sie.


Sie kniet sich wieder hin und bringt ihre Brüste ganz dicht an seinen Mund, dann hebt sie die rechte Brust etwas an und führt sie an seine Lippen. Sie spürt einen leichten Hauch, mehrmals, und dann auch die sanfte Berührung, so sanft berühren sich nur träumende Wesen, ja, ihre Brust träumt noch, so, wie seine Lippen träumen, diese Berührung geschieht in einer starken Verzögerung, wie unter Wasser. Dann greift sie auch nach ihrer linken Brust und lässt seine Lippen an diesen Brustspitzen entlangstreichen, die Bewegung ist aber nur kurz, sie hält lieber inne und spürt dem leichten Druck nach, der von diesen Lippen bis tief hinein in ihren Körper reicht. Es ist, als würde sich dieser Druck in sie eingraben, ja, sie spürt, dass sie etwas von ihm in sich aufnimmt.


Sie zittert wieder, ihre Erregung ist noch gewachsen, sie schließt die Augen und stützt sich auf ihre beiden Hände, während ihr Körper jetzt über ihm darauf wartet, sich langsam auf ihm auszubreiten. Soll sie? Soll sie nicht? Sie atmet tief aus und ein, sie versucht, sich zu beherrschen und wieder zur Ruhe zu kommen, es passt nicht, nein, jetzt passt es nicht, im Grunde weiß sie das. Sie will es aber nicht wissen, sondern sie will ihren Sinnen folgen, die jetzt ihre eigenen Ziele haben. Einen Moment erscheint ihr dieses Hin und Her wie ein Krampf, warum gibt sie nicht einfach ihren Empfindungen nach, so, wie sie es sonst doch wohl tun würde? Sonst? Wann denn sonst? Wann hat sie sich je einem Mann so genähert? Wann war eine Annäherung in ihrem Leben derart intensiv?


Nein, es ist nicht richtig, dieses Zusammenkommen jetzt von sich aus zu forcieren, sie atmet weiter tief ein und aus und versucht, sich zu beruhigen. Sie darf ihn nicht länger anschauen, nein, auf keinen Fall, sie darf nichts sehen, was ihre starken Fantasien weiter belebt und entzündet. Sein Körper ist von der Wärme unter der Decke leicht gerötet, sie will, dass er sich wieder in sich zusammenzieht und weiterschlummert.


Sie zieht sich von ihm zurück, sie rutscht langsam auf den Knien bis hinunter zu seinen Füßen, dann nimmt sie die Decke und breitet sie wieder über ihm aus. Sie greift nach dem T-Shirt und geht auf Zehenspitzen hinüber zum Schrank. Sie entnimmt dem CD-Player die CD mit den Klarinetten-Soli und legt eine CD mit altjapanischer Musik ein. Als sie die ersten, sehr verhaltenen und leisen Klänge hört, zieht sie sich vollständig aus und sucht nach ihrem Badeanzug. Dann schlüpft sie hinein und verlässt still den Raum. In der Tür schaut sie sich noch einmal nach ihm um, er erscheint ihr kleiner als je zuvor. Sie lächelt, als sie ihn so zusammengerollt daliegen sieht, nein, er ahnt nicht, was in den letzten Minuten geschehen ist.


Und was wird später geschehen? An diesem Abend, in dieser Nacht? Sie will darüber nicht nachdenken, nein, sie will ihren weiter etwas aufdringlichen Fantasien jetzt nicht folgen. Draußen auf der Wiese vor dem Haus springen einige Kinder herum und bleiben erschreckt stehen, als sie aus der Tür des Gartenhauses nach draußen kommt. Sie schauen sie an, sie haben nicht mit dieser Erscheinung gerechnet, »hallo Kinder«, sagt sie mit einem leichten Krächzen in der Stimme, doch diese Begrüßung erscheint ihr sofort hilflos und steif. »Hallo Kinder!« versucht sie es noch einmal, doch keines der Kinder antwortet auch nur ein Wort. Sie schaut zurück, was glotzen sie denn so, ja, was gibt es zu glotzen? Sie will etwas dazu sagen, wendet sich dann aber von ihnen ab, nein, sie hat überhaupt keine Lust, sich jetzt auf so etwas einzulassen.


Während sie hinüber zu der kleinen Anhöhe geht, von der aus man auf den Pool schaut, hört sie vom Hotel her lautere Geräusche als sonst. Ein leichtes Vibrieren und Dröhnen liegt in der Luft, manchmal auch ein Rauschen und dann wieder ein Zischen und Flüstern. Was ist das? Sie geht langsamer und konzentriert sich auf die Geräusche, dann bleibt sie einen Moment stehen. Sie hört eine auf und ab swingende Stimme mit einem starken Hintergrundrauschen und -raunen, ja, jetzt begreift sie. Es ist Samstag, es ist Samstagnachmittag … – die Türen im unteren Geschoss des Hotels hin zur Freianlage stehen weit offen. Drinnen aber scheinen die Fußballübertragungen zu laufen, »erste Bundesliga, Bayern München«, sagt sie laut, und als sie diese Worte hört, hat sie das Gefühl, mit einem Mal wieder einen Schritt zurück auf das Gelände der alltäglichen Ereignisse und Dinge zu tun.


Als sie die kleine Anhöhe erreicht, lassen die starken Bilder der letzten Minuten sie aber noch einmal zurück zum Gartenhaus blicken. Sie bleibt stehen und schaut das Gartenhaus an, in diesem Haus hat soeben etwas Geheimnisvolles stattgefunden, das sie nicht loslässt. Was aber ist dort genau geschehen? Wohin bewegt sich ihre gemeinsame Geschichte, die an einem ruhigen Morgen vor zwei Tagen hier begonnen hat?


Als sie mit ihren Überlegungen nicht weiterkommt, entschließt sie sich, noch einmal zurückzugehen. Sie geht rasch, als hätte sie etwas vergessen, doch dann betritt sie das Gartenhaus nicht, sondern schaut von der Seite durch eines der Fenster hinein.


Er liegt noch immer schlafend auf dem Boden, die leise Musik begleitet sein Träumen. Am liebsten würde sie noch einmal wiederholen, was sie eben mit ihm gemacht hat. Die Decke zur Seite schlagen, ihn berühren, sich entblößen, auch ihn langsam entblößen – ja, genau das stellt sie sich vor. All diese langsamen Entkleidungsversuche aber würde sie am liebsten auch fotografieren, lauter kleine Details in Schwarz-Weiß, ihre Brust – seine Lippen, ihr angefeuchteter Finger – sein Hals mit der Schweißspur, ja, viele solcher zarten und sehr genauen Körperstudien sollte es geben, sie hat das alles vor Augen: Zeichnungen, Malerei, Fotografien, Filme, Inszenierungen kleiner Video-Sequenzen – Tage und Wochen könnte sie mit ihm zusammen arbeiten, mit ihm, nur mit ihm …


In genau diesem Moment aber begreift sie, was gerade passiert ist. Sie hat die Lücke in ihren Arbeitsprojekten endgültig geschlossen, sie hat den Geliebten gefunden, der von nun an gemeinsam mit ihr in diesen Projekten auftauchen und sie mitgestalten wird. Das »Kopfkissenbuch« der Hofdame Sei Shonagon – es war ihr Lieblingsbuch, weil es das Verlangen nach dem Geliebten und der Zweiheit auf indirekte Weise und doch in jedem Wort spürbar enthielt. Schritt für Schritt hat sie aus den Texten dieses Buches Versuchsanordnungen entworfen, die um nichts anderes kreisten als um die Gestalt des fernen, herbeigesehnten Geliebten. Jetzt aber hat sich diese Sehnsucht erfüllt, ja, der Geliebte ist da, allmählich hat er in ihren Projekten erste Konturen gewonnen, und nun sind sie zu zweit, endlich zu zweit, und sie sind eins, ja, sie sind ein Paar.


Niemals hat sie sich zuvor vorstellen können, andere Menschen in ihre Projekte zu integrieren, kein Foto einer anderen Person hätte je darin Platz gehabt, nur sie selbst war das Thema, nur ihr Körper, nur ihre Erwartung. Ein Ausbrechen aus diesem Konzept hin zu fremden Menschen oder Objekten hätte die Intimität ihrer Körpersprache zerstört, nein, sie hätte so etwas nicht geduldet. Nur einer einzigen Person hätte sie den Zugang zu ihrem intimen Körperreich erlaubt, nur dem Geliebten, aber sie stellte sich diesen Fall niemals länger oder konkreter vor, da sie im Grunde nicht damit rechnete, überhaupt je einen solchen Menschen zu finden. Der Geliebte ihrer Projekte war eine Kunstfigur und damit ein Teil ihrer Fantasien und Einbildungen, jetzt aber ist aus diesen vagen und undeutlichen Projektionen eine reale und greifbare Gestalt geworden. Ist so etwas nicht eigentlich ein Wunder, ja, nennt man die Realisierungen unmöglicher Fantasien und Träume, nennt man solche Prozesse nicht »Wunder« ?


In Zukunft wird er ein fester Teil ihrer Projekte sein, er wird sie fotografieren, sie wird ihn fotografieren, und sie werden sich natürlich immer wieder gemeinsam fotografieren. Sie wird all das, was in den nächsten Wochen geschehen wird, bis ins letzte Detail dokumentieren, ja, sie wird den gesamten Liebesprozess in allen nur erdenklichen Formen und Medien zum Thema machen. Und damit einher wird die Dokumentation ihrer bisherigen Leben gehen, ja, sie wird ihn zu einem Teil von »Jules Archiv« machen, und sie wird mit ihm zusammen das »Archiv seiner Kindheit« entwerfen, das bis jetzt noch stumm und dunkel in einer Scheune irgendwo auf dem Land steht.


Jetzt, beim Anblick seines schlummernden Körpers, flackert ihre Erregung wieder auf, doch inzwischen ist aus dem Stoff einer puren und präzisen Erotik ein Stoff für die Arbeit geworden. Das passt, das stimmt genau, denkt sie, die Erotik unserer Körper wird sich noch steigern in der Erotik der Arbeit, denn die Erotik der Arbeit wird nichts anderes sein als die Kunstform unserer Liebe und unserer Annäherung. Sellerie, Walnüsse, Rehrücken, Kohlrabi, Äpfel – sie geht die Speisenfolge noch einmal in Gedanken durch, um bloß keine Details zu vergessen. Später wird sie die Teller mit den Speiseresten fotografieren, und noch ein wenig später wird sie in ihrem Skizzenbuch kleine Bleistiftzeichnungen dieser Mahlzeit anfertigen. Ein weiter, unerschöpflicher Kontinent der Arbeit tut sich nun auf, ein unaufhörliches Arbeiten an einem gewaltigen Liebesprojekt aus Zeichnungen, Bildern, Texten und Klängen.


Hier steht sie – der Kunstkörper, und dort liegt er – der Textkörper, und was zwischen ihnen vermittelt – das ist der Musikkörper. Altjapanische Musik, Jazz, kleine Klarinetten-Soli, Mozarts Klarinettenkonzert.


Sie sieht Fragmente ihres weiteren Lebens plötzlich vor sich, sie sieht ihr gemeinsames Arbeiten, ihre Reisen, die halbe Zukunft. Morgen früh wird sie ihn nach München begleiten, denn sie werden zusammen dorthin zurückfahren, natürlich, und sie werden in München in ihren beiden Wohnungen wohnen und sich jeden Tag in ihrem großen Atelier treffen.


Das Atelier – ja, auch das ist ein Kernbereich dieser intimen Verhältnisse. Früher war es ein Teil von Georgs Galerie, dort liefen Ausstellungen und Präsentationen, so lange, bis Georg begann, diesen Teil von den übrigen Galerieräumen abzutrennen und als eigenständige Raumanlage zu benutzen. »Das wird einmal Dein Atelier« , sagte er zunächst zu dem Kind, das sie damals noch war, und tat einige Zeit nichts anderes, als zwei große Räume der Galerie leer zu räumen, Stück für Stück. Als die Räume leer standen, spazierte er gerne mit ihr darin herum, »komm, wir gehen spazieren«, sagte er und nahm sie an der Hand und holte einige ihrer Spielsachen, die sie beim Spazierengehen begleiten durften, später aber wieder verschwinden mussten. Recht lange Zeit standen die beiden Räume daher einfach leer, Georg genoss diese Leere, die niemand sonst so richtig verstand. »Was treibt er? Ist er verrückt geworden? Wieso lässt er seine beiden besten Galerieräume leer stehen?« fragte man sich, doch Georg beantwortete diese Fragen nicht.


Auch das war ein Anfang, ja, auch diese einige Zeit leer stehenden Räume, die inzwischen längst ihr eigentliches Atelier sind, gehören zu den Fundamenten ihrer geheimnisvollen Geschichte. Sie wird darüber mit Katharina sprechen, ja, sie möchte unbedingt noch einige Details über dieses Thema erfahren.


Sie schaut noch immer durch das Fenster, als sie bemerkt, dass er sich bewegt. Seine rechte Hand zuckt etwas zusammen, er streckt jetzt den Arm aus und öffnet die Augen. Sie macht sofort einen Schritt zurück und entfernt sich nun endgültig vom Gartenhaus. Ihr ist ganz nach Schwimmen, ja, sie muss jetzt unbedingt einige Bahnen schwimmen, rasch, konstant, mit viel Energie. Dann dreht sie sich um und macht sich sofort auf den Weg zu dem im Licht des späten Nachmittags daliegenden Pool.